Nicht in Brüssel, sondern in Riga – also deutlich näher an Moskau und Minsk gelegen – kommen heute die NATO-Außenminister für ein zweitägiges Treffen zusammen. Seit Wochen berichtet das Bündnis über einen verstärkten russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine. Auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba wird als Gast bei dem Treffen dabei sein.
Die Beziehungen zwischen Russland und der NATO liegen auf Eis, Russland hat im November die Arbeit seiner Vertretung in Brüssel komplett eingestellt. Damit gibt es keine Gesprächskanäle mehr. So beschäftigt die russische Truppenkonzentration nahe der Ukraine auch internationale Beobachter: Alles nur Säbelrasseln? Oder droht ein Szenario wie 2014, als „grüne Männchen“ auf die Krim einmarschierten und Russland die Halbinsel schließlich angliederte?
Es gebe allen Grund zur Sorge, meint etwa die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja auf Telegram. Die Ukraine sei für Russland ein wichtiger Schauplatz in der Auseinandersetzung mit dem Westen. Auch ohne „Provokationen“ von ukrainischer Seite gebe es die Bereitschaft, „die Welt zu erschüttern“, und damit über den Status quo zu siegen, der seit den Minsker Protokollen von 2015 vorherrscht.
Dimitri Trenin sieht auf Carnegie.ru im Vorgehen Russlands dagegen eine Art Abschreckung nach (gegenseitigen) Provokationen. Deren Erfolg hänge davon ab, „wie plausibel die Bedrohung wahrgenommen wird“.
Ähnlich argumentiert Julia Latynina in der Novaya Gazeta: Es werde keinen Krieg gegen die Ukraine geben – weil es dem Kreml dabei vor allem um die Aufmerksamkeit der USA gehe.
Die Nachrichtenplattform Bloomberg veröffentlichte letzte Woche einen Plan Russlands über eine mögliche Invasion in der Ukraine. Der US-Geheimdienst hatte ihn seinen europäischen Bündnispartnern übermittelt.
An der Invasion sollen 100 Bataillons- und Kampfgruppen mit 100.000 Mann teilnehmen, von denen die Hälfte „bereits Stellung bezogen“ habe. Der Schlag solle von drei Seiten aus geführt werden: vom russischen Festland, von der Krim und von Belarus. Als voraussichtlicher Zeitpunkt der Invasion wird Anfang nächsten Jahres genannt. „Amerika sagt damit nicht, ein Krieg sei unvermeidlich, oder auch nur, man wisse mit Sicherheit, dass Putin wirklich angreifen wolle. Vielmehr heißt es, er sei wahrscheinlich noch unentschlossen, was er tun werde“, schreibt Bloomberg.
Die aktuelle militärische Aufrüstung an der ukrainischen Grenze ist schon die zweite Geschichte dieser Art innerhalb kurzer Zeit. Die erste, im Sommer 2021, handelte ebenfalls von Truppenverschiebungen und endete mit einem Treffen zwischen Biden und Putin.
Die jetzige steht im Kontext bedenklich sinkender Umfragewerte der russischen Regierung, der totalen Vernichtung der Opposition sowie einer Krise an der polnisch-belarussischen Grenze, im Zuge derer Lukaschenko Warschau mit einer Unterbrechung der Gaslieferungen drohte und seine Propagandisten russische Kampfflugzeuge in Aussicht stellten.
Und jetzt folgt mein Erklärungsversuch, warum eine solche Invasion gar nicht möglich ist.
Erstens: Der Kreml hat bisher nie richtige Kriege geführt, sondern nur hybride
Erstens: Der Kreml hat bisher nie richtige Kriege geführt, sondern nur hybride. Ein richtiger Krieg wird geführt, um zu siegen. In einem solchen Krieg ist der Abgleich mit der Realität sehr wichtig, und wenn man da zu lügen beginnt, kann man, wie der japanische Admiral Yamamoto einmal sagte, „den Krieg schon als verloren betrachten“.
Ein hybrider Krieg wird nicht geführt, um zu siegen, sondern um ein Bild zu erzeugen. Dabei ist die Lüge eines der wichtigsten Werkzeuge.
In einem richtigen Krieg wird alles daran gesetzt, die Verluste des Feindes zu maximieren.
Bei einem hybriden Krieg geht es zum Teil auch darum, Informationen über angebliche Verluste in den eigenen Reihen zu maximieren. Manchmal wird ein hybrider Krieg nur geführt, um zu erzählen, wie die israelische Kriegsmaschinerie ein Kind getötet oder ukrainische Faschisten einen Jungen gekreuzigt haben.
Zweitens: Der Kreml hat bisher bei allen Kriegen auf die Möglichkeit der Verleugnung gebaut
Zweitens: Der Kreml hat bisher bei allen Kriegen auf die Möglichkeit der Verleugnung gebaut. „Das ist nicht Russland. Das sind Privatleute.“ So kann man jede Verantwortung für bewaffnete Gar-nicht-Dorts von sich weisen und im Fall militärischer Verluste das Risiko minimieren. Wäre es Marschall Haftar in Libyen gelungen, Tripolis zu erobern, hätten unsere Skabejewas den Sieg auf allen Kanälen in die Welt hinausposaunt. Nachdem aber türkische Bayraktar-Drohnen Haftar und seinen russischen Söldnern den Garaus gemacht hatten, konnte man genauso gut schweigen.
Und schließlich drittens: Alle Kriege des Kreml haben dem Westen immer die Option gelassen, neutral zu bleiben
Und schließlich drittens: Alle Kriege des Kreml haben dem Westen immer die Option gelassen, neutral zu bleiben und keine unumkehrbaren Entscheidungen zu treffen. „Das ist alles kompliziert dort. Ein innerukrainischer Konflikt. Das sind Freiwillige“, und so weiter. Solche Spielräume, die dem Westen erlauben, sein Gesicht zu wahren und dabei untätig zu bleiben, waren immer fixer Bestandteil der Kriegsstrategie des Kreml.
Eigentlich gehört alles Obengenannte zu den Merkmalen eines hybriden Kriegs – eines Kriegs, in dem es nicht um den Sieg geht, sondern ums Lügen und Schädigen – der Feind soll geschädigt und das eigene Volk belogen werden. Der ideale Krieg war für den Kreml immer ein computergeneriertes Bild, auf dem Russland Raketen auf Florida feuert.
Trotz solcher Bilder und des Versprechens, die USA „zu Atomstaub“ zu pulverisieren, hat der Kreml jeden echten Krieg immer tunlichst vermieden.
Als die USA im Februar 2018 bei Deir ez-Zor eine Kolonne mit russischen Söldnern bombardierten, hat der Kreml nicht nur nicht reagiert, sondern einfach so getan, als wäre das gar nicht passiert.
Als die Amerikaner im selben Jahr die syrische Infrastruktur in die Luft sprengten, verkündete Russland zwar lautstark, es werde keine US-Aggressionen dulden, verhielt sich aber dann fein artig hybrid: Man präsentierte im Fernsehen einen Haufen erdichteter Vergeltungsschläge und versuchte, diesen unangenehmen Zwischenfall, der die absolute Überlegenheit der US-Raketen vor Augen führte, alsbald zu vergessen.
Anders gesagt, jedes Mal, wenn das Gespenst eines richtigen Kriegs durch den Kreml spukt, in dem man nicht mehr mit Fernsehbildern von gekreuzigten Kindern und abgeschossenen Raketen auskommen würde, tut Moskau so, als würde es das alles nichts angehen.
Wahrscheinlich, weil sich der Kreml im Grunde des tatsächlichen Zustands der russischen Kriegstechnik bewusst ist. Er weiß nur zu gut, in welchen Situationen schon von einem „kleinen, siegreichen Krieg“ die Rede war, der dann weder klein noch siegreich war.
Es liegt auf der Hand, dass eine Invasion in der Ukraine von drei Seiten mit Luftstreitkräften und 100.000 Mann starken Truppen, wie in dem Plan formuliert, nicht unter die Definition eines hybriden Kriegs fällt. Und sich gegen eine solche Invasion zu verteidigen, wäre für die Ukraine nicht schwerer, sondern leichter.
Die Verteidigung gegen eine solche Invasion wäre für die Ukraine nicht schwerer, sondern leichter
Die ganze Stärke von Noworossija bestand darin, dass prorussische Kämpfer sich als „unterdrückte Lokalbevölkerung“ ausgaben und hinter Zivilisten verschanzten. Unter solchen Bedingungen traf jeder Schuss auf einen Kämpfer wirklich die Zivilbevölkerung, und der Westen konnte vor diesem komplexen Problem erleichtert die Augen verschließen. Die Invasion einer 100.000 Mann starken Armee böte diese Chance nicht.
Eine solche Invasion zu legitimieren, nachdem man auf russischem Territorium eine „rechtmäßige Regierung Janukowitsch“ eingesetzt und in deren Namen um Hilfe gebeten hat, wird unmöglich sein. Auf diese Weise eroberte Gebiete könnte man nicht legal an Russland angliedern. Die Auswirkungen eines solchen Krieges auf die Gesellschaft wären katastrophal. Krim nasch war ja genau deshalb so populär, weil es keine Toten gab. 100.000 Rekruten, die man Bayraktar-Drohnen und unbemannten US-Kampfflugzeugen zum Fraß vorwirft, blieben wohl kaum vollzählig unversehrt.
„Das tiefe Volk“ würde wie im Afghanistan-Krieg vor den Todesnachrichten und die Elite vor den Sanktionen des Westens erschaudern, die den Wert ihrer Beute mindern.
Aber das zentrale, das fundamentale Problem ist: Dies wäre ein echter Krieg und das heißt, man kann ihn verlieren. Einen hybriden Krieg kann man prinzipiell nicht verlieren. Wenn es mit Noworossija klappt – wunderbar. Werden es nur die Volksrepubliken Donezk und Luhansk – was soll’s, stopfen wir dieses Krebsgeschwür eben zurück in den Leib der Ukraine, auch gut. Mit anderen Worten, alles, was passiert, ist ein Bluffen. Es ist immer noch derselbe hybride Krieg. Eine Nötigung zum Dialog. Eine Reaktion auf die Sanktionen. Eine Reaktion auf das Vorhaben, künftig auf russisches Öl und Gas zu verzichten. Auf den Vertrag zwischen den USA und der Ukraine. Auf die Weigerung der Ukraine, die Volksrepubliken Donezk und Luhansk zu den Bedingungen des Kreml zu akzeptieren. Und es ist eine Reaktion auf die sinkenden Umfragewerte und auf den gescheiterten Versuch, Europa mithilfe Lukaschenkos zu erpressen.
Die USA und Europa haben zwei Möglichkeiten, auf diesen Bluff zu reagieren. Sie können sich einschüchtern lassen und „einen Dialog beginnen“. Oder sie können klarmachen, dass die Ukraine im Fall eines vom Kreml begonnenen Krieges so viel militärische Unterstützung erhält wie nötig, um einen Sieg Russlands zu verhindern.