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„Einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern“

Der Oppositionelle Alexej Nawalny muss für mehr als zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. Ein Gericht in Moskau hat heute entschieden, eine Bewährungsstrafe des Politikers in eine Haftstrafe umzuwandeln – weil er gegen die Bewährungsauflagen verstoßen habe.

2014 waren Alexej Nawalny und sein Bruder Oleg im Fall Yves Rocher zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Während sein Bruder ins Gefängnis kam, erhielt Alexej Nawalny die Strafe zur Bewährung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte das Urteil 2017 für „willkürlich und deutlich rechtswidrig” befunden, Russlands Oberstes Gericht bestätigte es dennoch.
Von den dreieinhalb Jahren werden nun zehn Monate Hausarrest abgezogen, die Nawalny bereits abgesessen hatte, so dass er für zwei Jahre und acht Monate in Haft kommt. Nawalnys Anwältin kündigte Berufung an. Zahlreiche westliche PolitikerInnen kritisieren das Urteil. Noch am Dienstagabend, 2. Februar, versammelten sich Demonstrierende und auch zahlreiche Sicherheitskräfte in Moskaus Innenstadt. Im Laufe des Tages sind laut OWD-Info mehr als 900 Menschen festgenommen worden, die aus Solidarität mit Nawalny zum Moskauer Stadtgericht gekommen sind oder nach der Urteilsverkündung im Moskauer Zentrum protestiert haben.

Meduza hat Nawalnys Schlusswort transkribiert – dekoder bringt es in deutscher Übersetzung.

 

Источник Meduza

„In Russland gibt es derzeit viele gute Dinge. Aber das beste sind jene Menschen, die keine Angst haben“ / Foto © Sputnik

Ich würde gern mit der juristischen Frage beginnen, die mir am wichtigsten erscheint und die bei dieser Anhörung bisher irgendwie übersehen wurde. Denn das alles wirkt ein bisschen merkwürdig, oder? Also da sitzen zwei. Der eine meint: „Ach, lass uns Nawalny dafür einbuchten, dass er nicht montags, sondern donnerstags (zur Bewährungsstelle) gekommen ist.“ Der andere meint: „Ach, lass uns Nawalny dafür einbuchten, dass er, nachdem er aus dem Koma erwacht ist, nicht sofort hergekommen ist und sich gemeldet hat.“ Und dann läuft die Anhörung, alle reden über Montage, Donnerstage, wann und wohin man welche Papiere schicken muss und so weiter. Doch ich möchte ein paar Worte über den kleinen Elefanten hier im Raum sagen.

Man will mich in einem Fall hinter Gitter bringen, in dem ich schon als unschuldig anerkannt bin. Ein Fall, der schon als konstruiert anerkannt wurde. Das ist nicht meine persönliche Meinung: Wir können jedes beliebige Lehrbuch für Strafrecht aufschlagen – ich hoffe, euer Ehren, dass Sie das einige Male in Ihrem Leben gemacht haben – und werden sehen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Teil des russischen Rechtssystems ist, unter anderem, weil Russland Mitglied des Europarats ist. Es gibt bindende Entscheidungen. Und ich habe, nachdem ich den ganzen Prozess durchlaufen habe, den EGMR angerufen. Und der EGMR hat eine Entscheidung gefällt, in der schwarz auf weiß geschrieben steht, dass nicht mal ein Straftatbestand vorliegt.

Man will mich in einem Fall hinter Gitter bringen, in dem ich schon als unschuldig anerkannt bin

Der Fall, aufgrund dessen ich, warum auch immer, in diesem merkwürdigen Käfig sitze, ist vollständig konstruiert. Mehr noch, die Russische Föderation hat diese Entscheidung sogar anerkannt. Denn man hat mir eine Entschädigung gezahlt und damit die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt. Nichtsdestotrotz hat mein Bruder für diese Sache dreieinhalb Jahre im Gefängnis gesessen und ich stand ein Jahr unter Hausarrest.

Ein wenig Mathematik: 2014 wurde ich verurteilt, bekam dreieinhalb Jahre und jetzt haben wir das Jahr 2021, aber ich werde immer noch wegen dieses Falls verurteilt. Dabei wurde ich bereits für unschuldig erklärt, ein Straftatbestand liegt nicht vor, und dennoch: Mit der Verbissenheit eines Besessenen fordert unser Staat, mich in diesem Fall ins Gefängnis zu bringen.

Aber warum ausgerechnet in diesem Fall? Es gibt ja sicherlich keinen Mangel an Strafverfahren gegen mich, oder? Erst kürzlich wurde noch ein weiteres eingeleitet. Nichtsdestotrotz wollte jemand, dass ich bei meiner Rückkehr nicht einen einzigen Schritt als freier Mensch in das Staatsgebiet unseres Landes mache. Von dem Moment an, als ich die Grenze überschritt, war ich ein Gefangener. Und wir wissen, wessen Gefangener. Wir wissen, weshalb das passierte. Der Grund für all das sind der Hass und die Angst eines einzelnen Menschen, der im Bunker lebt. Weil ich ihn zutiefst kränkte, indem ich überlebte, nachdem man versucht hatte, mich auf seinen Befehl hin umzubringen.

Der Grund für all das sind der Hass und die Angst eines einzelnen Menschen

Ich habe ihn zutiefst gekränkt, indem ich überlebte. Dank guter Menschen – Piloten und Ärzte. Und dann habe ich ihn noch mehr gekränkt, weil ich ich mich, nachdem ich überlebt hatte, nicht versteckte, nicht unter Personenschutz in einem etwas kleineren Bunker lebte, den ich mir hätte leisten können. Und danach wurde es ganz schlimm. Nicht nur, dass ich überlebt hatte, nicht nur, dass ich keine Angst hatte und mich nicht versteckte – ich habe auch noch an den Recherchen bezüglich meiner eigenen Vergiftung mitgearbeitet. Und wir haben gezeigt und bewiesen, dass es Putin war, mittels des FSB, der diesen Mordversuch durchgeführt hat. Und ich war nicht der Einzige. Und jetzt wissen es die Menschen und werden noch viel mehr erfahren. Und genau das macht dieses kleine diebische Menschlein in seinem Bunker verrückt. Genau diese Tatsache – dass alles rauskam, verstehen Sie?

Wir haben gezeigt und bewiesen, dass es Putin war, mittels des FSB, der diesen Mordversuch durchgeführt hat

Da ist nichts mit hohen Umfragewerten, oder gewaltiger Unterstützung. Nichts dergleichen. Weil klar wurde: Um mit einem politischen Gegner fertig zu werden, der weder das Fernsehen noch eine politische Partei hinter sich hat, muss man einfach versuchen ihn mit mit einem chemischen Kampfstoff umzubringen. Und natürlich wird Putin da verrückt. Weil sich alle davon überzeugen konnten, dass er einfach ein kleiner Beamter ist. Den man zufälligerweise auf den Posten des Präsidenten gestellt hat. Der weder an Debatten noch an Wahlen teilgenommen hat. Und dessen einzige Kampfmethode der Versuch ist Menschen zu töten. Und wie sehr er sich auch darstellen wollte als großartiger Geopolitiker, großartiger Leader der Welt, so ist in Bezug auf mich seine schlimmste Kränkung nun, dass er in die Geschichte als Giftmörder eingehen wird.

Wisst ihr, es gab Alexander den Befreier. Jaroslaw den Weisen. Und nun kommt Wladimir der Vergifter der Unterhosen. Als der wird er eingehen in die Geschichte.

Nun kommt Wladimir der Vergifter der Unterhosen. Als der wird er eingehen in die Geschichte

Ich stehe hier, schon von der Polizei bewacht, die russische Nationalgarde ist aufmarschiert, halb Moskau ist abgesperrt aus dem einzigen Grund, weil ein kleiner Mann im Bunker durchdreht. Weil wir bewiesen und gezeigt haben, dass er sich nicht mit Geopolitik beschäftigt, sondern Beratungen abhält, auf denen er entscheidet, wer politischen Opponenten die Unterhosen klaut, sie mit chemischen Kampfstoffen einreibt und versucht sie zu töten.

Entscheidend in diesem Prozess ist gar nicht, wie er für mich endet. Mich einzusperren ist keine Kunst, ob nun in diesem oder einem anderen Fall. Entscheidend ist, wozu das passiert – zur Einschüchterung einer riesigen Menge von Menschen. Das funktioniert genau so: Einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern.

In Russland leben 20 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Und dutzende Millionen leben ohne die geringste Perspektive. In Moskau lässt es sich noch mehr oder weniger leben. Aber sobald man 100 Kilometer rausfährt, trifft man auf absoluten Stillstand. Unser ganzes Land lebt in diesem absoluten Stillstand, ohne jegliche Perspektive. Von 20.000 Rubel [etwa 200 Euro – dek]. Und alle schweigen sie, man versucht ihre Mäuler zu stopfen mit genau solchen Schauprozessen.

Das funktioniert genau so: Einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern

Ich hoffe sehr, dass die Leute diesen Prozess nicht als Signal auffassen dafür, dass sie noch mehr Angst haben sollen. Das ist keine Demonstration von Stärke, das ist eine Demonstration von Schwäche. Millionen und Hunderttausende kann man nicht einsperren. Und ich hoffe sehr, dass die Leute sich dessen mehr und mehr bewusst werden. Und wenn sie sich dessen bewusst geworden sind – und dieser Moment wird kommen – dann wird das alles in sich zusammenfallen. Denn ihr werdet nicht das ganze Land einsperren.

All die Menschen, denen ihr die Perspektiven und die Zukunft genommen habt, leben in einem extrem reichen Land und bekommen Null ab von den nationalen Reichtümern. Bei uns mehrt sich nur die Anzahl der Milliardäre, alles andere schrumpft, verstehen Sie das? Ich sitze in meiner Zelle und höre Reportagen darüber, dass die Butter teurer geworden ist, dass Nudeln teurer geworden sind, dass Eier teurer geworden sind. Im Jahr 2021! Eine Exportnation von Öl und Gas.

Alles, was sich sage, drückt meine Einstellung zu der Theatervorstellung aus, die Sie hier aufführen. Es kommt vor, dass Gesetzlosigkeit und Willkür das Wesen eines politischen Systems ausmachen. Und das ist schlimm.

Aber es geht noch schlimmer, nämlich wenn Gesetzlosigkeit und Willkür sich in die Roben von Staatsanwalt und Richter hüllen. Es ist die Pflicht eines jeden Menschen, sich weder Ihnen noch solchen Gesetzen zu unterwerfen.

Ich kämpfe, wie ich nur kann

Ich kämpfe, wie ich nur kann. Und ich werde das fortsetzen, auch wenn ich völlig unter der Kontrolle derer stehe, die leidenschaftlich alles mit chemischen Kampfstoffen einreiben wollen. Mein Leben ist wohl keine drei Kopeken mehr wert. Und trotzdem rufe ich alle dazu auf, keine Angst zu haben und alles zu tun, damit das Gesetz siegt. 

Ich grüße und danke allen Mitarbeitern des Fonds für Korruptionsbekämpfung, die derzeit unter Arrest stehen. Und allen im ganzen Land, die keine Angst haben und auf die Straße gehen, denn sie haben die gleichen Rechte wie Sie. Denn unser Land gehört denen genauso wie Ihnen und allen anderen. Wir sind ebensolche Bürger. Und wir fordern eine normale Rechtsprechung, dass man uns anständig behandelt, an Wahlen teilnehmen lässt und an der Verteilung der nationalen Reichtümer.

In Russland gibt es derzeit viele gute Dinge. Aber das beste sind jene Menschen, die keine Angst haben, die nicht den Blick senken und den Tisch anstarren. Die niemals unser Land abgeben werden an das Häuflein käuflicher Beamter, das unsere Heimat gegen Paläste, Weingüter und Aqua-Discos eintauscht.

Ich fordere sofortige Freiheit für mich und alle anderen Inhaftierten. Ich erkenne Ihre Vorstellung nicht an – sie ist illegal und voller Lüge.

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Alexej Nawalny

Alexej Nawalny ist in Haft gestorben. Er wurde in mehreren politisch-motivierten Prozessen zu langjähriger Strafe verurteilt. Aus der Strafkolonie hat er mehrmals über unmenschliche Haftbedingungen berichtet.  

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Alexej Nawalny

„Herr Nawalny, Sie haben das Wort.“ Ein großgewachsener Mann mit kräftigem Nacken erhebt sich, denn das letzte Wort gehört ihm, dem Angeklagten. Alexej Nawalny, der kurz zuvor seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen angekündigt hat, macht die Anklagebank zu einer politischen Bühne. Seine Rede umfasst alle zentralen Punkte der Kampagne: Die allgegenwärtige Korruption, die politische Abhängigkeit der Gerichte, die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes, die so leicht zu beenden wäre. Er teilt in diesem Schlusswort die russische Gesellschaft in drei Gruppen und zeichnet damit ein scharfes Bild seiner Weltsicht. Da sind zuerst die „wenigen Tausend“ an der Spitze der politischen Hierarchie, die den Reichtum des Landes unter sich aufgeteilt haben. Zweitens ist da die kleine Gruppe von Nawalnys treuen Unterstützern und Mitstreitern. Die dritte schließlich ist die größte Gruppe. Die stillen Stützen der Macht: die niedrigen Ränge im Staatsdienst, die regierungstreuen Bürger. „Sie alle könnten viel besser leben“, ruft er und wendet sich persönlich an den Richter, den Staatsanwalt, den Wachmann im Saal, „wenn Sie sich nicht fürchten würden vor denen, die unser Land ausplündern!“1 Wahlkampf inmitten eines Prozesses, in dem er schließlich zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. 

Vier Jahre später, fast auf den Tag genau, hält der wieder angeklagte Oppositionelle eine Rede vor Gericht, in der er dem Kreml vorwirft, er wolle „einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern“. Vorangegangen war eine Nowitschok-Vergiftung, Behandlung in der Berliner Charité und eine Rückkehr, die Beobachter zu Vergleichen mit Nelson Mandela hinriss: Schon vor der Verurteilung von Nawalny war vielen klar, dass der Oppositionspolitiker hinter Gitter kommt, einige prophezeiten ihm gar den Tod, sei er doch der größte Feind des Regimes. Wie der russische Strafvollzugsdienst FSIN am 16. Februar 2024 mitteilte, ist Nawalny in seiner Haft gestorben. 

Auch wenn die angriffslustig gesenkte Stirn, die aufgerissenen blauen Augen während seiner Reden zuweilen einen anderen Eindruck vermitteln mochten: Alexej Nawalny kannte die Regeln und er bediente sie virtuos. Ein Jura-Abschluss im Jahr 1997, im Anschluss ein Studium der Finanzwirtschaft und ein halbes Jahr in Yale – das waren seine formalen Qualifikationen. Dazu kamen einige Jahre Arbeit in der sozialliberalen Partei Jabloko, die ihm allerdings zu vorsichtig im Umgang mit der Regierung wurde und die ihn wegen nationalistischer Parolen im Jahr 2007 rauswarf.2

Mindestens ebenso wichtig für Nawalnys Werdegang aber war seine langjährige Erfahrung mit eigenen Unternehmen und mit den Behörden des Landes. Als Minderheitsaktionär mehrerer Staatskonzerne hatte er das Recht, interne Dokumente einzufordern. Darauf baute er seine Korruptionsbeschuldigungen auf. Doch auch die Bürger des Landes hat er in die Aufdeckungskampagnen einbezogen. Im Jahr 2011 gründete Nawalny den Fond borby s korrupziei (dt. Fonds für Korruptionsbekämpfung, FBK)3, der frühere Onlineprojekte zu Wohnungsbau, Straßen und Staatsaufträgen unter einem Dach verbindet. Sein Team spürt eingesandten Hinweisen nach und klagt – oft sogar gegen hohe Staatsbeamte, sogar gegen Wladimir Putin selbst.4 Auf diese Weise hat er nicht nur ein beachtliches Netzwerk an internetaffinen Unterstützern aufgebaut, sondern auch viel Erfahrung im Umgang mit Gerichten gesammelt. 

Gerichtsverfahren und politische Ambitionen

Im Sommer 2013 lautete das Urteil im berüchtigten Kirowles-Prozess auf fünf Jahre Haft, die Strafe wurde später überraschend zur Bewährung ausgesetzt. Ein Jahr später kam eine weitere Bewährungsstrafe hinzu. Sein mitangeklagter jüngerer Bruder Oleg wurde erst im Juli 2018 nach Verbüßung des vollen Strafmaßes aus der Haft entlassen. Zahlreiche Beobachter und Analysten halten die Prozesse für politisch motiviert.5 Und tatsächlich spricht einiges dafür – so zum Beispiel die Tatsache, dass es Putins Vertrauter Alexander Bastrykin war, der 2012 persönlich die Wiederaufnahme des Kirowles-Prozesses in Gang brachte, obgleich das Ermittlungskomitee den Fall zu den Akten gelegt hatte.6 Und auch abseits von Gerichtsprozessen war Nawalny beständigem Druck ausgesetzt, der die Staatskasse übrigens einiges gekostet hat: In einer investigativen Reportage deckte das Medium Projekt im August 2020 auf, dass der Kreml über Blogger und Social-Media-Influencer eine dauerhafte mediale Kampagne gegen Nawalny führt und dass der FSB ihn zu jeder Zeit und an jedem Ort überwacht. 

Doch hätte Putin von Nawalny wirklich etwas zu befürchten? Zumindest stand er im Zentrum mehrerer öffentlichkeitswirksamer Konfrontationen der letzten Jahre. Es war nicht Nawalny, der die Menschen im Jahr 2011 auf die Straße brachte – aber seine Losung von der „Partei der Gauner und Diebe“ gehörte zu den prominentesten Slogans. Und er kam als Kandidat der Partei PRP-PARNAS 2013 bei der Moskauer Bürgermeisterwahl – ohne jegliche Aufmerksamkeit vieler großer Medien – auf 27 Prozent der Stimmen. Diese Teilerfolge und seine immense Gefolgschaft im Netz ermutigten ihn zum nächsten Schritt: die Präsidentschaftswahl 2018.

Schon das Urteil vom 08. Februar 2017 verhinderte formal eine offizielle Kandidatur. Doch Nawalnys Kampagne ging weiter, sein Team hoffte auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, oder doch noch eine politische Intervention. Doch am 25. Dezember schloss die Zentrale Wahlkommission Nawalny von der Präsidentschaftswahl aus. Der reagierte darauf mit einem Boykottaufruf für die Wahl, russische Behörden überprüfen derzeit wiederum, ob dies gegen das Gesetz verstoße.

Soviel Aufregung um den potentiellen Kandidaten war Grund genug, sich zu fragen, was Nawalny außer seinen berüchtigten, detailreichen Recherchen zu komplexen Korruptionsnetzwerken anzubieten hatte.

Korruption als die Wurzel allen Übels?

Sein politisches Programm7 bestand aus sorgfältig austarierten, oft nicht allzu konkreten Statements. Befürworter eines starken, aktiven Staates fanden Anschluss in seinen Forderungen nach Mehrausgaben für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur, einem deutlich höheren Spitzensteuersatz, einem Mindestlohn in Höhe von 25.000 Rubel und einer Subventionierung von Hauskrediten für Familien. Anhänger eines zurückhaltenden Staates hat er dagegen mit der Abschaffung jeglicher Steuern für Kleinunternehmer gelockt, mit einer zurückhaltenden Geldpolitik, Dezentralisierung und der Deregulierung des Wohnungsbaus.

Sucht man nach früheren Positionen, die keinen Eingang in sein Wahlprogramm gefunden haben, so findet man sein Bekenntnis zum orthodoxen Glauben – und seinen Hang zum Nationalismus: Er war bereits als Organisator und Redner beim Russischen Marsch in Erscheinung getreten8 und vertrat in seinem Blog eine „demokratisch“-ethnonationalistische Linie, die sich um Abgrenzung von Extremen bemüht. In einem YouTube-Clip (den er später als Witz bezeichnete) setzte er kaukasische Terroristen mit Kakerlaken gleich.9 Von solchen Botschaften hat er sich später distanziert, auch der Parole „Russland den Russen“ hat er ausdrücklich widersprochen.10

Seine Fixierung auf Korruption als die Wurzel allen Übels, seine nationalistischen Anklänge und auch seine Teilnahme an Wahlen, die dem politischen System Funktionsfähigkeit und damit Legitimität bescheinigt, haben dabei durchaus Anstoß in oppositionellen Milieus erregt. Keinesfalls war Nawalny daher der „Oppositionsführer“, als den deutsche und selbst einige russische Medien ihn zuweilen präsentieren. Aufregung im liberalen Lager erregte beispielsweise Nawalnys Aussage, die Krim sei kein Butterbrot, das man hin- und herreichen könne: Als Präsident würde er sie nicht an die Ukraine zurückgeben, sondern ein „normales“ Referendum über den Status der Halbinsel abhalten.11 Das klang nach einem wahlstrategischen Drahtseilakt. Wie auch bei seinen nationalistischen Tönen und seinen linken Forderungen zeigte sich hier, dass Nawalny auf Mehrheiten aus war – und auch, dass er bereit war, dem Publikum das zu sagen, was er für mehrheitsfähig hielt.

Gleichwohl hat Nawalny für viele auch eine Hoffnung symbolisiert – unabhängig davon, dass sein politischer Handlungsspielraum bis zu seiner Verurteilung im Februar 2021 sukzessive eingeschränkt wurde. Was ihn von anderen Politikern abgehoben hat, war aber nicht so sehr sein Programm, sondern vielmehr sein rhetorisches Talent und seine kompromisslose Gegnerschaft zur herrschenden Elite. Vereinfacht gesprochen sah Nawalny die Lösung von Russlands Problemen in der Formel Elitenwechsel plus Justizreform.12

Nawalny gleich Putin minus Korruption?

Tatsächlich war Nawalny seinem ärgsten Gegner, Präsident Putin, in mancher Hinsicht nicht unähnlich. Wie Putin zu seinem Amtsantritt im Jahr 2000, erschien er als eine charismatische und entschlossene Führungsfigur; mit seinem zentristischen Pragmatismus konnte sich theoretisch ein breites Spektrum von Bürgern identifizieren. Und Nawalny erklärte selbst: „Ein Großteil der Dinge, die ich vorhabe, formuliert Putin auch – nur setzt er sie nicht um.“13 Es fällt daher auch der regierungsnahen Presse schwer, ihn den verhassten Liberalen der 1990er zuzurechnen – vor Schmähkampagnen14 ist er trotzdem nicht sicher.

Nawalny hat mit den klassischen Instrumenten populistischer Rhetorik operiert – für ihn gab es keine horizontalen, politischen Grundsatzkonflikte, sondern nur unten gegen oben, Volk gegen Elite. In Kombination mit seinem zentristischen Programm hätte das eine erfolgreiche Strategie im Kampf gegen ein Regime sein können, das alles für alle zu sein vorgibt und daher ideologisch kaum zu greifen ist. Nawalny setzte dem allumfassenden Putin dasselbe allumfassende Bild entgegen. Der Unterschied: Unter Nawalny, so seine wichtigste Botschaft, würde die Staatsmacht ehrlich sein, transparent und effizient.

Gefahr für den Kreml?

Mit diesem Programm hatte Nawalny das Potential, der Macht auf lange Sicht gefährlich zu werden. Vielleicht war das der Grund, warum für politische Reden so oft die Anklagebank herhalten musste, warum er letztendlich in der Strafkolonie gestorben ist.

Als Nawalny am Morgen des 20. August 2020 in ein Krankenhaus in Omsk eingeliefert wurde, nachdem er auf dem Rückflug von Sibirien nach Moskau das Bewusstsein verloren hatte, stand vor diesem Hintergrund schnell der Verdacht einer Vergiftung durch den Kreml im Raum. Erhärtet wurde dieser Verdacht für viele dadurch, dass der Fall sich in eine reiche Vergiftungs-Geschichte missliebiger Personen einreiht. Auch dass die russischen Ärzte zunächst die Diagnose einer Stoffwechselstörung stellten und die Vermutung einer Vergiftung zurückwiesen, erschien vielen als typisch für die Verschleierungstaktik des Kreml. 

Nawalny wurde jedenfalls am 22. August durch die Vermittlung der Organisation Cinema for Peace15 und die anschließende diplomatische Unterstützung der Bundesregierung nach Deutschland ausgeflogen. Während seiner Behandlung in der Berliner Charité erklärten die Ärzte am 24. August, man habe Hinweise auf eine Vergiftung mit Cholinesterase-Hemmern gefunden. Am 3. September 2020 äußerte sich die damalige Bundeskanzlerin Merkel schließlich in einem öffentlichen Statement dahingehend, dass Nawalny „Opfer eines Verbrechens“ geworden war: Ein Speziallabor der Bundeswehr hatte nachgewiesen, dass der Oppositionspolitiker mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden war.

Am 13. Januar 2021 kündigte Nawalny an, schon am nächsten Sonntag nach Moskau zurückzukehren. Da ihm eine Verhaftung wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen drohte, lobten viele in Russland Nawalnys „mutigen“ Schritt  und verglichen den Politiker mit Nelson Mandela.

Noch bei seiner Ankunft am Flughafen in Moskau wurde Nawalny festgenommen. In einem Gerichtsprozess, abgehalten auf einem Moskauer Polizeirevier, wurde er am Montag, 18. Januar, zu 30 Tagen U-Haft verurteilt, wie seine Sprecherin Kira Jarmysch auf Twitter mitteilte. Im anschließenden Verfahren am 2. Februar 2021 wurde seine Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Er musste damit bis Oktober 2023 in eine Strafkolonie. Vorläufig bis 2023, so schien es schon damals einigen Beobachtern.

Diese Ereignisse zogen im Januar 2021 große Proteste nach sich. Die Demonstrationen waren wegen Corona-Beschränkungen an keinem Ort von den Behörden genehmigt. Gleichwohl gingen innerhalb einer Woche im ganzen Land zweimal zehntausende Menschen auf die Straße. Der Kreml warf Nawalnys Team wie auch zuvor schon vor, Minderjährige für politische Zwecke zu missbrauchen. Gleichzeitig ging die Polizei hart, mitunter brutal gegen die Protestierenden vor und unterstrich damit die Botschaft, die sie auch schon von Nawalnys Verurteilung verbreitete: Wer sich hartnäckig weigert, die Autorität der politischen Führung anzuerkennen, muss mit immer härterer Repression rechnen.

Nawalnys Haft, die in anschließenden Scheinprozessen immer wieder verlängert wurde, war von menschenunwürdigen Bedingungen geprägt. Das Wenige, was aus der Strafkolonie von ihm nach außen drang, klang nach Zweckoptimismus. Manchmal schien es, dass er gar darüber witzelt, immer noch am Leben zu sein. Am 16. Februar 2024 gab der russische Strafvollzugsdienst FSIN bekannt, dass Nawalny gestorben ist. 

Aktualisiert am 16.02.2024


1.youtube.com: Poslednee slovo Alekseja Navalnogo na povtornom processe po delu «Kirovlesa“ ↑​
2.shuum.ru: Aleksej Navalnyj: A ty, černožopaja, voobšče molči! 
3.Fond borby s korrupciej 
4.RBK: Navalnyj podal isk k Putinu 
5.Lexikon der Politischen Strafprozesse: Nawalny, Alexei Anatoljewitsch 
6.Nawalnys Unterstützer bezeichneten die Intervention als persönlichen Rachefeldzug Bastrykins, mit der Begründung, dass Nawalny einige Wochen zuvor Bastrykin vorgeworfen hatte, mit seinem Posten unvereinbare Geschäfte in Tschechien zu unterhalten, siehe vesti.ru: Politologi o Navalnom – realnom i virtualnom. Details zum Vorwurf hier: Livejournal Navalny: O nastojaščich inostrannych agentach 
7.vgl. 2018.navalny.com 
8.snob.ru: Navalnyj i nacionalizm 
9.youtube.com: Navalnyj za legalizaciju oružija 
10.Gleichwohl bringt er sich aber immer noch über ethnisch-religiöse Themen ins Gespräch, wie im Frühjahr 2016: Als in Moskau eine psychisch gestörte usbekische Muslima einem Kind den Kopf abschnitt, beklagte er lautstark die vermeintlich unzureichende Berichterstattung und sprach von Zensur aus politischer Korrektheit, siehe youtube.com: Debaty. Naval’nyj vs. Pozner: Polnaja versija 
11.RBK: Aleksej Naval’nyj – RBK: «Naša glavnaja zadača – izmenit’ sejčas vse» 
12.Zwar beklagt er auch institutionelle Schwächen des Systems, insbesondere die von der Exekutive dominierte Verfassung. Im Zentrum seiner Kritik stehen aber keine systemischen Eigenschaften, keine Anreize, denen Individuen folgen, keine Fragen der politischen Kultur. Nicht einmal die übermäßigen Befugnisse des staatlichen Gewaltapparates unterzieht er besonderer Kritik – es seien die Personen selbst, die jeglichen Sinn für Moral und ihren gesunden Menschenverstand verloren haben und in ihrer hemmungslosen Selbstbereicherung von niemandem effektiv kontrolliert werden können. 
13.Echo Moskvy: Osoboe Mnenie: Aleksej Naval’nyj 
14.Der regierungstreue Fernsehsender NTV lancierte bereits mehrere Sujets, die angeblich Nawalnys „versteckte Millionen“ dokumentieren sollen. 
15.Bezahlt wurde der Transport von dem russischen Unternehmer und Philanthropen Boris Simin 
 
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