Autoritär und dennoch stabil? In Teilen der Autoritarismusforschung gab es lange eine Art Grundsatz, dass die Stabilität einer politischen Herrschaft ihre demokratische Legitimität voraussetzt. Tatsächlich muss Legitimität allerdings nicht immer demokratisch begründet sein: Schon der Soziologe Max Weber schrieb, dass die politische Herrschaft auch vom Legitimitätsglauben abhängt, also dem Glauben an die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsbeziehungen.
Bei der Frage, wie man Menschen zu einem solchen Glauben bringen kann, nennt die Autoritarismusforschung viele Beispiele: Etablierung von Feindbildern etwa, Betreiben von Personenkult, oder generell Propaganda. Auch die gezielte Steuerung von Diskursen, das Stiften von Symbolen, Sinnangeboten oder Ideologien gehört demnach zum Arsenal autoritärer Technologien zur Herstellung von Legitimitätsglauben.
Was aber, wenn all das weitgehend wegfällt und nur noch Repressionen bleiben? Diese Frage – und Diagnose – stellt die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja kurz vor der Dumawahl im September auf Republic.
Putin beim Besuch des Internationalen Luft- und Raumfahrtsalons MAKS-2021 / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0
2015, als das Land auf die anstehende Dumawahl vorbereitet wurde, hatte Wjatscheslaw Wolodin, der damalige innenpolitische Chefstratege, drei Prioritäten für den Wahlkampf genannt: Legitimität, Transparenz und Wettbewerbscharakter. Der Kreml hatte dazu aufgerufen, die Konkurrenz nicht „in den Würgegriff zu nehmen“, und zu Deals der Partei der Macht [Einiges Russland – dek] mit der Systemopposition ermuntert. Von all so etwas kann heute keine Rede sein: Die Vorbereitung auf die Wahlen läuft mechanisch. Niemand befasst sich mit der Suche nach Sinnangeboten. Legitimität scheint voreingestellt, selbstverständlich, ja automatisch gegeben. Intransparenz ist niemandem peinlich, und der gesteuerte Wettbewerb mit der Systemopposition steht unter dem Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.
Es sind die ersten Wahlen, bei denen sich die Frage der Legitimität für die Präsidialadministration eigentlich nicht stellt. Man ist dort vielmehr überzeugt, das gewünschte Resultat ohne sonderliches Aufsehen und Kampagnengetöse erzielen zu können.
Legitimität der neuen Art
Im Grunde ist die Krim an allem schuld. Just nach dem Angliederung der Halbinsel hat die russische Staatsmacht – und in vielerlei Hinsicht auch Putin persönlich – ein neues Verständnis für ihre Legitimität entwickelt.
Hier sei – etwas vereinfacht – an die Typologie legitimer Herrschaft bei Max Weber erinnert: die traditionelle Herrschaft basiert auf Vertrauen in die Monarchie, die rational-legale Herrschaft auf Vertrauen in demokratische Prozesse und Gesetze und die charismatische Herrschaft auf Vertrauen in einen autoritären Führer.
Während der ersten beiden Amtszeiten Putins basierte die Legitimität des Regimes auf einer Mischung aus rational-legalem und charismatischem Herrschaftstyp. Damals gründete das neue System mit seiner machtvollen Vertikale auf der charismatischen Legitimität Wladimir Putins. Dieses neue System bestand darin, die reale Opposition vorsichtig (nach heutigen Maßstäben sanft) hinauszudrängen in den außersystemischen Bereich, die Gouverneure ihrer Autonomie zu berauben und die Oligarchen politisch zu kastrieren. Der Präsident erlaubte sich zudem ein begleitendes juristisches „Tuning“ der gesamten Parteien- und Wahlgesetzgebung, der Beziehungen zwischen den verschiedenen Haushaltsbereichen sowie der Regeln für öffentliches, politisches Engagement.
Generalüberholung des Regimes
Bis 2020 waren die Möglichkeiten dieses Tunings dann allerdings ausgeschöpft: Anstelle des ständigen Nachbesserns erfolgte nun eine Generalüberholung. Das „Putinsche Regime“ wurde „verfassungsmäßig“ verankert. Und zwar sowohl im Gesetzestext (der dem Präsidenten große Machtbefugnisse verleiht, der die Gewaltenteilung verschwimmen lässt und der traditionelle Werte gesetzlich festschreibt) als auch im Geiste: Nawalny wurde vergiftet und dann ins Gefängnis geworfen, die außersystemische Opposition ist zerschlagen und die unabhängigen Medien werden mundtot gemacht.
Meritokratische Legitimität
2020 wurde zum Jahr der verfassungsrechtlichen Neuaufstellung des Post-Krim-Russland, in dem sich Legitimität nicht mehr aus dem Vertrauen der Gesellschaft speist, sondern aus dem, was Putin persönlich als seine historischen Verdienste erachtet. Das könnte man als neuen Typus von Legitimität bezeichnen, als meritokratische Legitimität: Das Vertrauen der Menschen in die Staatsmacht verliert dabei seinen objektiven Wert, es wird zu etwas rein Subjektivem, zu einem Spiegelbild dessen, wie sich das Volk in der Vorstellung der Staatsmacht selbstverständlich zu verhalten hat. Es erfolgt eine Art „Selbstheroisierung“ des Leaders, für den das Vertrauen in ihn nurmehr ein Begleiteffekt seiner exklusiven Verdienste ist – und die Krim war da nur der Anfang. Nach der Krim folgten weitere für Putin bedeutende Verdienste wie der Feldzug in Syrien (und überhaupt die Außenpolitik im Nahen Osten), die Modernisierung der Armee und neue Waffensysteme, die geänderte Verfassung und sogar der Impfstoff Sputnik V.
Durch die Selbstheroisierung ergibt sich eine Verantwortung nicht gegenüber dem Volk, sondern vor der Geschichte
Durch die Selbstheroisierung und das Messiastum ergibt sich eine Verantwortung nicht gegenüber dem Volk, sondern vor der Geschichte. Und durch seine Verdienste sieht der Präsident die Möglichkeit, jedwede unpopuläre Entscheidung zu rechtfertigen und gesellschaftliche Stimmungen als politisch unreif und kurzsichtig zu missachten. Ist es etwa Zufall, dass Putin praktisch aufgehört hat, strategische, für das Land wichtige Entscheidungen öffentlich zu erörtern (nicht nur in der Außenpolitik, sondern auch im sozialen und wirtschaftlichen Bereich)? Das, was ihm wichtig erscheint, wird von ihm im Spezialeinsatz erledigt. Alles andere wird der entpolitisierten Regierung überlassen. Putin kommuniziert mit der Bevölkerung und mit Journalisten nicht mal wie mit Jugendlichen, sondern eher auf Kindergarten-Niveau („Was man sagt, das ist man selber“ beziehungsweise die Vergleiche mit Shir Khan und dem Schakal Tabaqui aus dem Dschungelbuch).
Die Krim-Euphorie als psychologische Falle
Das Problem ist, dass die Putinsche meritokratische Legitimität ab einem bestimmten Punkt ein Eigenleben entwickelte und die legale beziehungsweise charismatische Legitimität, die mit ihr vereinbar ist und sie ergänzte, begann zusammen mit dem schwindenden Post-Krim-Konsolidierungseffekt dahinzuwelken. Kurz gesagt: Das Volk hat von der Krim-Euphorie wieder auf seine gewohnten sozialen und wirtschaftlichen Probleme umgeschaltet (und wünschte sich dasselbe auch von den Machthabern), während Putin in der psychologischen Falle der Jahre 2014 bis 2016 feststeckt, verhaftet in der Krim-Euphorie und berauscht vom Konzert in Palmyra.
Der erste heftige Störfall war die Rentenreform [2018], die die Zustimmungswerte für das Regime um 15 Prozentpunkte abstürzen ließ. Eine Erhöhung des Rentenalters ist in jedem Land der Welt eine unpopuläre Maßnahme, doch hier ging es darum, wie sie umgesetzt wurde. Sie kam aus heiterem Himmel, noch dazu kurz nach der Präsidentschaftswahl, so dass sich die Menschen doppelt betrogen fühlen mussten – eine direkte Folge des Widerspruchs zwischen den beiden Legitimitäten. In diesem Zusammenhang frappierend war Putins Auftritt im August 2018, als er sich in Verteidigung der Rentenreform persönlich an die Bevölkerung wandte und es so klang, als ginge es darum, die Schulden für die Krim, für gesellschaftlichen Wohlstand und wirtschaftliche Stabilität einzutreiben.
Zustimmungswerte, Erkennbarkeit, Sympathien und gesellschaftliche Prioritäten – all dies verliert Schritt für Schritt an Bedeutung
Putin scherte sich dabei nicht im Geringsten um den Schaden für seine Zustimmungswerte – schließlich hängen Verdienste nicht von Zustimmungswerten ab! – und sprach damals zur Bevölkerung wie zu lebenslangen Schuldnern, die es in ihrem Leben nicht schaffen würden, ihre Schuld für die großartigen historischen Errungenschaften Putins zu begleichen. Es wurde erwartet, dass die Rentenreform als alternativlos akzeptiert würde. Hier sammelte das Regime erste Erfahrungen damit, seine Entscheidungen einfach durchzudrücken, da es das eigene Vorgehen als „selbstverständlich legitim“ auffasste. Überhaupt wurde Legitimität nun als etwas verstanden, das automatisch funktioniert, das systemimmanent ist, als ein stabiler und integraler Bestandteil. Als eine Art politische Konstante und natürliche Komponente des Putinschen Regimes nach der Annexion der Krim.
„Wählbarkeit“, Zustimmungswerte, Erkennbarkeit, Sympathien und gesellschaftliche Prioritäten – all dies verliert für das Wahlprogramm der Machthaber Schritt für Schritt an Bedeutung. Jüngstes Beispiel sind die Spitzenkandidaten auf der Parteiliste von Einiges Russland bei der Dumawahl: Lawrow und Schoigu – Außenpolitik beziehungsweise Verteidigung sind Symbole für die persönlichen Errungenschaften Putins. Für die Gesellschaft jedoch rangieren geopolitische Themen auf der Prioritätenliste derzeit ganz unten (ganz oben stehen Inflation und Armut).
Das System erblindet
So erodiert die legal-rationale und charismatische Legitimität in schnellen Schritten, während die meritokratische Legitimität Putins einen immer dominanteren Ausdruck findet. Die Bevölkerung ist niedergeschlagen und versinkt in politischer Depression. Im öffentlichen Raum verdrängen hurrapatriotische Huldigungen an das Regime und die Logik einer „belagerten Festung“ die negative sozialökonomische Realität, wobei das Gefühl eines drohenden Krieges permanent genährt wird. Die Verärgerung gegenüber der Partei der Macht wächst. In Reaktion darauf muss der Kreml immer neue Stützen und Mechanismen finden, um die jetzige „selbstverständliche“ Legitimität in den Autopilot-Modus zu überführen.
Im Laufe eines Jahres wurde in dieser Richtung viel getan: Die echte Opposition wurde vollständig vernichtet (das Instrumentarium ist dabei unglaublich breit gefächert: „ausländische Agenten“, Extremisten, unerwünschte Organisationen oder einfach Verbrecher); es gibt strenge Hürden für „falsche“ Kandidaten bei der Wahl; denn für den politischen Raum gilt das Prinzip: „Was nicht von der Präsidialadministration genehmigt wurde, ist verboten“; und die Medien wurden gesäubert.
An die Stelle zaghafter Regenerierungsversuche sind Versuche zur Mumifizierung des Systems getreten
Praktisch die gesamte Systemopposition, außer der Kommunistischen Partei, steht unter dem Einfluss und der Kontrolle durch die „Kuratoren“ der Innenpolitik. Ideen für eine gemäßigte Modernisierung von Einiges Russland wurden wieder verworfen. Ernsthafte Spielereien mit neuen Parteiprojekten sind beendet. Putin gefällt alles so, wie es ist: Es gibt eine starke Machtpartei [Einiges Russland – dek] und eine konstruktive parlamentarische Opposition. Selbst handgesteuerte neue, synthetische Parteiprojekte wie die Neuen Menschen erscheinen dem Präsidenten da nur als überflüssige Ansammlungen mit trüber Perspektive. An die Stelle zaghafter Regenerierungsversuche sind Versuche zur Mumifizierung des Systems getreten, so dass das lebende Sterbliche zum ewig Toten wird.
Die selbstverständliche Legitimität geht über in den Autopilot-Modus: Das Regime reproduziert sich automatisch selbst, ohne Beteiligung der Gesellschaft oder komplizierte Sinnkonstruktionen. Eine Stimmabgabe für die Systemopposition ist gleichbedeutend mit einer Stimme für Putins Regime. Und jeder Versuch, das Vorgehen des Regimes in Zweifel zu ziehen, bringt „das Boot ins Wanken“ und wird zu einer „Gefahr für die nationale Sicherheit“.
Im Autopilot-Modus
Die gesamte Innenpolitik besteht aus zwei großen Bereichen: Der erste – eine Art Personalabteilung – ist der Wettbewerb Russlands Führungskräfte von der Organisation Russland – Land der Möglichkeiten, über den die „richtigen“, „technokratischen“ Kandidaten rekrutiert, die Spielregeln für alles Systemrelevante festgelegt sowie Wort und Tat penibel und bis ins Detail reglementiert werden.
Der zweite Bereich sind die politischen Sicherheitsorgane, die nicht nur das außersystemische Feld vollständig beherrschen, sondern auch jedwede gegen das Regime gerichtete Aktivität unterbinden sollen: sei es eine Beteiligung an Protestaktionen oder das Reposten politisch inkorrekter Inhalte in den sozialen Medien.
In dieser Situation der immer stärkeren Kontrolle spielen weder Zustimmungswerte noch der gesellschaftliche Unmut irgendeine Rolle, weder Parteipräferenzen noch die Wahlbeteiligung oder die Proteststimmung – sondern Putin braucht schlicht einen lautlosen Urnengang, ein überzeugendes Ergebnis, ein sauberes Prozedere. Live-Übertragungen aus den Wahllokalen wird es diesmal nicht geben, und zwar nicht, weil dort geschummelt wird (die größten Wahlfälschungen erfolgen schließlich jenseits des überwachbaren Bereichs), sondern um einen Aufschrei zu verhindern. Das größte Problem dieser selbstverständlichen Legitimität im Autopilot-Modus besteht darin, dass sie das System absolut blind und gefühlstaub dafür macht, wie sehr ihm die Gesellschaft tatsächlich überhaupt noch vertraut. Und das ist nicht mehr bloß ein Autopilot, sondern ein unbemannter Hochgeschwindigkeitstrip in eine ungewisse Richtung.