„Es scheint nur so, als hätten wir eine Wahl“, zitiert Wladislaw Surkow, ja, wen eigentlich? Rund ein Jahr nach seinem kontroversen Artikel 100 Jahre geopolitische Einsamkeit hat der angebliche „Chefideologe“ des Kreml, einen neuen verfasst. Am Montag erschien sein Text Dolgoe gosurdastwo Putina (Der langwährende Staat Putins) in der Nesawissimaja Gaseta sowie in anderen russischen Medien. Kaum eine der unabhängigen Stimmen Russlands hat es seitdem versäumt, den Artikel zu kommentieren.
Ist es ein Manifest, das ein i-Tüpfelchen auf das angeblich von ihm erdachte Programm zur Sakralisierung Putins setzt? Oder eine Antwort auf die zunehmenden Abgesänge auf das Regime? Ist es ein Sinnangebot? Oder hat er den Text nur für Putin geschrieben?
Diese und andere Fragen beschäftigen gerade vor allem die unabhängigen Medien. In den staatsnahen kann man dagegen kaum etwas zu Surkows Artikel finden. Kremlsprecher Dimitri Peskow sagte jedenfalls, dass Putin über den Text informiert worden sei. Dass der Staatschef aber darauf reagiert, das bezweifelt Peskow – der Präsident arbeite gerade nämlich an seiner alljährlichen Botschaft an die Föderationsversammlung am 20. Februar.
dekoder hat bislang leider keine Abdruckerlaubnis für den Gesamttext bekommen. So bringen wir kontextualisierte Ausschnitte aus dem Text (Übersetzung: Anselm Bühling) und aus der Debatte russischer Liberaler.
Die Illusion der Wahl ist die wichtigste aller Illusionen. Sie ist der Paradetrick der westlichen Lebensart im Allgemeinen und der westlichen Demokratie im Besonderen [...].
«Это только кажется, что выбор у нас есть». Поразительные по глубине и дерзости слова. Сказанные полтора десятилетия назад, сегодня они забыты и не цитируются. Но по законам психологии то, что нами забыто, влияет на нас гораздо сильнее того, что мы помним. И слова эти, выйдя далеко за пределы контекста, в котором прозвучали, стали в итоге первой аксиомой новой российской государственности, на которой выстроены все теории и практики актуальной политики.
Иллюзия выбора является важнейшей из иллюзий, коронным трюком западного образа жизни вообще и западной демократии в частности, [...].
So beginnt Surkows Text Der langwährende Staat Putins, der am 11. Februar in der Nesawissimaja Gaseta erschienen ist. Die Frage, woher der Ausspruch „Es scheint nur so als hätten wir eine Wahl” stammt, wurde anschließend vielfach diskutiert. Es sei ein Zitat aus dem Buch Schwarze Stadt des russischen Schriftstellers Boris Akunin, sagt eine Theorie, eine andere wiederum ist, dass Surkow es einfach erfunden habe. Doshd-Journalist Michael Fischman bringt es in Verbindung mit der Rede Putins nach dem Terroranschlag von Beslan 2004. Wladislaw Surkow soll sie geschrieben haben, vielerorts gilt sie als ein Startschuss der autoritären Konsolidierung Russlands.
Darin sagt Putin: „Es scheint so, als hätten wir eine Wahl: entweder wir stellen uns [den Terroristen – dek] entgegen oder wir erfüllen ihre Ansprüche. Wir ergeben uns und lassen es zu, Russland zu zerstören und zu ,zerfleddern', in der Hoffnung, dass sie uns letztendlich in Ruhe lassen.“
Nach dieser Rede, so Fishman, habe Putin die Gouverneurswahlen ad acta gelegt und angefangen, ein personalisiertes Regime aufzubauen.
Auf sie könnte Surkow also zu Beginn seines Textes Bezug genommen haben. Die „Illusion der Wahl”, so führt er in der Nesawissimaja weiter aus, habe Russland abgelegt:
Den Umstand, dass westliche Demokratien die Vorbestimmung ablehnen, versteht Surkow als eine Art Verstoß gegen die Logiken und Gesetzmäßigkeiten der Geschichte. Der russische Staat unter Putin habe demgegenüber den „anti-historischen Zerfall Russlands“ gestoppt und den einzig wahren historischen Weg erwählt – den vorbestimmten.
Solche teleologischen Vorstellungen entnimmt der Autor der Historiosophie. Diese Geschichtstheorie gehört für manche Historiker zu populärsten Formen der Geschichtsschreibung in Russland. Da die Historiosophie die Geschichte als ganzheitlich und unverbrüchlich versteht, werfen ihr Kritiker jedoch fehlende Wissenschaftlichkeit vor, sehen in ihr einen „Gegenstand des Glaubens“ und nicht der „kritischen Analyse“.
Eben an dieser Stelle wurde Surkow auch in der Debatte unter russischen Liberalen mehrfach kritisiert:
Novaya Gazeta: Mit dem Verstand nicht zu begreifen
„Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“, so ungefähr kommentiert der Politikredakteur der unabhängigen Novaya Gazeta, Kirill Martynow, Surkows Traktat:
Zweitens gibt es keine Methode, mit der eine derartige Historiosophie bestätigt oder entkräftet werden kann – man kann sie nur mit dem Herzen begreifen.
erschienen am 12.2.2019, Original
Für Surkow dagegen ist der russische Staat unter Putin ein „auf organische Weise entstandenes politisches Organisationsmodell, [das …]
Während manche Kritiker spotteten, weshalb Surkow nicht gleich vom „Tausendjährigen Reich“ spreche, betrachtet Politikwissenschaftler Grigori Golossow die Ausführungen Surkows distanzierter.
Facebook/Grigori Golossow: Gefundenes Fressen
Es sei irreführend, Surkows Thesen in die Nähe des Faschismus zu rücken, schreibt Golossow auf Facebook. Außerdem sei es zu viel der Ehre, wenn man seine Gedanken gar als „russische Ideologie” auffasse.
erschienen am 11.2.2019, Original
Mit seiner Kritik an der wissenschaftlichen Belastbarkeit bezieht sich Golossow vermutlich auch auf Passagen wie folgende: In der russischen Geschichte, so Surkow, habe es insgesamt vier Grundmodelle des Staates gegeben [...]
Dies sind große politische Maschinen, die, um es mit Gumiljow zu sagen, von Menschen des langen Willens erschaffen wurden. Sie haben einander abgelöst, wurden dabei immer wieder repariert und adaptiert und haben die russische Welt über die Jahrhunderte auf einen Weg gebracht, der unbeirrbar aufwärts führt.
Neben heilsgeschichtlichen Versatzstücken bemüht der Autor hier das sogenannte Ethnogenese-Konzept des russischen Philosophen Lew Gumiljow (1912–1992). Es gilt als einer der Vorläufer des gegenwärtigen Neo-Eurasismus, dessen bekanntester Vertreter Alexander Dugin ist.
Das „stereotype Verhalten“ einer Ethnie sieht Gumiljow als „empfindungs-abhängig“ von vorherrschenden klimatisch-geographischen Faktoren. Die daraus bezogene „biochemische Energie“ sei für die Integration einer Ethnie entscheidend und dieser Integrationsprozess durch eine „kosmische Strahlung“ beeinflusst. Wenn Menschen in der Lage sind, mehr von dieser Strahlung aufzunehmen als für sie nötig ist, dann könnten sie dieses Übermaß an ihre Umwelt weitergeben. Solche Menschen sind für Gumiljow Menschen langen Willens beziehungsweise Passionare.
Facebook/Grigori Judin: Immer aus der gleichen Mottenkiste
An solchen Passagen entzündete sich die Kritik mehrfach. Soziologe Grigori Judin etwa konstatiert auf Facebook, dass die ideologischen Versatzstücke, derer sich Surkow bedient, immer derselben Mottenkiste entsprängen:
Alle offiziellen Ideologen sind mittlerweile vollkommen voraussag- und berechenbar. Alle Schritte sind im Voraus bekannt, sie sind durchschaubar, und es ist völlig klar, wie so eine Art von Ideologie funktioniert.
Вообще официальные идеологи стали полностью предсказуемы и легко просчитываемы - все шаги заранее известны, все швы видны, и хорошо понятно, как эта идеология работает.
erschienen am 11.2.2019, Original
Als würde Surkow einer solchen Kritik der Rückwärtsgewandtheit vorgreifen, erklärt er, dass Putinismus eine Ideologie der Zukunft sei:
Snob: ***
Viele Beobachter sehen in Surkows Text den Versuch eines Manifests, das nur dazu da sei, den wahren Messias zu preisen. Der Journalist Ilja Milstein fragt auf Snob, wie ein solch exaltiertes Loblied mit der Realität in Einklang gebracht werden kann:
Was kann man da sagen, wie kommentieren? Dazu kann man gar nichts sagen, außer die höchst leidenschaftlichen russischen Worte, die man nicht drucken darf.
erschienen am 12.2.2019, Original
Surkow sieht das politische System Russlands dabei auch als ein Modell für andere Staaten:
Desweiteren geht er auch auf den Vorwurf ein, Russland habe sich in Wahlen eingemischt – und setzt diesem sogar noch eins drauf:
Solche Kritik am Westen ist bei Surkow nicht neu. Bereits im November 2017 veröffentlichte er einen Artikel mit dem Titel Die Krise der Heuchelei – I hear America singing. Nach dem Zusammenbruch von Sinn-Konstruktionen im Westen, so hieß es darin, seien „soziale Energien“ freigeworden. Und es sei fraglich, ob es den westlichen Regierungen gelingen werde, diesen Werteverfall durch Sport-Shows, Konzerte oder andere Unterhaltungen zu kompensieren. Falls nicht, so prognostizierte Surkow 2017, münde das westliche System in Revolution und großen Krieg.
Auch in seinem neuen Text schreibt der Autor über „soziale Energien“ – die Menschen im Westen dürsteten förmlich nach Propheten wie Putin, ihre Regierungen setzten ihnen stattdessen aber den „tiefen Staat“ vor – eine Art Staat im Staate, der wider seiner demokratischen Verfassung Machenschaften triebe und Trugbilder oktroyiere:
Russland sei demgegenüber „ehrlicher“, es gebe hier keinen „tiefen Staat“. Dagegen lebe in Russland ein „tiefes Volk“, und dieses sei aufs engste mit dem obersten Regenten verbunden. Die Beziehung zwischen beiden regeln demnach nicht demokratische Institutionen, die eher einem Ritual glichen und allein der Außenwirkung dienten, sondern sie basiert laut Surkow auf dem Vertrauen, das das Volk diesem Regenten entgegenbringt. Darin sei das russische Modell dem westlichen schließlich auch überlegen:
Rosbalt: Nun sei bitteschön glücklich!
Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin meint auf Rosbalt, das „tiefe Volk“, von dem Surkow philosophiert, sei ein Volk hinter Gittern:
Genau diese Weltsicht vermittelt uns Surkows Philosophie. Eine Philosophie der Angst vor dem Leben. Eine Philosophie der absoluten Zerrüttung. Die Philosophie vom [Volk als einem – dek] Tier im Käfig, das schon dankbar ist, wenn man es wenigstens noch gelegentlich füttert.
Именно такое мировоззрение предлагает нам философия Суркова. Философия страха перед жизнью. Философия полной деградации. Философия зверя в клетке, благодарного уже за то, что его еще хотя бы изредка кормят.
erschienen am 11.2.2019, Original
Dabei hat Surkow dieses Programm schon in seinen früheren Schriften angerissen: In seinem Schlüsseltext Russische politische Kultur aus dem Jahr 2007 schlug er vor, den Holismus (Ganzheit) des russischen politischen Bewusstseins als ein Axiom zu betrachten. Daraus leitete er ab, dass die russische politische Kultur anhand dreier Kriterien zu definieren sei: „Streben zur politischen Ganzheit mittels Zentralisierung von Macht-Funktionen“, „Idealisierung der Ziele von politischen Kämpfen“ und „Personifizierung von politischen Institutionen“.
So etwas wie der Kitt dieser Ganzheit, so führt er nun aus, sei das „Vertrauen“:
Facebook/Alexander Morosow: Gibts noch mehr Ideen?
Ist Surkows Text tatsächlich ein Manifest? Steckt dahinter eine Ideologie des Systems Putin? Diese Frage sei noch nicht zu beantworten, meint Alexander Morosow auf Facebook:
erschienen am 12.2.2019, Original
Vedomosti: Gibt es noch was Leckeres zu essen?
Andrej Kolesnikow, politischer Analyst beim Carnegie-Zentrum Moskau, zeigt sich von Surkows Thesen gänzlich unbeeindruckt. Er witzelt auf Vedomosti, wie unbeholfen die Machthaber ständig nach neuen (Sinn-)Angeboten für das Volk suchten:
erschienen am 12.2.2019, Original
Übersetzung Surkow: Anselm Bühling
Kontextualisierung und Übersetzung der Debatten-Ausschnitte: dekoder-Redaktion