Der Brand im Gewerkschaftshaus von Odessa im Mai 2014 war ein Schlüsselereignis: Auf die Euromaidan-Revolution war Russlands Annexion der Krym und die pro-russische Besetzung von Verwaltungsgebäuden im Donbas gefolgt. Dann stand die Frage im Raum, ob weitere Orte im Osten oder Süden der Ukraine folgen würden. In diesem Moment kam es in Odessa zu Auseinandersetzungen zwischen gewaltbereiten Gruppen: Die einen unterstützten den Euromaidan, die anderen formierten den pro-russischen, sogenannten Antimaidan.
Bei Straßenschlachten und einem Brand im Gewerkschaftshaus am 2. Mai 2014 starben insgesamt 48 Menschen. Viele der Opfer waren Vertreter des Antimaidan. Die russische Propaganda nutzte die Tragödie sogleich, um den angeblich faschistischen Charakter der Kyjiwer Regierung zu untermauern.
Fast elf Jahre nach dem Brand hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) am 13. März 2025 sein Urteil zu den Ereignissen gesprochen. Es unterstützt weder die russische Version, noch entlässt es den ukrainischen Staat aus seiner Verantwortung.
Der EGMR befand, dass die ukrainischen Behörden – damals noch die Regierung des bereits nach Russland geflohenen Präsidenten Viktor Janukowytsch – unzureichende Anstrengungen unternommen haben, um während der Ereignisse am 2. Mai 2014 in Odessa für Recht und Ordnung zu sorgen und eine Eskalation zu verhindern. Sie verzögerten die Brandbekämpfung und die Rettung von Menschen aus dem Gewerkschaftshaus und versäumten es im Nachhinein, die Verantwortlichen auf verschiedenen Ebenen zu ermitteln.
Gleichzeitig betonte das Gericht, dass es auch die Interventionen Russlands berücksichtig habe, die die Zusammenstöße zwischen den Protestlagern provozierten und anschließend versuchten, die Tragödie von Odessa als Rechtfertigung für den jahrelangen Krieg im Osten der Ukraine sowie später auch für die vollumfängliche Invasion in die Ukraine zu missbrauchen. Die Urteilsbegründung erwähnte auch jene damals verantwortlichen lokalen Amtsträger, die heute in Russland leben und dort Karriere machen: zum Beispiel den damaligen Leiter des regionalen Katastrophenschutzes, der mittlerweile Vize-Chef der Okkupationsverwaltung im von Russland besetzten Teil der Region Cherson ist.
Einen Tag nach der Veröffentlichung des EGMR-Urteils, am 14. März 2025, ist der damalige Euromaidan-Aktivist, später auch Mitglied des rechtsextremen Prawy Sektor, Demjan Hanul, im Zentrum von Odessa auf offener Straße erschossen worden. Hanul war früher schon angegriffen worden, laut seiner Ehefrau soll er in den Wochen vor seinem Tod erneut „pro-russische Verfolger“ erwähnt haben. Mutmaßlicher Täter ist ein ukrainischer Soldat, der sich unerlaubt seit längerer Zeit von seiner Einheit entfernt hat. Das Verfahren läuft noch, nach ersten Berichten soll er im nicht öffentlichen Prozess seine Schuld eingestanden haben.
Das ukrainische Onlinemedium Graty, das sich seit Jahren auf Gerichtsberichterstattung spezialisiert, hat das EGMR-Gerichtsurteil und seine Begründung untersucht und durch eine detaillierte Chronik der eskalierten Proteste eingeordnet. Es berichtet auch über den Prozess zur Ermordung von Hanul.
Am 2. Mai 2014 starben bei eskalierten Protestaktionen vor und im Gewerkschaftshaus im südukrainischen Odessa 48 Menschen. / Foto © Denis Petrov/ SNA/ Imago
Am 13. März verkündete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sein Urteil in der Rechtssache Wjatscheslawowa und andere gegen die Ukraine. Der Gerichtshof fasste sieben verschiedene Klagen von insgesamt 28 Personen zusammen, die 2016 und 2017 im Zusammenhang mit den Ereignissen des 2. Mai 2014 in Odessa eingereicht wurden. Sie alle betrafen die gewaltsamen Zusammenstöße auf dem Hrezka-Platz und dem Kulykowe-Feld sowie den Brand im Gewerkschaftshaus.
Das Gericht verurteilte die Ukraine zu Entschädigungszahlungen zwischen je 12.000 bis 17.000 Euro an die Kläger.
Bei der Feststellung des Sachverhalts im Zusammenhang mit der Tragödie von Odessa stützte sich der EGMR nicht nur auf die offiziellen ukrainischen Ermittlungen und Gerichtsentscheidungen, sondern insbesondere auch auf die Berichte der UN-Beobachtungsmission, des Büros des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, des ukrainischen Ombudsmanns sowie eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, als auch auf die Ergebnisse der unabhängigen Recherchen durch die Nichtregierungsorganisation Gruppe des 2. Mai und auf Zeugenaussagen der Geschädigten. Von diesen waren drei direkt an den Ereignissen in Odessa beteiligt, die übrigen waren Hinterbliebene, deren Angehörige an jenem Tag unter verschiedenen Umständen ums Leben kamen.
Die Kläger zogen es vor, die politischen Ansichten ihrer Angehörigen nicht zu erwähnen
„Unter den Hinterbliebenen der Opfer, die an diesem Tag starben, befanden sich sowohl Anhänger als auch Gegner des Maidan sowie unbeteiligte Dritte. Die Kläger zogen es oft vor, die politischen Ansichten ihrer Angehörigen nicht zu erwähnen“, schreibt das Gericht in seinem Urteil.
Der EGMR wies in seinem Urteil außerdem auf die Hintergründe und den Kontext der Ereignisse hin: Nach dem Euromaidan und der Flucht von Präsident Viktor Janukowytsch aus der Ukraine im Februar 2014 kam es zu pro-russischen Protesten im Osten und Süden des Landes, oft unter Anwendung von Gewalt. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Annexion der Krym und der Einsatz des Militärs durch Russland sowie die Schaffung der selbsternannten Volksrepubliken „DNR“ und „LNR“ in den ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk und der Beginn der Kampfhandlungen zu nennen.
Chronologie der Konfrontationen
Anfang 2014 bildeten Protestierende in Odessa sogenannte Selbstverteidigungseinheiten: sowohl auf Seiten des Euromaidan als auch des Antimaidan. Letzterer war pro-russisch eingestellt und errichtete im März 2014 eine Zeltstadt auf dem Kulykowe-Feld (vor dem Gewerkschaftshaus – dek). Auf einem großen Bildschirm wurden Nachrichtensendungen des russischen Staatsfernsehens gezeigt und aus Lautsprechern ertönten Lieder über den Großen Vaterländischen Krieg, die zum Kampf gegen den Faschismus aufriefen.
„Wie aus den Videoaufnahmen des Zeltlagers auf dem Kulykowo-Feld und verschiedenen von den Aktivisten organisierten Veranstaltungen hervorgeht, zeigten die Anhänger der Bewegung häufig Flaggen der Russischen Föderation und der ehemaligen Sowjetunion, skandierten oder zeigten Parolen, in denen sie die neue (Kyjiwer – dek) Regierung als 'faschistische Junta' darstellten und ein Referendum und die Föderalisierung der Ukraine in halbautonome Regionen forderten. Einige Menschen zeigten Plakate, auf denen sie ihre Hoffnung auf eine Wiederholung des Krym-Szenarios in Odessa zum Ausdruck brachten und die Russische Föderation dazu aufforderten, auch ihre Stadt aufzunehmen“, so der EGMR in seinem Urteil.
Am 2. März fand in Odessa eine Kundgebung zur Unterstützung der Einheit der Ukraine und gegen die Präsenz russischer Truppen auf der Krym statt, an der 7000 bis 10.000 Menschen teilnahmen. Am nächsten Tag versuchten pro-russische Demonstranten das Regionalparlament von Odessa in einer Dringlichkeitssitzung zu stürmen. Dem Gericht zufolge konnten gewalttätige Zusammenstöße mit proukrainischen Aktivisten vermieden werden, da Ordnungskräfte beide Lager voneinander trennten. Im März und April folgten wöchentlich friedliche Kundgebungen beider Gruppen.
Im April richtete die Regionaldirektion des ukrainischen Innenministeriums in Odessa einen Operationsstab ein, um die Situation in der Stadt zu kontrollieren.
Geheimdienst meldet Regionalbehörden Ende April erhöhtes Gefahrenpotenzial für den 2. Mai
Ende April kündigten Fußballfans von Tschornomorez Odessa und Metalist Charkiw für den 2. Mai vor dem Spiel ihrer Mannschaften eine Demonstration „Für die Einheit der Ukraine“ an. Dies löste heftige Reaktionen bei Antimaidan-Anhängern aus, die in sozialen Medien zum Protest gegen den „Naziaufmarsch“ aufriefen.
Den vom EGMR zitierten Informationen zufolge meldete der SBU dem Leiter der Regionaldirektion des Innenministeriums, Petro Luziuk, am 30. April ein erhöhtes Risiko von Zusammenstößen und Ausschreitungen am 2. Mai. Am selben Tag informierte die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der Hauptdirektion des Innenministeriums den Operationsstab über Pläne „subversiver Gruppen“, die Lage in der Region Odessa während der bevorstehenden Maifeiertage destabilisieren zu wollen. Etwa zur gleichen Zeit berichtete die Abteilung zur Bekämpfung von Cyberkriminalität des Innenministeriums über Posts in Sozialen Netzwerken durch Antimaidan-Anhänger, in denen die Möglichkeit von gewaltsamen Ausschreitungen in Odessa am 2. Mai 2014 erwähnt wurde.
Luziuk und sein Stellvertreter Dmytro Futschedshi ordneten daraufhin an, Pläne zur Gewährleistung von Recht und Ordnung an jenem Tag in der Stadt zu erstellen. Laut Gericht enthielten diese jedoch nur Routinemaßnahmen bei Fußballspielen und berücksichtigten nicht die Warnungen des Geheimdienstes und anderer Strafverfolgungsbehörden.
Am Morgen des 2. Mai waren etwa hundert Polizisten im Stadtzentrum von Odessa und mehr als zweihundert weitere rund um das Stadion im Einsatz.
13:30 Uhr: Antimaidan-Anhänger versammeln sich auf der Olexandriwsky-Allee (mittlerweile Allee der Ukrainischen Helden – dek), etwa 450 Meter vom Treffpunkt der proukrainischen Aktivisten (am Soborna-Platz – dek) entfernt. Sie haben Schilde und Äxte sowie Holz- und Metallstöcke bei sich, einige tragen Schusswaffen. Sie erklären, dass sie einen Überfall auf ihr Zeltlager auf dem Kulykowe-Feld Platz verhindern wollen.
Die Polizei verlegt rund 150 Beamte vom Stadion ins Stadtzentrum, verfügt Berichten zufolge aber über keinerlei Mittel, um sich im Falle einer Eskalation selbst schützen oder einschreiten zu können.
15 Uhr: Antimaidan-Anhänger stürmen das Büro des Vereins Rat für öffentliche Sicherheit, weil sie hier und in einem davor geparkten Wagen angeblich Waffen vermuten, was sich jedoch nicht bestätigt. Einige proukrainische Aktivisten versperren den Zugang zum Gebäude. Als eine Polizeieinheit vor Ort eintrifft, umstellt sie das Gebäude, ergreift aber keine Maßnahmen.
Ein Video der Gruppe des 2. Mai zeigt, wie Polizeibeamte das Gebäude umstellen, in dem sich auch der Verein Rat für öffentliche Sicherheit befand. / Video © Youtube/Gruppa 2 maja
Gegen 15:15 Uhr: Antimaidan-Anhänger setzen sich in Richtung des Marsches „Für die Einheit der Ukraine“ in Bewegung und werden dabei von dreißig Beamten der Streifenpolizei und zehn weiteren Polizisten begleitet. An der Spitze dieser Kolonne gehen neben den Anführern des Antimaidan auch der stellvertretende Leiter der Regionaldirektion des Innenministeriums, Dmytro Futschedshi, sowie der Gruppenführer der Einsatzhundertschaft, Wadym Knyschow.
15:30 Uhr: Zu den ersten Zusammenstößen kommt es in der Nähe des Hrezka-Platzes. Nach vorliegenden Informationen greifen die Antimaidan-Anhänger die proukrainische Demonstration auf dem Weg vom Soborna-Platz zum Tschornomorez-Stadion an. Es werden Schüsse abgegeben und beide Seiten bewerfen sich mit Steinen, Pyrotechnik und Molotow-Cocktails.
Gegen 15:50 Uhr: Der Polizei gelingt es, die beiden Gruppen voneinander zu trennen, wobei sie den Antimaidan-Anhängern den Rücken zukehrt. Die Gruppe des 2. Mai bestätigt später mit Verweis auf Videoaufnahmen, dass einige Polizeibeamte und pro-russische Demonstranten rotes Klebeband am Arm und damit gleiche Erkennungszeichen trugen.
16:10 Uhr: Ihor Iwanow wird das erste Todesopfer der Proteste sein. Der Teilnehmer der proukrainischen Demonstration wird mit einer Schussverletzung im Bauch ins Krankenhaus eingeliefert und verstirbt dort während der Operation.
Ein Video der Gruppe des 2. Mai zeigt, wie Protestierende einen Verletzten, laut Beschreibung Ihor Iwanow, aus der Kampfzone heraustragen. / Video © Youtube/Gruppa 2 maja
Der EGMR wertete Videoaufnahmen aus, auf denen zu sehen ist, wie mit Sturmhauben maskierte pro-russische Aktivisten hinter dem Rücken der untätigen Sicherheitskräfte, auf ihre Gegner schossen. In seiner Urteilsbegründung schreibt der EGMR:
„Laut dem Gutachten eines Sachverständigen für Ballistik der Gruppe des 2. Mai schoss der pro-russische Aktivist, der von der NGO als Herr Budko identifiziert wurde, mit scharfer Munition aus einem Sturmgewehr vom Typ Kalaschnikow (AKS-74U). Der Experte vertritt die Auffassung, dass die tödlichen Verletzungen von Herrn Iwanow durch denselben Waffentyp verursacht wurden.
Wenige Sekunden später wurde einem schwer verletzten Polizeibeamten der Zugang zum Krankenwagen verweigert
Der Sachverständige verwies auch auf im Internet kursierende Videoaufnahmen, denen zufolge Patronenhülsen dieses Modells am Ort der Zusammenstöße gefunden wurden. Die Regierung gab in ihrer Zusammenfassung des Sachverhalts außerdem an, dass ‚Herr B.‘ mehrere Schüsse in Richtung der Maidan-Unterstützer aus einer Waffe abgefeuert hatte, bei der es sich offenbar um ein AKS-74U-Sturmgewehr handelte.
Auf einem anderen veröffentlichten Video ist zu sehen, wie Herr Futschedshi, der eine leichte Verletzung am Arm erlitten hatte, in einen Krankenwagen stieg, in dem Herr Budko saß, der offenbar unverletzt war. Wenige Sekunden später wurde einem schwer verletzten Polizeibeamten, der von zwei weiteren Beamten gestützt wurde, offenbar der Zugang zu diesem Krankenwagen verweigert, der daraufhin wegfuhr.“
Den Berichten zufolge durchbrechen Antimaidan-Anhänger zehn Minuten später die Polizeikette. Etwa zu diesem Zeitpunkt wird Andrii Birjukow, ein weiterer Aktivist des Euromaidan, tödlich verwundet.
Gegen 17:30 Uhr: Pro-ukrainische Demonstranten übernehmen ein Feuerwehrauto, dass sie unter falschem Vorwand ins Stadtzentrum gerufen hatten, um damit die Barrikaden der Antimaidan-Anhänger zu durchbrechen.
Zur selben Zeit werden Schüsse aus einem Jagdgewehr in Richtung der pro-russischen Demonstranten und der Polizeikette abgegeben. Insgesamt sind zu diesem Zeitpunkt bereits sechs Personen aus beiden Lagern getötet und 47 Personen festgenommen worden.
Schlussendlich gewinnen die wütenden pro-ukrainischen Demonstranten allmählich die Oberhand und ziehen zum Zeltlager der Antimaidan-Anhänger auf dem Kulykowe-Feld. Einige der dort Protestierenden beschließen, sich im nahen Gewerkschaftshaus zu verbarrikadieren.
Eskalation am Gewerkschaftshaus
Gegen 19:20 Uhr: Pro-ukrainische Aktivisten erreichen das Kulykowe-Feld und beginnen, die Zelte niederzureißen und anzuzünden. Währenddessen werden sie von Antimaidan-Anhängern vom Dach des Gewerkschaftshauses mit Molotow-Cocktails beworfen. Nach Angaben der Gruppe des 2. Mai wird außerdem vom Dach und aus den Fenstern des Gebäudes auf pro-ukrainische Aktivisten geschossen.
19:30 Uhr: Dem ukrainischen Katastrophenschutz DSNS wird ein Brand gemeldet. Laut dem Mitarbeiter der Leitstelle bestehe jedoch keine unmittelbare Gefahr. Der Leiter der DSNS-Regionaldirektion, Wolodymyr Bodelan, ist vor Ort und weist seine Mitarbeiter an, nicht ohne seine Anweisung zu reagieren.
Bodelan erklärt später bei einer internen Untersuchung, dass er diese Entscheidung „vor dem Hintergrund der Entwendung eines Löschfahrzeugs einige Stunden zuvor und zur Verhinderung eines ähnlichen Szenarios sowie zur Gefahrenvermeidung für das Leben der Feuerwehrleute“ getroffen habe.
19:45 Uhr: Im Gewerkschaftshaus breitet sich das Feuer aus. Zehn Minuten später springen eingeschlossene Antimaidan-Anhänger verzweifelt aus den Fenstern der oberen Stockwerke, unter ihnen auch Angehörige der Kläger. Das Gericht stellte fest, dass es sowohl Fälle von Angriffen pro-ukrainischer Aktivisten auf die sich rettenden Antimaidan-Anhänger gab, als auch solche, in denen geholfen wurde.
Ein Video der Gruppe des 2. Mai zeigt, wie jemand aus der Gruppe der pro-ukrainischen Protestierenden draußen den in den Flammen im Gewerkschaftshaus Eingeschlossenen ein weißes Seil zuwirft, mit dem sie sich versuchen hinauszuretten. Andere schlagen die sich rettenden Personen. Wieder andere schießen vom Dach. / Video © Youtube/Gruppa 2 maja
20:09 Uhr: Auf Anweisung von Bodelan treffen die ersten Feuerwehrleute ein.
20:50 Uhr: Der DSNS meldet, dass das Feuer gelöscht sei. Später stellt sich heraus, dass insgesamt 42 Menschen im Gebäude ums Leben gekommen sind. Viele Menschen erlitten außerdem Verbrennungen und Verletzungen, als sie sich durch Sprünge aus den Fenstern retteten.
Die Polizei hat 63 Antimaidan-Anhänger festgenommen, die sich im Gebäude oder auf dem Dach befanden.
Am nächsten Tag stürmen pro-russische Anhänger das Polizeirevier, in dem die Verhafteten festgehalten wurden. Auf mündliche Anordnung von Futschedshi wurden diese schließlich ohne Status als Verfahrensbeteiligte freigelassen.
Ukrainische Ermittlungen und Gerichtsverfahren
Der EGMR stellte fest, dass die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden auf die Ereignisse in Odessa mit der Einleitung zahlreicher miteinander verbundener Strafverfahren reagierten, die sich in drei Gruppen unterteilen lassen:
- Verfahren wegen Handlungen von Privatpersonen
- Verfahren bezüglich des Handelns von Strafverfolgungsbeamten und
- Verfahren zum Handeln des DSNS
Laut Beobachtungen der Gruppe des 2. Mai wurde der betreffende Bereich des Kulykowe-Felds nicht zur Beweissicherung gesperrt. Stattdessen wurden in der Nacht zum 3. Mai Arbeiter der kommunalen Straßenreinigung geschickt, um den Bereich aufzuräumen. Die erste Inspektion des Platzes fand erst am 15. Mai statt.
Forensische Experten begannen ihre Arbeit im Gewerkschaftshaus zwar noch in der Nacht des 2. Mai, wurden jedoch mehrmals durch Antimaidan-Anhänger gestört, die sich noch im Gebäude aufhielten. Vom 4. bis 20. Mai blieb das Gebäude für die Öffentlichkeit frei zugänglich.
Die Kugel aus dem Körper des verstorbenen Ihor Iwanow wurde nicht aufbewahrt
Kugeln und Splitter, die aus den Körpern der Opfer geborgen wurden, konnten durch die Experten nicht eindeutig identifiziert und keiner Waffe zugeordnet werden. Außerdem stellte sich heraus, dass die Kugel, welche die Chirurgen aus dem Körper des verwundeten und später verstorbenen Ihor Iwanow entfernt hatten, nicht aufbewahrt worden war und deshalb nicht im Rahmen der Ermittlungen untersucht werden konnte.
Experten stellten fest, dass die Menschen im Treppenhaus und in den unteren Stockwerken des Gewerkschaftshauses an Verbrennungen und Vergiftung durch Kohlenmonoxid und andere durch den Brand erzeugte, nicht identifizierte Gase und toxische Substanzen starben. Ein absichtlicher Einsatz von giftigen Stoffen wurde sowohl durch die offiziellen als auch durch die unabhängigen Untersuchungen ausgeschlossen.
Am 18. Mai 2014 verhaftete die Polizei Serhii Chodijak, der an der Demonstration „Für die Einheit der Ukraine“ teilgenommen hatte. Er wurde des Mordes an einem Antimaidan-Aktivisten und des versuchten Mordes an einem Polizeibeamten angeklagt. Mehr als zehn Jahre später ist dieses Gerichtsverfahren gegen Chodijak immer noch am Malyniwsky-Bezirksgericht in Odessa anhängig.
Am 26. Mai 2014 wurde Mykola Wolkow, ein Anhänger des Euromaidan in Odessa, unter dem Verdacht festgenommen, mit einer Waffe in Richtung Gewerkschaftshaus gefeuert zu haben. Im Februar 2015 war das Verfahren gegen Wolkow eingestellt worden, weil dieser verstorben sei. Das EGMR-Urteil hält jedoch fest, dass das Verfahren nach Einspruch eines der Opfer wieder aufgenommen wurde, da angeblich keine Todesnachweise vorlagen. Die weiteren Entwicklungen und der Stand der Ermittlungen sind dem EGMR nicht bekannt.
Der Euromaidan-Aktivist Wsewolod Hontscharewsky wurde beschuldigt, Antimaidan-Anhänger, die aus den Fenstern des Gewerkschaftshauses sprangen, mit einem Holzknüppel geschlagen zu haben. Im Februar 2015 wurde das Verfahren gegen ihn zunächst eingestellt, im Juli desselben Jahres nach Einspruch der Geschädigten wieder aufgenommen. Sie forderten die Ermittler auf, Videoaufnahmen im Verfahren zu beachten, die angeblich Hontscharewskys Beteiligung an den Taten beweisen. Nach Angaben des EGMR wurden die Videos jedoch nicht untersucht.
Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft reichte des weiteren Anklage gegen 19 Antimaidan-Anhänger wegen der Teilnahme an den gewaltsamen Ausschreitungen mit Körperverletzung und Todesfolge ein. Am 18. September 2017 sprach das Stadtgericht in Illitschiwsk (heute Tschornomorsk – dek) schließlich alle 19 Angeklagten frei und begründete dies mit verschiedenen Verfahrensfehlern während der Ermittlungen sowie unzureichenden Beweisen, um eine Schuld festzustellen.
Das Gericht kritisiert, dass die vorgerichtlichen Ermittlungen so unvollständig und mangelhaft waren, dass alternative Informationsquellen herangezogen werden mussten
Insbesondere merkte das Illitschiwsk-Gericht damals an, dass viele der Untersuchungen von Ermittlern durchgeführt wurden, die nicht zur ernannten Ermittlungskommission gehörten. Die von ihnen gesammelten Beweise und erstellten Protokolle wurden für unzulässig erklärt. Darüber hinaus bemängelte man, dass die erste Inspektion vor Ort mit einer unerklärlichen Verzögerung von fast zwei Wochen stattgefunden hatte, sodass in dieser Zeit alle Beweismittel verloren gingen.
Es wurde auch festgestellt, dass dem Gericht trotz zahlreicher Anordnungen keine Foto- oder Videobeweise vorgelegt wurden. Laut dem Gericht hatte die Staatsanwaltschaft nur einen Polizisten und keine der an den Ereignissen vom 2. Mai 2014 beteiligten Fußballfans befragt. In den Akten sei auch keine ballistische Expertise über Kugeln und Splitter aus den Körpern der Opfer enthalten gewesen. Insgesamt kritisierte das Gericht die vorgerichtlichen Ermittlungen als so unvollständig und mangelhaft, dass alternative Informationsquellen herangezogen werden mussten.
Aktuell verhandelt das Berufungsgericht im Gebiet Mykolajiw über den Fall.
Dem EGMR liegen Daten vor, wonach der oben erwähnte pro-russische Aktivist Witalii Budko seit dem 4. Juli 2016 als Verdächtiger im Mordfall Ihor Iwanow geführt wird. Da jedoch keine Zwangsmaßnahmen gegen ihn verhängt wurden, tauchte Budko unter. Laut Gericht ist er weiter zur Fahndung ausgeschrieben.
Doku der unabhängigen Recherchegruppe Gruppe des 2. Mai mit deutscher Synchronisation / Video © Youtube/Gruppa 2 maja
Der einzige Verurteilte versteckt sich in Russland
Die Ermittlungen zum Vorgehen der Polizei in Odessa wurden zunächst von der Staatsanwaltschaft und seit 2020 vom Staatlichen Ermittlungsbüro geführt.
Einen Tag nach der Tragödie, am 3. Mai 2014, wurde der Leiter der Regionaldirektion des Innenministeriums, Petro Luziuk, suspendiert und seinem Stellvertreter, Dmytro Futschedshi, die Leitung übertragen. Doch bereits am 6. Mai floh Futschedshi aus der Ukraine in die Republik Moldau und von dort weiter nach Russland. Am 13. Mai erschien ein Dokument, das ihn der Dienstpflichtverletzung in Verbindung mit den gewaltsamen Ausschreitungen und des Machtmissbrauchs verdächtigte, weil er am 4. Mai die Freilassung der inhaftierten Antimaidan-Anhänger angeordnet hatte.
Am 15. Mai wurde Futschedshi zur Fahndung ausgeschrieben. 2017 beantragte die ukrainische Staatsanwaltschaft die Auslieferung von Futschedshi bei der Russischen Föderation, wo sich dieser vor der Justiz versteckt hielt. Laut der Antwort der russischen Generalstaatsanwaltschaft sei Herr Futschedshi russischer Staatsbürger und deshalb keine Auslieferung möglich. Die Ukraine beschloss, den Flüchtigen in Abwesenheit zu verurteilen.
Am 18. April 2023 befand das Prymorsky-Bezirksgericht in Odessa Futschedshi der Mittäterschaft bei der Organisation von schweren Massenunruhen, des Amts- und Machtmissbrauchs in besonders schwerem Fall, der Beihilfe zur Besetzung staatlicher Gebäude und der Behinderung von Strafverfolgungsbeamten bei der Ausübung ihrer Dienstpflichten für schuldig. Er wurde zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe und einem dreijährigen Berufsverbot in den Strafverfolgungsbehörden, einer Geldstrafe sowie der Aberkennung seines Ranges als Obert verurteilt.
In der Zwischenzeit war Petro Luziuk bereits wegen Verletzung seiner Dienstpflichten am 30. April 2014 angezeigt worden. Später kam der Vorwurf der Urkundenfälschung hinzu, nachdem am 17. Juni 2015 eine interne Untersuchung festgestellt hatte, dass nach seiner Anweisung der offizielle Bericht über die Umsetzung des Einsatzplans gefälscht worden war.
Die ukrainischen Behörden teilten dem EGMR mit, dass das Prymorsky-Bezirskgericht in Odessa das Verfahren gegen Petro Luziuk am 14. Juni 2024 nach Ablauf der Verjährungsfrist eingestellt habe.
Des weiteren läuft seit 2018 ein Verfahren gegen den damaligen Chef der städtischen Polizei von Odessa und zwei Einsatzbeamte wegen Amtsmissbrauchs sowie seit 2021 zwei weitere Verfahren gegen einen damaligen stellvertretenden Abteilungsleiter und den stellvertretenden Gruppenführer der 2. Einsatzhundertschaft der Hauptdirektion des ukrainischen Innenministeriums in der Stadt Odessa.
Katastrophenschützer nicht zur Verantwortung gezogen
Am 1. Mai 2016 wurden gegen den damaligen Leiter der DSNS-Regionaldirektion, Wolodymyr Bodelan, sowie seine Kollegen Jurii Schwydenko und Switlana Kojewa Ermittlungen eingeleitet, weil sie während der Ereignisse in Odessa Bürger in Gefahr gebracht hätten. Am folgenden Tag wurden diese Anschuldigungen auch auf Bodelans Stellvertreter Wiktor Hubaj ausgeweitet.
Wie sich jedoch herausstellte, hatte Wolodymyr Bodelan zu diesem Zeitpunkt bereits die Ukraine verlassen, nach ihm wird weiter gefahndet. Das Verfahren gegen die anderen drei wurde zunächst vor dem Prymorsky- und später vor dem Kyjiwsky-Bezirksgericht in Odessa geführt. Am 1. August 2022 wurde das Verfahren ausgesetzt, weil sich die Anwälte der Angeklagten der Armee anschlossen.
Am 11. April 2016 wurde gegen Ruslan Welyky, den stellvertretenden Leiter der DSNS- Regionaldirektion Odessa, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und am Prymorsky-Bezirksgericht in Odessa geführt. Am 20. Juni 2022 wurde das Verfahren wegen der Einberufung des Beschuldigten in die Armee ausgesetzt, später wurden die Verhandlung wieder aufgenommen. Am 27. Juni 2023 forderte das Prymorsky-Bezirksgericht die Staatsanwaltschaft sowie den Angeklagten auf, bis zum 29. Dezember 2023 Beweise vorzulegen. Des weiteren erklärte es, dass die Verjährungsfrist in diesem Fall im Mai 2024 ablaufen würde. Dem EGMR ist nichts über den weiteren Status des Verfahrens bekannt.
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Der EGMR stellte die Verletzung von Artikel 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Ukraine fest: das Recht auf Leben. Der beklagte Staat (die Ukraine – dek) hat nicht alles Vertretbare und in seiner Macht Stehende getan, um die Gewalt in Odessa am 2. Mai 2014 zu verhindern oder diese zu beenden, und nicht rechtzeitig Maßnahmen eingeleitet, um jene zu retten, die vom Brand im Gewerkschaftshaus betroffen waren.
Dabei berücksichtigte der EGMR auch die erhebliche Beteiligung der Russischen Föderation an den Ereignissen rund um das sogenannte „Referendum“ auf der Krym, die russische Unterstützung für separatistische Vereinigungen im Osten der Ukraine und Versuche, die südlichen Regionen zu destabilisieren. In seinem Urteil verwies das Gericht explizit auf den Einsatz russischer Propaganda bei den Antimaidan-Kundgebungen in Odessa:
„Im vorliegenden Fall beschränkt sich die Aufgabe des Gerichtshofs auf die Prüfung der internationalen Verantwortlichkeit der Ukraine, ungeachtet der Tatsache, dass einige der Verfehlungen, für welche die ukrainische Regierung nach der Konvention verantwortlich gemacht wird, ihren ehemaligen lokalen Amtsträgern zuzuschreiben sind, die in der Zwischenzeit aus der Ukraine in die Russische Föderation geflohen sind, die russische Staatsbürgerschaft angenommen haben oder wie im Fall von Herrn Bodelan (dem ehemaligen Leiter des DSNS in der Region Odessa), dort Karriere im Kontext der russischen Vollinvasion gemacht haben.“
Wolodymyr Bodelan wurde nämlich inzwischen zum stellvertretenden Leiter der Okkupationsverwaltung im von Russland besetzten Teil der Region Cherson ernannt.
Eine Erklärung, geschweige denn eine Rechtfertigung für diese Verzögerungen wurde nicht vorgelegt
Der EGMR merkte ebenso Probleme bei der Untersuchung der am 2. Mai begangenen Verbrechen an, insbesondere während der Sicherstellung von Beweisen, da der Tatort sofort gereinigt und das Gewerkschaftshaus nicht für die Öffentlichkeit gesperrt wurde. Darüber hinaus wies das Gericht auf die Verzögerungen hin, die dazu führten, dass Verdächtige entkommen konnten oder sich auf andere Weise der Verantwortung für ihre Taten entzogen.
„Trotz öffentlich zugänglicher Foto- und Videoaufnahmen, die zeigen, dass ein Antimaidan-Aktivist, der Herrn Budko ähnelt, mit einem Sturmgewehr in Richtung der Demonstranten schießt, während er direkt neben der Polizei steht, die in keiner Weise darauf reagiert, haben die nationalen Behörden mehr als zwei Jahre gebraucht, um strafrechtliche Ermittlungen gegen Herrn Budko einzuleiten, und mehr als sieben Jahre, um ein Strafverfahren gegen Herrn Iwachnenko, einen der betroffenen Polizeibeamten, zu eröffnen“, kritisierte der EGMR. „Eine Erklärung, geschweige denn eine Rechtfertigung für diese Verzögerungen wurde nicht vorgelegt. Da Herr Budko untertauchen konnte, wurden die Ermittlungen im Oktober 2016 eingestellt. Das Strafverfahren gegen Herrn Iwachnenko endete mit seiner Entbindung von der strafrechtlichen Verantwortung aufgrund des Ablaufs der zehnjährigen Verjährungsfrist.“
Angesichts des Ausmaßes der Gewalt und der Zahl der Todesopfer, der Beteiligung von Anhängern zweier verfeindeter politischer Lager im Kontext erheblicher sozialer und politischer Spannungen sowie der Gefahr einer allgemeinen Destabilisierung der Lage waren die Behörden nach Ansicht des EGMR dazu verpflichtet, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Transparenz und eine umfassende öffentliche Kontrolle der Ermittlungen zu gewährleisten. Stattdessen konnten, ohne wirksame Kommunikation, Falschinformationen über die Ereignisse in Odessa zu einem russischen Propagandainstrument im Rahmen der russischen Vollinvasion im Februar 2022 gegen die Ukraine werden.
Der einbehaltene Leichnam
Das Gericht befasste sich auch mit der Beschwerde der Stieftochter des im Gewerkschaftshaus getöteten Mychail Wjatscheslawow, Olena, welche anderthalb Jahre auf die Herausgabe des Leichnams ihres Vaters warten musste. Am 12. Mai 2014 gab sie eine Vermisstenanzeige auf. Am 30. Mai identifizierte sie ihn schließlich als eine von zwei unbekannten Leichen.
Am 10. Juni wurde eine Autopsie und am nächsten Tag eine DNA-Untersuchung durchgeführt, die jedoch keine Beziehung zwischen dem Verstorbenen und Wjatscheslawowa nachweisen konnte. Später stellte sich heraus, dass Mychail ihr Adoptivvater und nicht ihr leiblicher Vater gewesen war. Die Ermittler gingen weiter davon aus, dass die Identifizierung nicht abgeschlossen war.
Im Juni 2015 kamen Wjatscheslawowa, ihre Mutter und ein weiterer Verwandter erneut und identifizierten den Verstorbenen als Mychail Wjatscheslawow. Am 30. Juni wurde der Familie die Sterbeurkunde ausgestellt, jedoch nicht die Leiche zurückgegeben. Am 31. August untersuchten Experten den Schädel des Verstorbenen und kamen ebenfalls zu dem Schluss, dass es sich um die angegebene Person handelte.
Zwischen Juni und Oktober stellte die Tochter von Mychail Wjatscheslawow mehr als vier Anträge auf Herausgabe des Leichnams ihres Vaters, die jedoch abgelehnt wurden, bis sich der Leiter der UN-Beobachtungsmission im Dezember an die Staatsanwaltschaft wandte.
Am 29. Dezember 2015 wurde der Familie der Leichnam von Mychail Wjatscheslawow übergeben und noch am selben Tag beigesetzt.
Der EGMR kam zu der Bewertung, dass die Einbehaltung des Leichnams von Mychail Wjatscheslawow mindestens ab dem 31. August, als die letzte Untersuchung stattfand, bis Ende Dezember nicht rechtmäßig war.
„Das Wichtigste ist die ordnungsgemäße Untersuchung aller Todesfälle“
Es sei nun sehr wichtig, dass die Ukraine diesem EGMR-Urteil nachkommt, die angeordneten Entschädigungen zahlt und angemessene Maßnahmen ergreift, sagt Oleksandr Pawlitschenko, der Vorsitzende der ukrainischen Helsinki-Menschenrechtsgruppe, gegenüber Graty. Die Anwälte der Menschenrechtsorganisation hatten die Eingabe an den EGMR im Namen mehrerer Kläger zum Fall „Wjatscheslawowa und andere gegen die Ukraine“ vorbereitet.
„Die Summe der Entschädigungen ist ziemlich hoch, mehr als 300 000 Euro. Die größte Herausforderung besteht jedoch bei den allgemeinen Maßnahmen, nämlich der Organisation einer ordnungsgemäßen Untersuchung aller Todesfälle. Darauf müssen wir achten,“ sagte Pawlitschenko. „Positiv ist jedoch, dass es nach 2014 anscheinend keine ähnlichen Situationen bei Ermittlungen gab. Obwohl ich sagen kann, dass wir auch Beschwerden verfahrensrechtlicher Art in Bezug auf Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention haben, welche unterlassene oder nicht ordnungsgemäße Untersuchung von Todesfällen unter der Zivilbevölkerung nach dem Beginn der russischen Vollinvasion betreffen. Dieses Problem wird in diesem Zusammenhang auch zur Sprache kommen.“
Reaktion der ukrainischen Regierung
Direkt am 13. März 2025 erklärte das ukrainische Justizministerium, das EGMR-Urteil prüfen und einen Plan für dessen Umsetzung ausarbeiten zu wollen
„Die Tragödie von Odessa ereignete sich drei Monate nach der Revolution der Würde, als das Land in seinen Strukturen, insbesondere dem Strafverfolgungssystem, noch durch das institutionelle Erbe des Janukowytsch-Regimes geprägt war ", heißt es in der Erklärung. „Die vom EGMR festgestellten Unzulänglichkeiten im Vorgehen der Polizei und Feuerwehr deuten auf systemische Probleme hin, die sich über viele Jahre hinweg unter der Vorgängerregierung herausgebildet haben."
Gleichzeitig begrüßte das Justizministerium die Tatsache, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die bedeutende Rolle der russischen Desinformation und Propaganda bei der Anstiftung zu Hass und Feindseligkeiten vor den tragischen Ereignissen anerkannt habe.
Russland war nicht an dem Verfahren beteiligt. Im Frühjahr 2022 hatte es den Europarat verlassen und verweigerte damit, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen.