Медиа

„Hätten wir eine andere Wahl gehabt? Nein.“

Gegen die Organisationen des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny begann am Montag die Hauptverhandlung vor dem Moskauer Stadtgericht: Ihnen wird Extremismus vorgeworfen. Die Sitzung wurde nach wenigen Minuten auf den 9. Juni verlegt. Betroffen sind neben dem Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) auch die regionalen Wahlkampfbüros, die Nawalnys Team landesweit aufbaute. Über diese schtaby wurden Straßenproteste organisiert, aber auch das sogenannte Smart-Voting – das Verfahren sieht vor, dem aussichtsreichsten Oppositionskandidaten die Stimme zu geben und so die Machtfülle der Regierungspartei Einiges Russland zu brechen.

Ist eine Organisation als extremistisch eingestuft, so ist deren Finanzierung verboten, führende Köpfe müssen mit mehrjährigen Freiheitsstrafen rechnen.

Im Meduza-Podcast Schto slutschilos (dt. Was war da los?) hat Konstantin Gaase mit Nawalnys Wahlkampfchef Leonid Wolkow, der im Exil lebt, darüber gesprochen, wie es mit den Regionalbüros nun weitergeht – und ob das Smart-Voting bei der Dumawahl im September trotz allem funktionieren kann.

Источник Meduza

Konstantin Gaase: Seit 2012, als Sie befasst waren mit den Wahlen zum Koordinationsrat, gab es ein ganz einfaches Schema für die Beteiligung am oppositionellen Protest: Leute, wir geben euch die Möglichkeit in unterschiedlichen Abstufungen mitzumachen – von der anonymen Spende über Cube-Aktionen bis hin zur Mitarbeit im Team. Das heißt, im Grunde sagten Sie Ihren Sympathisanten: Wir bieten eine Plattform, der ihr euch anschließen könnt, wie es euch passt. 
Jetzt gibt es keine Plattform mehr, und auch die Beteiligung am Protest in der Form, wie Sie sie für ungefährlich halten, gibt es nicht mehr. Haben Sie das bei Nawalnys Rückkehr nach Russland besprochen? Hielten Sie ein solches Szenario für wahrscheinlich?

Leonid Wolkow / © Andrej Lukowski/KommersantLeonid Wolkow: Eine schöne Formulierung, das mit den abgestuften Möglichkeiten, weil wir das auch immer so gesehen haben.
Bei Unterstützer-Treffen habe ich das oft als Pyramide visualisiert: eine Million Anhänger; davon hunderttausend, die spenden können; davon zehntausend, die agitieren können; davon tausend, die aktiv mitarbeiten; hundert, die bereit sind, einen Tag in Haft zu sitzen [per Verwaltungsarrest]; zehn, die bereit sind, verurteilt einzusitzen; und ein Alexej Nawalny.   

Und es war klar, dass das Team und diese ganze Struktur es allen ermöglichen soll, etwas beizutragen. Denn obwohl wir selber Aktivisten sind und Aktivisten lieben und schätzen, ist ja klar, dass man mit einer Million Anhängern, die täglich je 15 Minuten Zeit investieren, ohne dabei Risiken einzugehen, eine viel größere politische Wirkung erzielen kann. Und diese 15 Millionen Minuten vermögen immer noch mehr, als die eingefleischtesten und risikofreudigsten Aktivisten auf der Straße mit wundgelaufenen Füßen zusammensammeln. Aktivisten gibt es ja viel weniger. 
Aber so vorzugehen, dass aus diesen 15 Millionen Menschenminuten etwas Sinnvolles entsteht, ist sehr schwierig. Das erfordert eine riesige Infrastruktur und eine ziemlich geschickte Planung.

Alles, was wir gemacht haben, war, die Aktivisten, die es [zum Kampf] drängte und die zu den verschiedensten kreativen Protestformen bereit waren – dass wir die zu ziemlich öden bürokratischen Tätigkeiten verdonnert haben, um eine Angebotsstruktur für jene aufzubauen, die weniger aktiv waren. 

Und jetzt hat genau dieser Teil einen  Schlag versetzt bekommen. Unsere Millionen Anhänger sind immer noch da; die Hunderttausende, die zu Spenden und Reposts bereit sind, ebenfalls. Eins draufgekriegt haben die Zigtausend, die zu Demonstrationen gehen, und die Tausend, die aktiv mitarbeiten.  

Jenen, die bereit waren zu Demonstrationen zu gehen, hat man gesagt: Ihr werdet gleich alle im Verwaltungsarrest sitzen. Damit hat man das Risiko ihres Einsatzes um zwei Stufen verschärft, dazu waren sie nicht bereit. Und die Tausend, die [im Team] mitarbeiteten, bekamen zu hören: Ihr bekommt gleich alle eine Haftstrafe aufgebrummt. Also wurde auch das verschärft – auch dazu waren die Leute nicht bereit.
Somit haben sie [die russische Staatsmacht] uns durch die drastische Erhöhung des Risikos die Grundlage für unsere Struktur zerstört. Weswegen wir jetzt die Infrastruktur ins Internet verlegen. 

Durch die drastische Erhöhung des Risikos haben sie unsere Struktur zerstört

Wir wissen, dass die Unterstützung an der Basis nicht weg ist, das ist in Umfragen erfassbar. Wir müssen sie nur online neu aufbauen. Also, dafür sorgen, dass die Leute, die 15 Minuten täglich investieren wollen, [weiterhin] etwas Sinnvolles beitragen können. 
Natürlich sinkt die Effektivität. Natürlich wird die Arbeit anders sein, aber im Kern bleibt alles gleich. Die fundamentalen Gründe für die Proteststimmung in Russland sind ja ganz offensichtlich immer noch da und werden nicht so schnell verschwinden.    

Putin kann zehn Personen einsperren lassen – davon wird aber das Sonnenblumenöl nicht billiger. Putin kann alle Räumlichkeiten, in denen jemals Nawalnys Team gearbeitet hat, mit Baggern zerstören. Und alle Hotels, in denen Nawalny je eingecheckt hat. Auch damit wird er die Korruption nicht besiegen. Ganz zu schweigen davon, dass [der Unmut darüber nicht sinkt, dass] Putin seit 22 Jahren im Amt ist.  
Wir führen Umfragen durch und sehen: Die Unterstützung ist nicht zurückgegangen, dafür hat das Mitgefühl zugenommen.  

Sie sagen, Sie sind bereit, weiterhin dasselbe zu tun – wenn auch weniger effektiv und online. Bedeutet das, dass Sie die Grundhypothese beibehalten, dass diese ein bis zehn Millionen Anhänger von sich aus nicht bereit sind, das Risiko zu erhöhen und auf die Straße zu gehen? Sie glauben also nicht, dass die Stärke des Protestes ohne Ihr Zutun von selber zunimmt?  

Lustigerweise hat Nawalny in einer seiner letzten Nachrichten aus Wladimir eine Metapher aus Alice im Spiegelland benutzt: dass man schnell rennen muss, um auf der Stelle zu bleiben  – wobei er das Zitat fälschlicherweise [dem ersten Band] Alice im Wunderland zuschrieb. Am selben Tag kam auf Znak ein Interview mit mir heraus, in dem ich dieselbe Metapher benutzte. Wir hatten uns nicht abgesprochen, aber offenbar empfinden wir das sehr ähnlich. Genau so ist es: Wir rackern uns ab, wir rennen unglaublich schnell, nur damit wir auf der Stelle bleiben.    

Wir rackern uns ab, wir rennen unglaublich schnell, nur um auf der Stelle zu bleiben   

Das Risiko beim Straßenprotest ist um ein Vielfaches gestiegen. Niemand denkt mehr daran zurück, aber vor zehn Jahren war das Schlimmste, was auf einer nicht genehmigten Demonstration passieren konnte, 15 Tage Haft für Organisatoren und 500 Rubel [2011 rund 13 Euro – dek] Strafe für Teilnehmer. Irgendwelche Festnahmen (geschweige denn Haftstrafen). Schon allein Ausweiskontrollen schienen damals auf genehmigten Demonstrationen undenkbar. Und das vor nur zehn Jahren – in der fast guten alten Zeit.   

Unsere Proteststärke und -energie ist in diesen zehn Jahren nicht gestiegen, aber auch nicht weniger geworden. Jetzt, wo die Teilnahme an einer Demo bis zu 300.000 Rubel [etwa 3.300 Euro – dek] kosten kann, wo 30 Tage Haft drohen, ein Strafverfahren, ein reales Risiko, seinen Ausbildungs-, Studien- oder Arbeitsplatz zu verlieren et cetera – sehen wir, dass die Leute trotzdem landesweit in [mit vorher] vergleichbarer Zahl demonstrieren gehen.     

Unter diesen Bedingungen zu erreichen, dass Millionen Menschen auf die Straße gehen – das wäre wishful thinking

Alles, was wir unter diesen Bedingungen tun können, ist, schnell genug zu rennen, um an Ort und Stelle zu bleiben und das Entschlossenheitslevel der Menschen aufrechtzuerhalten. Aber unter diesen Bedingungen auch noch zu erreichen, dass Millionen Menschen auf die Straße gehen – das wäre Wishful Thinking.   

Putin hat auf Lukaschenko [und die belarussischen Proteste 2020] geschaut und begriffen, dass es noch enorm viel Spielraum gibt, die Repressionen zu steigern. Er hat signalisiert, dass er auch bereit ist, diesen Spielraum zu nutzen – was natürlich eine unangenehme Überraschung ist. Jetzt wissen wir, dass unsere Bemühungen nicht auf einen großangelegten Straßenprotest abzielen können. Den nächsten Massenprotest zusammenzutrommeln hat derzeit, milde ausgedrückt, nicht oberste Priorität.      

Putin hat auf Lukaschenko geschaut und begriffen, dass es noch enorm viel Spielraum gibt, die Repressionen zu steigern

Das heißt aber nicht, dass wir Straßenproteste ausschließen. Die Gesellschaft befindet sich in einem Zustand, in dem sie die Ungerechtigkeit des Geschehens sehr deutlich wahrnimmt. Und dieses Gefühl der Ungerechtigkeit wächst an: die Ursachen [der Proteststimmung] sind immer noch da. Daher kann es durchaus passieren, dass ganz von allein irgendein Schwarzer Schwan daherfliegt oder ein Goldener Hahn, der dem Zaren in den Kopf pickt, und das war’s. Aber darauf eine politische Strategie aufzubauen – das scheint mir unmöglich.    

Früher war der Rhythmus so: ein Video als Trigger, der offline seine Fortsetzung findet. Okay, angenommen, ihr stützt euch nicht auf den Straßenprotest. Doch wie soll dann diese Koppelung laufen? Gleichzeitig wird klar – unmittelbar vor unserem Gespräch haben Sie bekannt gegeben, dass die Regionalbüros schließen –, dass es keine Infrastruktur für die Produktion [von investigativen Filmen] mehr gibt, aber Filme brauchen Produktion. 

Bezüglich der Regionalbüros habe ich sehr deutlich gesagt: Wir lassen sie frei schwimmen, wir haben dieses Netz über vier Jahre aufgebaut, haben den Leuten etwas beigebracht, die Leute haben selbst etwas gelernt, haben sehr intensiv gearbeitet. Das Ergebnis ist eine absolut handlungsfähige politische Struktur, die zu selbständiger politischer Tätigkeit in der Lage ist. Und die infrastrukturelle Basis des Protests bleibt ja bestehen. 

Aber Sie investieren sie in lokale Agenden. Im Grunde sagen Sie: Geht los und widmet euch dem lokalen Protest.      

Sie waren sowieso mit lokalen Agenden befasst. Geschichten wie der Park in Jekaterinburg, Sergej Furgal und Kuschtau haben dem Kreml natürlich heftig Angst eingejagt.

Ich gehe davon aus, dass der Kreml das Netzwerk unserer Büros als größeres Problem und größere Bedrohung empfand als den Fonds für Korruptionsbekämpfung. Der FBK existierte einfach und veröffentlichte Studienergebnisse. Der Kreml war bis zuletzt der Meinung, dass das alles sowieso nur ein Internetphänomen ist. 

Das Büronetzwerk war jedoch vor Ort aktiv, und während der Kreml Proteste in Moskau mit Gummiknüppeln bis zur Bewusstlosigkeit niederschlagen konnte, ging er mit regionalen Protesten immer viel milder um. Zum einen, weil er Angst hatte, dass der Protest im ganzen Land aufflackern und außer Kontrolle geraten könnte, zum anderen, weil in der Moskauer Bevölkerung die Konzentration der Silowiki viel höher ist als in Jekaterinburg, Ufa und dergleichen.

Unser Netz von Büros und Teams rief eine ungeheuer nervöse Reaktion hervor

Alexej Nawalny wurde vergiftet, als er in den Regionen unterwegs war. Und seine Beschattung begann, als er 2017 anfing, aktiv die Regionen aufzusuchen, um ein landesweites Netzwerk aufzubauen. Als er im Sommer 2020 neuerlich die Regionen bereiste, wurde die Bespitzelung wieder aufgenommen.   

Dieses Netz von Regionalbüros und Teams rief eine ungeheuer nervöse Reaktion hervor, weil das die infrastrukturelle Basis ist. Das sind Leute, die Kompetenzen in sich tragen, die wissen, wie man einen Protest organisiert, wie man mit Freiwilligen arbeitet, wie man was am besten macht. 
Na, und natürlich das Smart-Voting, die Regionalwahlen – Sachen, die manchmal gelangen, manchmal nicht, die aber in den Regionen besonders wehtaten.  

Natürlich haben sie [die Behörden] es sich prinzipiell zur politischen Aufgabe gemacht, unsere Struktur in den Regionen zu zerstören. 

Ich glaube an die Theorie, dass der Entschluss, Alexej [Nawalny] mit Nowitschok zu vergiften, folgendermaßen gefasst wurde: Im Juli 2019 erging der politische Befehl, das Team zu zerstören. Damit wurde [der Chef des Ermittlungskomitees, Alexander] Bastrykin betraut. Bastrykin bildete eine Gruppe aus 141 Ermittlern in besonders wichtigen Angelegenheiten, die sich ans Werk machten, unsere Konten sperren und die Technik mitgehen ließen, bla, bla, bla.   

Ein Jahr später sagte man ihm bei irgendeiner Rechenschaftslegung: „Alexander Iwanowitsch, sie haben doch vor einem Jahr einen Auftrag bekommen. Aber irgendwie arbeitet das Team immer noch. Schon wieder dieses Smart-Voting, schon wieder mischen sie sich mit dem Geld von CIA und Mossad in unsere tollen und ehrlichen Wahlen ein. Wie kommt es, dass Sie, Alexander Iwanowitsch, damit nicht fertig werden?“ Er so: „Mi-mi-mi, geben Sie mir noch drei Monate, dann.“ Da kommt irgendso ein Nikolaj Platonowitsch um die Ecke und sagt: „Wisst ihr was, ich habe da eine Idee. Mir scheint, es ist Zeit für Plan B – für radikalere Methoden, wenn Sie schon ein Jahr damit herumtun. Wir haben da eine Spezialabteilung, wo sie für solche Fälle spezielle Mittelchen brauen.“      
Das ist natürlich eine dichterisch ausgeschmückte Rekonstruktion. Aber vom zeitlichen Ablauf und der Logik her erscheint sie mir plausibel.

Von unseren 40 Regionalbüros werden etwa 30 versuchen, als gesellschaftlich-politische Organisationen zu funktionieren

Vor diesem Hintergrund wiederhole ich: Alle Medien haben jetzt zwar die Nachricht „Regionalbüros aufgelöst“ gepusht – doch das war nicht der Sinn meiner Mitteilung, sondern der, dass von unseren 40 Regionalbüros etwa 30 versuchen werden, als gesellschaftlich-politische Organisationen selbständig zu funktionieren. Manche werden das natürlich nicht schaffen.   

Die Regionalbüros sind vielleicht eine gute Investition in lokale Agenden. Was das Smart-Voting betrifft, ist es ja kein Geheimnis: Dort, wo es funktioniert hat, waren die politischen Partner [von Nawalnys Team] die Kommunisten.

Nein. Ich als derjenige, der für das Smart-Voting zuständig ist, kann bestätigen, dass das nicht der Fall war. Es gab keine Absprachen im Sinne von „Lasst euch von uns unterstützen“ oder „Wir für euch und ihr für uns“.

Haben Sie nie mit den Kommunisten gesprochen?

Ich persönlich habe nie [mit ihnen] als Institution gesprochen. In den Regionen kommen ständig nicht nur Kommunisten zu uns, [sondern auch Mitglieder] von LDPR, SR, Jabloko und fragen: „Was müssen wir tun, um ins Smart-Voting zu kommen?“ Die hören immer dieselbe Antwort: „Steht alles auf der Website. Arbeiten Sie viel und gut. Werden Sie der beste Kandidat und der stärkste Opponent der Regierung in Ihrem Gebiet, und wir werden Sie unterstützen.“
   
Haben sich die Regionalteams am Verhandlungsprozess beteiligt, damit man einander nicht in die Quere kommt?
      
Ja. Für das Smart-Voting ist es schlecht, wenn in einem Wahlkreis ein starker Kommunist und ein starker Jablotschnik zusammentreffen. Und umgekehrt ist es gut, wenn ein starker Kommunist in dem einen Wahlkreis ist und ein starker Jablotschnik in einem anderen. Nachdem wir in diesem Prozess als unparteiische Vermittler auftreten, sind sie natürlich zu uns gekommen.

Für das Smart-Voting ist es schlecht, wenn in einem Wahlkreis ein starker Kommunist und ein starker Jablotschnik zusammentreffen 

So etwas ist in Sankt Petersburg passiert, in Jekaterinburg und in jenen Regionen, wo es eine erkleckliche Menge unverwüstbarer Charismatiker und strahlender Regionalpolitiker gibt. Wo es Gesprächsstoff und genug aufzuteilen gibt.  

In 80 Prozent der Fälle ist die Aufgabe des Smart-Votings leider, wenigstens irgendwen zu wählen. Moskau nimmt hier natürlich eine Sonderstellung ein. Da herrscht Konkurrenz zwischen starken Politikern. 

Wenn wir uns ansehen, wie viele Kandidaten im Smart-Voting formal zu einer Partei gehörten, wie die Kräfteverteilung zwischen politischen Parteien in Russland aussieht (ohne Einiges Russland), dann sind das rund 50 Prozent KPRF, 20 Prozent Sprawedliwaja Rossija, 20 Prozent LDPR und 10 Prozent Jabloko. Entsprechend sind auch die Wahlerfolge der Kandidaten im Smart-Voting verteilt.       

Sie werden also das Smart-Voting fortsetzen. Und den Regionalbüros, die Sie jetzt frei schwimmen lassen, überlassen Sie die Entscheidung, wen sie unterstützen wollen?   

Nein. Die Entscheidung über die Unterstützung von Kandidaten im Smart-Voting treffen wir immer ausschließlich in einem zentralen Analysezentrum. Bei aller Liebe zu den Regionalbüros hatten sie diesbezüglich nie ein Stimmrecht, unter anderem – bei allem Respekt –, weil Korruption ein Faktor ist. Wir lieben unsere Regionalbüros und vertrauen ihnen, aber auch Personen, denen ich bedingungslos vertraue, sind schon zu uns gekommen und haben erzählt: „Da hat mir einer drei Millionen Rubel für einen Platz im Smart-Voting angeboten.“ Das ist tatsächlich passiert, und nicht nur ein- oder zweimal. Ich kann nur raten, wie oft das vorgekommen sein mag, ohne dass wir davon erfahren haben.  

Bei aller Liebe zu den Regionalbüros  – sie hatten nie ein Stimmrecht, und ein Faktor dabei ist die Korruption

Damit sich keiner einschleichen kann, haben wir immer gesagt: „Leute, ihr habt Beratungsfunktion: Geht bitte durch die Wahlbezirke und berichtet uns, wer mehr Werbung hat, wer mehr Material verteilt.“ Man kann auch einfach in einem Mailing über die Datenbank des Smart-Votings die Unterstützer fragen, wessen Kampagne ihnen am meisten auffällt. Hauptsächlich stützen wir uns auf Analysen vergangener Wahlen.  

Wie wird das dieses Jahr bei den Wahlen zur Staatsduma ablaufen? Das provisorische Zentralkomitee befindet sich im Ausland, es gibt Regionalbüros, die Ihnen ein Bild der Lage vor Ort vermitteln können, denen Sie aber vielleicht nicht hundertprozentig vertrauen. Und noch dazu wird sich die Wahl im September über drei Tage ziehen.

Wir vertrauen natürlich unseren Regionalbüros – die in Russland als keine Ahnung was für Organisationen gelten – in dem Punkt absolut, dass sie uns ein objektives Bild liefern, auf das wir uns sehr gerne stützen. Nur war die Information aus den Regionalbüros immer nur ein Teil des Bildes. Wir werden es aus verschiedenen Stückchen zusammensetzen. 
Im Kontext der Staatsduma wird die Bedeutung von soziologischen Methoden [zur Bestimmung des Kandidaten, den das Smart-Voting unterstützt] viel höher sein. In einem kleinen Wahlkreis für den Stadtrat kann man ja keine sinnvollen Umfragen durchführen. Bei den Wahlen zur Staatsduma mit über 500.000 Wählern pro Wahlkreis in Großstädten aber können wir Aspekte aus Umfragen einbeziehen.    

Das ist eine neue Komponente des Smart-Votings, die wir früher nicht hatten, weil uns die Messgeräte fehlten, um in Bezirken mit zigtausenden Wählern Umfragen durchzuführen. Niemand hatte die. Und wer behauptet, sie zu haben, lügt einfach.  

Also sind  das die Komponenten des Smart-Votings: Eine Einschätzung der Lage durch das Team, Ihre eigenen Erhebungen in wichtigen Wahlkreisen und schließlich die gezielte Unterstützung einer von Ihnen bestimmten Person ?

Ja.  

Aber es wird keine flächendeckende Wahlkampagne im ganzen Land geben? Wird es 225 Kandidaten im Smart-Voting geben?

Ja, die wird es geben. 2019 und 2020 haben wir rund 800 beziehungsweise 1100 Empfehlungen abgegeben. Jetzt geben wir rund 1500 Empfehlungen ab, weil weitere 225 Bezirke dazukommen.    

Zurück zum 23. Januar [2021, als in Russland Demonstrationen gegen Nawalnys Festnahme stattfanden]. Was war der Plan?

Geplant und vorausgesehen haben wir ungefähr das, was auch passiert ist. Also, dass Alexej Nawalny am 17. Januar zurückkommt. Wir wussten, dass er höchstwahrscheinlich verhaftet wird und dass das mit einem schwerwiegenden Angriff auf unsere ganze Struktur einhergehen wird.
Aber hätten wir vorhersagen können, wie brutal das alles wird? Das nicht. Dass sie den Extremismusparagraphen bemühen werden – nein, das haben wir, ehrlich gesagt, nicht kommen sehen.      
 
Wir sind immer noch da. Unsere Recherchen und unser Smart-Voting sind immer noch da. Und bald kommen noch ein paar neue Projekte dazu. Es ist schwer, ja. Haben wir gewusst, dass es schwer wird? Ja. Hätten wir eine andere Wahl gehabt? Nein. Darüber denke ich eigentlich nicht so viel nach. 

Пожертвовать

читайте также

Гнозы
en

Fonds für Korruptionsbekämpfung

„Sie verfügen über eine der besten Ermittlungsstrukturen in Russland,“ setzt Tichon Dsjadko vom Internetfernsehsender Doshd an. Er will Alexej Nawalny die Frage stellen, ob sein Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) selbst recherchieren werde, wer genau hinter seiner Vergiftung im August 2020 steht. Doch bevor Dsjadko die Frage aussprechen kann, korrigiert ihn Nawalny schon: „Nicht eine der besten. Wir haben die beste.“

In der medialen Wahrnehmung tritt die Organisation, die Nawalny im Jahr 2011 gründete, um seine zahlreichen Projekte unter einem Dach zusammenzuführen, oft in den Hintergrund. Schließlich war Nawalny bis zu seiner Verurteilung zu einer Haftstrafe Anfang Februar 2021 das Gesicht seiner Kampagne: Er präsentierte die Ergebnisse der Recherchen auf seinem Blog und auf YouTube und legte auch persönlich Rechenschaft über die Finanzen der Organisation ab. Doch auch schon vor Nawalnys Verurteilung sind alle Fäden bei den etwa 30 Mitarbeitern des FBK zusammengelaufen: Der Fonds ist das Herzstück des Projekts Nawalny – eines Projekts, das längst über die Person hinausgewachsen ist.1

Da sind zum einen die detailreichen Recherchen zu Korruption und Vetternwirtschaft in der Politik. Die Mächtigen, die ihre Macht zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil nutzen, sind meist verschwiegen – in Russland genauso wie anderswo. Doch trotz hoher Mauern und juristischer Tricks fördert der FBK mit diebischer Freude immer weitere Villen, Jets und Weingüter der russischen Elite zutage. Zum Markenzeichen wurden die Drohnenaufnahmen von gut versteckten Schlössern, doch die Investigativ-Abteilung des FBK nutzt zuweilen sogar öffentliche Daten. Informationen zur komplexen Struktur, hinter der sich laut FBK die toskanischen Weinberge des Ministerpräsidenten Dimitri Medwedew verbergen, stammen zum Beispiel aus dem Handelsregister Zyperns und der Handelskammer der italienischen Region Siena. 

Recherchen, Social Media und Personalrekrutierung

Auf diese Enthüllungen folgen dann oft Klagen oder Beschwerden, die die juristische Abteilung des FBK bei den staatlichen Ermittlungsbehörden einreicht, doch meistens wird nichts daraus. Dies verwundert nicht weiter, wenn man bedenkt, dass es ein tragendes Prinzip der politischen Ordnung im heutigen Russland ist, Loyalität mit der Möglichkeit der Selbstbereicherung zu entlohnen. Dieses kleptokratische Prinzip aufzudecken und in Unterstützung für Nawalny umzumünzen – das ist eine der Hauptaufgaben des FBK.

Eine weitere besteht in der Bündelung aller Projekte und Ressourcen Nawalnys. Hier arbeiten nicht nur Journalisten und Juristinnen, sondern auch Soziologinnen und Videoproduzenten. Erstere ermitteln regelmäßig in eigenen Umfragen die Popularität Nawalnys, evaluieren die Arbeit seiner Regionalbüros und identifizieren zentrale Themen, die Nawalny dann aufgreift. Letztere setzen die Ergebnisse der Recherchen in technisch hochwertige Videoreportagen um. Denn wer um die Macht konkurriert, aber nicht im Fernsehen auftreten darf, der braucht seine eigenen Medien.

Schließlich ist der FBK auch eine Art Kaderschmiede: Sowohl Producerin Ljubow Sobol als auch FBK-Direktor Iwan Shdanow haben hier als Juristen angefangen, mittlerweile treten sie aber auch als Nawalnys Kandidaten an. Bei den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament 2019 wurden sie, wie viele andere Oppositionskandidaten, von den Behörden nicht zugelassen

Diese drei Dinge – Recherchen, Social Media und Personalrekrutierung – laufen dann in Nawalnys Kampagnen zusammen: Im August 2020 veröffentlichte er auf seinem YouTube-Kanal zwei millionenfach geklickte Enthüllungsvideos über Korruptionsnetzwerke in Tomsk und Nowosibirsk, die höchstwahrscheinlich einen Gutteil zum Erfolg seiner Kandidaten in den jeweiligen Stadtparlamenten beigetragen haben.

„Russland der Zukunft“

All dies macht den FBK faktisch zur Zentrale der Nawalny-Partei Russland der Zukunft – auch wenn diese Partei keine Chance auf offizielle Zulassung hat. In diesem Sinne ist der FBK eine Behelfslösung, denn Nawalnys eigentliches Ziel ist weder die Korruptionsermittlung noch das YouTuber-Dasein, sondern die Politik. Und das weiß auch der Kreml. Aus diesem Grund ist der FBK regelmäßigen Repressionen ausgesetzt. Das Justizministerium etwa klassifizierte ihn im Jahr 2019 als ausländischen Agenten, nachdem der Fonds eine dubiose Zahlung eines spanischen Boxers2 erhalten hatte. Obwohl das Geld sofort zurücküberwiesen wurde, zogen die Behörden die Einstufung nicht zurück. Im Dezember 2019 wurde dann der Mitarbeiter des FBK Ruslan Schaweddinow verhaftet und zum Militärdienst auf der abgelegenen Insel Nowaja Semlja eingezogen. Infolge einer Klage des Putin-Vertrauten Jewgeni Prigoshin verpflichtete ein Gericht die Organisation zur Zahlung von knapp 30 Millionen Rubel Schadenersatz und veranlasste die Sperrung ihres Kontos. Im April 2020 kündigte Nawalny deshalb an, die bisherige Organisation aufzulösen und neu zu gründen, den etablierten Markennamen Fonds für Korruptionsbekämpfung aber beizubehalten.3 Dazu konnte der Oppositionspolitiker aber nicht kommen: Am 2. Februar 2021 wurde seine Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Nawalny bleibt damit bis Oktober 2023 in einer Strafkolonie

Den vorläufigen Schlusspunkt der behördlichen Maßnahmen gegen den FBK bildete im Juni 2021 die Einstufung des Fonds als „extremistisch“: Dieser soll laut Staatsanwaltschaft unter anderem eine „Farbrevolution“ vorbereitet haben. Das Gerichtsverfahren fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, nach einer gescheiterten Berufungsverhandlung wurde das Urteil am 4. August rechtskräftig. Laut Medienberichten hat Ljubow Sobol das Land verlassen, gegen ihre Mitstreiter Iwan Shdanow und Leonid Wolkow hat das Ermittlungskomitee Strafverfahren eingeleitet: Ihnen wird vorgeworfen, Gelder zur Finanzierung von FBK und der Nawalny-Wahlteams beschafft zu haben. Mit der Aufnahme in die Verbotsliste des Justizministeriums droht allen, die mit oder für Nawalnys Fonds arbeiten – auch den zahlreichen Ehrenamtlichen – eine Haftstrafe.

Dorn im Auge des Kreml?

Das Konto des Fonds ist derzeit gesperrt, doch woher stammt das Geld darauf? Zu Beginn seiner Arbeit erhielt der FBK Zuwendungen einiger prominenter Sponsoren, darunter von dem Schriftsteller Boris Akunin und dem Unternehmer Boris Simin, der auch Nawalny persönlich unterstützt. Die dauerhafte Finanzierung wurde bislang größtenteils durch Crowdfunding gesichert. Aus dem letzten Finanzbericht4 geht hervor, dass von den insgesamt 89 Millionen Rubel (Ende 2019 waren es umgerechnet etwa 1,3 Millionen Euro), die der FBK im Jahr 2019 an Spenden erhielt, die Hälfte unter und die Hälfte über 500 Rubel lagen, wobei die durchschnittliche Summe 712 Rubel betrug (rund zehn Euro). Nawalny betont dabei stets, dass die Zahl der Zuwendungen jedes Mal merklich ansteige, wenn die Behörden die Büros der Organisation und ihrer Mitarbeiter durchsuchen und Computer, Kameras und Drohnen beschlagnahmen. Auch aus diesem Grund ist Nawalnys Team stets darauf bedacht, alle Repressionen so öffentlichkeitswirksam wie möglich zu kommunizieren, um die Maßnahmen der Staatsmacht gegen oppositionelles Engagement offenzulegen. Mit der Stigmatisierung als „extremistische Organisation“ wird das Finanzierungsmodell aber wohl zwangsläufig einbrechen: Allen, die sogenannte „extremistische Tätigkeit“ finanzieren, droht eine Haftstrafe von bis zu acht Jahren.

Ob der FBK tatsächlich die beste Ermittlungsorganisation in Russland ist, sei dahingestellt. Es ist jedenfalls bisher keiner anderen Organisationen gelungen, die Informationshoheit der staatsnahen Massenmedien so nachhaltig zu unterlaufen und dabei gut recherchierte Inhalte über einen wunden Punkt des politischen Systems zu verbreiten. Der FBK ist dem Kreml daher offenbar alles andere als egal.

 

Aktualisiert am 10.08.2021


1.Der russische Ableger der BBC veröffentlichte im August 2020 eine detaillierte Reportage über die Art und Weise, wie der FBK ohne seine Gallionsfigur Nawalny arbeitet, als dieser infolge seiner Vergiftung im Koma lag. 
2.navalny.com: Roberto Fabio Monda Kardenas Vladimirovič 
3.bbc.com: Soratnik Naval'nogo: "Ljuboe real'noe rassledovanie privedet k tomu, čto oni vyjdut na samich sebja" 
4. Fond bor'by s korrupciej: Finansovyj otčet: Otčet za 2019 god 
Пожертвовать
читайте также
показать еще
Motherland, © Таццяна Ткачова (All rights reserved)