April 2018, Jekaterinburg. Eine Demonstration für den Erhalt direkter Bürgermeisterwahlen. Wolkow – kurzer rötlicher Bart, Hipster-Parka, schwere Schuhe – ist aus Moskau angereist. Er steht mit seinen Mitstreitern aus alten Tagen auf der Bühne. Es sind Gefährten aus seiner Zeit als lokaler Abgeordneter, als Motor des liberalen Jekaterinburg, als Organisator von Protesten, die erfolgreicher sind als dieser. Mittlerweile ist er der Lokalpolitik entwachsen, ist Chefstratege des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny – und vielleicht sogar dessen hypothetische Traumbesetzung für die Präsidialadministration.
Doch hier und jetzt ist er vor allem Zweierlei: Ein überzeugter Liberaler und zugleich ein „Aitishnik“ (IT-Typ) mit ausnehmendem Talent für den effizienten Einsatz digitaler Technologien – insbesondere für die Koordination von politischem Aktivismus. Zeichnet man seinen Weg nach, so stößt man auf einige Schlüsselereignisse, die die Weichen stellten. Beginnen wir am …
… 28. September 2007. Leonid Michailowitsch Wolkow (Jahrgang 1980), der 26-jährige Sohn einer Mathematikerfamilie, Programmierer und Stratege beim IT-Konzern SKB-Kontur, veröffentlicht seinen ersten Blog-Post.1 Genau wie der Titel des Blogs O wsjakoj wsjatschine (dt. etwa „über dieses und jenes“) ist auch der Eintrag vage, eher ein Platzhalter. Und trotzdem: Spricht man heute mit seinen Freunden und Weggefährten, so scheint dieser Moment des In-die-Öffentlichkeit-Tretens in der Retrospektive bedeutend, denn in seinem Blog findet Wolkow schon bald seine Stimme, seine Themen, sein Publikum.
Im November ruft er zur Wahl der liberalen Union der Rechten Kräfte auf und berichtet von seinen Erlebnissen als Beobachter der Parlamentswahlen 2007. Wer Wolkows weiteren Weg kennt, der sieht ihn schon in diesen Zeilen.
Der Effizienz verschrieben
18. September 2008. Wolkow kündigt an, für das Jekaterinburger Stadtparlament zu kandidieren. Es zieht ihn in die Politik. Doch ist es wohl nicht die Macht an sich, die ihn lockt, sondern das Gestaltungspotential, das sie bietet: „Ein paar Monate [auf Geschäftsreise] in Holland haben mich davon überzeugt, wie viel eine kompetente lokale Selbstverwaltung bewirken kann. [Dort] wird den Gemeinden eine Vielzahl von Fragen anvertraut, und sie lösen sie, verdammt nochmal, sehr effizient.“2 Dieser Satz etabliert beide Stränge seines öffentlichen Engagements und verknüpft sie zu einem roten Faden, der sich fortan durch Wolkows Biografie zieht: Politik und Organisation.
Seine Kampagne wird zum Überraschungserfolg. Ohne die Hilfe bestehender Netzwerke und Parteien erringt Wolkow im Jahr 2009 ein Mandat in der städtischen Duma. Sein langjähriger Begleiter und späterer Ko-Autor Fjodor Krascheninnikow vermutet, zu diesem Zeitpunkt habe sich einfach niemand von dem „smarten, jungen IT-Typen“ bedroht gefühlt. Als er jedoch nach zwei Jahren intensiver Arbeit (inklusive Live-Streaming von Parlamentsdebatten) eine höhere Ebene ansteuert und für das Regionalparlament kandidiert, greifen die im System versteckten Bremsen oppositioneller Aktivität: Wolkow wird aufgrund fehlerhafter Unterschriften nicht zur Wahl zugelassen.
Zuvor jedoch baut er ein breites Netzwerk an Unterstützern auf, knüpft gute Kontakte zu Unternehmern, die ihm bei seinen späteren Projekten zugutekommen, und führt eine neue gesellschaftliche Gruppe an Politik heran, die während der „satten Jahre“ der rapide wachsenden Wirtschaft und der schleichenden, technokratischen Autokratisierung der 2000er kaum an Politik interessiert war: hoch gebildete, relativ gut situierte urbane Bürger.
Ein protestierender Bourgeois
10. April 2010. Leonid Wolkow steht auf einer Bühne auf dem Ploschtschad Truda (dt. „Platz der Arbeit“) im Zentrum von Jekaterinburg, vor etwa 3500 Menschen. Sie gehören zu genau jenem urbanen Publikum, das er in den vergangenen Jahren mit Lokalpolitik in Kontakt gebracht hat, und das zuvor weit davon entfernt war, einen freien Samstag auf einer Demo zu verbringen. Nun sind sie gekommen, um gegen den Bau einer Kathedrale auf eben diesem Platz zu protestieren, ein Platz, auf dem sonst Kinderwagen rollen und Menschen in die Sonne blinzeln. So soll es auch bleiben, finden viele – und tragen schließlich den Sieg davon.
Auf der Bühne trägt Wolkow Hut, modischen Schal und Sakko. Man könnte sagen, ein protestierender Bourgeois. Tatsächlich haftet ihm nichts Revolutionäres an, und doch revolutioniert er mit diesem und einem weiteren Projekt zur Rettung der direkten Bürgermeisterwahlen im Herbst 2010 die lokale Protestlandschaft. Mit beiden Kampagnen trennen Wolkow und seine Mitstreiter Protest von rein ökonomischen Problemen, verbinden Politik mit Alltagserfahrung und gestalten Demonstrationen als unterhaltsames, familientaugliches Spektakel. Was im Jahr 2010 in Jekaterinburg geschieht, nimmt damit vieles der Bolotnaja-Bewegung von 2011 vorweg.
In diesen Jahren wird Wolkow zum Mittelpunkt liberaler Oppositionsarbeit in Jekaterinburg. Er übernimmt dort die Führung der losen Solidarnost-Koalition, steht für einige Zeit an der Spitze der regionalen PARNAS-Abteilung, und leitet bis 2011 das örtliche GOLOS-Büro. Dabei versucht er, einen neuen Umgang zu etablieren. Wolkow, so ein Weggefährte, sei „kein Freund des sowjetischen Führungsstils“, verabscheue lange Versammlungen. Seine ehemaligen Mitarbeiter bekräftigen: Wolkow setzte auf Vernetzung und ständigen (digitalen) Austausch statt auf Hierarchie. Da er gleichwohl im Zentrum des Geschehens steht, reißt sein Abschied aus Jekaterinburg eine Lücke ins Netzwerk, die auch Jahre später noch nicht ganz geschlossen scheint. Effizient, so schien es, war sein Stil nur solange er selbst am Ruder war.
Sommer 2012. Die Bolotnaja-Proteste klingen langsam ab, und es reift die Idee, der Protestbewegung eine stabilere Basis zu geben. Auf Basis der theoretischen Ideen seines 2011 in Ko-Autorschaft erschienenen Buches Oblatschnaja demokratija (dt. etwa „Cloud-Demokratie“)3 entwickelt er ein digitales Gerüst, um online Wahlen für den Koordinationsrat der Opposition abzuhalten. Über 80.000 Menschen nehmen daran teil.4 Auch wenn der Rat nur ein Jahr lang besteht und weder die Opposition eint noch politische Resultate erzielt, ist diese Episode für Wolkow entscheidend: Er entwächst mit ihr vollends der Lokalpolitik und nimmt sich größerer Aufgaben an.
Wenn Nawalny Putin wäre, dann wäre Wolkow Kirijenko
24. Juni 2013. Wolkows Entscheidung, den Wahlkampf Alexej Nawalnys für die Moskauer Bürgermeisterwahlen zu leiten, ist daher nur der nächste logische Schritt.5 Die beiden hatten sich bereits 2010 während Wolkows Protestkampagnen in Jekaterinburg kennengelernt und hatten nicht nur im Koordinationsrat der Opposition sondern auch bei der Gründung der Fortschrittspartei zusammengearbeitet. Diese Verbindung bauen sie nun aus, verarbeiten die Fehler der Bolotnaja-Proteste, die für Wolkow auch in zu schwacher Organisation bestanden,6 und erreichen mit 27 Prozent der Stimmen ein beachtliches Ergebnis.7
Schließlich, natürlich, die russlandweite Kampagne Alexej Nawalnys anlässlich der Präsidentschaftswahlen 2018. Auch hier ist Wolkow Chefstratege, und auch hier besteht die Innovation im passgenauen Einsatz digitaler Technologien für Mobilisierung und Koordination der freiwilligen Wahlkampfhelfer. Die Ausrichtung auf maximale Effizienz sorgt dabei aber auch für Verstimmungen: Wie soll man Nawalny seine Forderung nach mehr Entscheidungsfreiheit für die Regionen abnehmen, beklagen sich einige, wenn seine Kampagne ihren eigenen Aktivisten in den Regionen so enge Handlungsgrenzen setzt?8 Doch im Gegensatz zu früheren Zeiten, als Wolkow in Jekaterinburg geradezu unersetzlich war, trägt er hier immerhin dafür Sorge, dass die Maschine auch dann weiterläuft, wenn er und Nawalny einmal mehr hinter Gitter müssen.
Die Kampagne spielt sich in höchst unfairen Bedingungen ab, und kämpft daher mit harten Bandagen. Und so bleibt auch Wolkow nicht unbescholten: Seine Rhetorik wird schneidend, sein Ton weniger reflektierend, seine Position so kompromisslos wie die Kampagne hierarchisch.
Im Januar 2018 lässt sich Wolkow auf einen unschönen öffentlichen Schlagabtausch9 mit Xenia Sobtschak ein, die er – im Einklang mit Nawalny – als Marionette des Kreml bezeichnet. Es scheint, als hätte die russische Politik, in der einander diffamierende Oppositionelle zur Grundausstattung gehören, auch Wolkow eingeholt.
Beide Kampagnen zeigen eindrücklich, wie man den eingeschränkten politischen Handlungsraum im elektoralen Autoritarismus für sich nutzt. Sie zeigen zugleich: Wenn man Behörden und Politik gegen sich hat und in den Massenmedien nicht vorkommt, reicht selbst die beste Organisation nicht aus. Es ist dieses Dilemma, das einen moralisch überzeugten Praktiker wie Leonid Wolkow immer wieder antreibt und zugleich nie voll zufriedenstellen kann, bis er sein Organisationstalent einmal für echte Politikgestaltung wird einsetzen können. Wenn Nawalny Putin wäre, dann wäre Wolkow Kirijenko, stellvertretender Leiter der Präsidialadministration. Doch scheint dieses Szenario in weiter Ferne: Nawalny ist seit Januar 2021 in Haft, wegen Vorwürfen der Geldwäsche verließ Wolkow schon im August 2019 das Land. Seit Anfang 2021 ist er außerdem zur Fahndung ausgeschrieben, ihm wird vorgeworfen, Minderjährige zur Teilnahme an nicht-genehmigten Kundgebungen verleitet zu haben. Und im August 2021 hat das Ermittlungskomitee ein Strafverfahren gegen Wolkow eingeleitet: Er soll Gelder zur Finanzierung von FBK und der Nawalny-Wahlteams beschafft haben – Organisationen, die in Russland seit Anfang Juni als „extremistisch“ gelten.
Aktualisiert am 10.08.2021