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Sprache und das Trauma der Befreiung

Zum Jahresende ein nachdenklicher Longread. Was haben Deutschland und Russland aus dem 20. Jahrhundert mitgenommen, mit all den Gräueln, die es beiden Ländern bereitet hat und die von ihnen ausgingen? Und wie prägt der Umgang mit diesem Erbe die russische Gegenwart und die Verhältnisse in Europa? Der Kulturhistoriker und Philologe Gasan Gusejnov, einer der originellsten Intellektuellen des heutigen Russland, betrachtet diese Fragen in ihrem sprachlichen Spiegel. In dem zieht wieder und wieder der Schriftzug von der „größten geopolitischen Katastrophe“ vorüber ... Ein grundlegender Text, der den Geist einer Epoche einfängt und eine Fülle jener Themen berührt, die dekoder 2015 an den Start gehen ließen.

Wir veröffentlichen Gusejnovs Aufsatz in einer Version des Literaturjournals NLO, die in Abstimmung mit dem Autor neu überarbeitet wurde.

Источник Literaturjournal NLO

1.

Nicht umsonst hat Platon zum Nachdenken über Sokrates’ Ausspruch aufgefordert, die erste und wichtigste Eigenschaft des Philosophen sei die Furchtlosigkeit. Wenn du nicht in Kauf nimmst, dass das Ergebnis deines Denkens dir ein Trauma zufügt (sei es ein seelisches oder ein äußerlich sichtbares), dann lohnt es sich gar nicht erst, damit zu beginnen. Doch auch die Umkehrung gilt: Jahrzehntelang totgeschwiegene Traumata und der einer Gesellschaft dadurch zugefügte psychische Schaden lassen die Menschen panisch werden, und in der Panik ballen sie sich zu Horden zusammen und kehren sich selbst von dem Wissen ab, das noch gestern, ungeachtet von Leid und Kränkung, mehr oder weniger von allen geteilt wurde.

Wollte man lediglich die Kriegstraumata auflisten, die die seit Mitte des 20. Jahrhunderts geborenen oder aufgewachsenen postsowjetischen Generationen sich selbst zugefügt haben, so würde diese Liste in erster Linie die Langzeiterfahrung des Totschweigens und der Verdrängung erlebter nationaler Katastrophen verzeichnen.

Das erste Totschweigen betrifft die Ausmaße der Verluste im Zweiten Weltkrieg. Für jeden Krieg bezeichnende und unvermeidliche Phänomene wie Gefangenschaft und Plünderei, Korruption und sexuelle Gewalt, Verrat und Betrug wurden unter ideologischen und künstlerischen Mythen begraben. Die äußerst seltenen erfolgreichen Versuche, unter dem Joch der Zensur hervorzukriechen, wurden durch Repression und psychische Traumata zweiter Ordnung unterbunden.

Die durch die ebenso unangebrachte wie unqualifizierte Lenkung des Massenbewusstseins beim sowjetischen Menschen verursachten psychischen Traumata haben die Menschen so weit gebracht, dass sie aufgehört haben, das im Zuge der sogenannten Nachkriegskonflikte Erlebte als stark traumatische Erfahrung wahrzunehmen – das betrifft sowohl Konflikte außerhalb der Grenzen der UdSSR (der Krieg in Afrika und im Fernen Osten, die militärische Intervention in der DDR 1953, in Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei 1968 und schließlich in Afghanistan 1979) als auch die im postsowjetischen Raum (der von 1991 bis 2009 andauernde Krieg im Kaukasus, die Kriege in Zentralasien, in Moldau und Transnistrien und seit 2014 in der Ukraine).

Das traditionelle russische Verständnis von Geschichte als etwas, das mit der Vergangenheit und mit Volksmassen zu tun hat, und nicht als etwas, das in der Gegenwart von einzelnen Individuen erlebt wird, hat zu einer traumatischen Spaltung im Bewusstsein des sowjetischen Menschen geführt – einer Spaltung zwischen dem unmittelbar alltäglichen Selbstverständnis des Menschen und einem mit diesem Selbstverständnis nicht in Zusammenhang gebrachten Gesamtweltbild.

Auf der persönlichen Ebene kann so jemand seinen Status, seine Ressourcen und Perspektiven zutreffend oder zumindest plausibel einschätzen und dabei selbst im Fall eines extrem geringen Selbstwertgefühls eine erstaunliche Gelassenheit bewahren. Geht es aber um den Platz seines Landes in der Welt, darum, wie die Führung des eigenen Staates beurteilt wird, geht es um die symbolische Bewertung seines Landes, dann kommt diesem Menschen das Maß abhanden, er wird zum Träger eines schimärischen geopolitischen Bewusstseins, dazu bereit, sich an die phantastischsten Verschwörungstheorien zu klammern.

Die kulturelle Dimension dieser Spaltung oder, genauer gesagt, dieses sich vielfach wiederholenden Traumas, lässt sich auf eine äußerst einfache Formel bringen: Die Menschen haben ihre Toten nicht beweinen dürfen, und letzten Endes, in unserem konkreten Fall mit dem beginnenden Zerfall des sowjetisch-russischen Imperiums, kam ihnen die für ein erträgliches Zusammenleben unabdingbare Empathie abhanden, also die Fähigkeit, mit anderen Menschen mitzufühlen.

Ein Beleg für diese Behauptung ist die hohe Wirksamkeit plumper Propaganda, der selbst die vergleichsweise gebildeten Schichten der Bevölkerung nicht imstande sind, zu widerstehen. Als wären es die eingefrorenen und wieder aufgetauten Melodien aus einem Rabelais-Roman oder die Geschichten von Baron Münchhausen, brechen auf den heutigen Russen ideologische Klischees von anderthalb Jahrhunderten herein, die man schon seinen Vorfahren aufgetischt hat, angefangen vom Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zu Stalins zehn Schlägen gegen das verendende Dritte Reich.

Dieses ganze kakophone Getöse vermag allerdings nicht die zentrale, aufgestaute Kränkung zu dämpfen, die aus dem Begreifen der Tatsache resultiert, dass die Mehrheit der Nachbarn im Großen Europa sowie in einem beträchtlichen Teil Eurasiens die Ereignissen in der heutigen Russischen Föderation als den fortgesetzten Zerfall des Imperiums sieht und ganz und gar nicht als das Werden eines neuen freien und starken Staates.

Man kann noch beliebig oft und beliebig laut erklären, das ist uns alles total egal. In Wirklichkeit liegt genau darin der Kern des Traumas – und es ist ganz und gar nichts total egal. Der Groll auf die anderen, seien sie real oder eingebildet, ist nichts weiter als eine Emotion, die das eigentliche psychische Geschwür verdeckt: die nicht vollzogene Beweinung der Toten.

Es gab eine Zeit, in der man das noch hätte tun können. Doch der Reueton der Perestroika wurde als Schwächlichkeit verworfen. Viele waren der Ansicht, der wirtschaftliche Aufschwung würde sie ganz von allein der Notwendigkeit entledigen, sich mit den Traumata der Vergangenheit auseinanderzusetzen, die den Menschen von ihren eigenen Leuten zugefügt worden waren.  

Doch diese Annahme erwies sich als Illusion, denn traumatische Erfahrung lagert sich in der Sprache ab. Werden die Schlüsselwörter nicht reflektierter Epochen in das Spiel einer neuen Zeit eingeworfen, befördern sie darum unvermeidlich, wie ein unglücklich geworfener Angelhaken einen alten Schuh, das ganze für immer auf dem Grund der Geschichte begraben geglaubte Material wieder an die Oberfläche.

Wer von den Bandera-Faschisten der 1940er und der Kiewer Junta der 2010er Jahre anfängt, der muss damit rechnen, dass man ihn an den Holodomor der 1930er und den Emser Erlass der 1870er Jahre erinnert.

Die Aktualisierung früherer Kränkungen verstärkt den Schmerz und verlagert das Trauma auf eine neue Ebene, nämlich in die Zukunft, denn der nächste Schritt besteht in der Rache an all denen, die vermeintlich verantwortlich sind für deine Kränkung. Und weil du das selbst ja nicht sein kannst, sind alle anderen schuld. Die Besonderheit der gegenwärtigen Rachepraxis liegt darin, dass ephemere Verwünschungen und Beleidigungen besonders lange haltbar sind.

2.

1967 erschien in Deutschland Die Unfähigkeit zu trauern von Alexander und Margarete Mitscherlich1, eines der wichtigsten Bücher zum kollektiven Trauma der Deutschen und dessen Heilung, das die westdeutsche Gesellschaft vermutlich nicht weniger beeinflusst hat, als die Studentenrevolution von 1968. Dieses und weitere von den Eheleuten Mitscherlich sowie von Alexander Mitscherlich allein verfasste Bücher besaßen die erforderliche Sprengkraft, um die Mauer des Schweigens einzureißen, die die kaum erst ins aktive Leben eingetretene erste Nachkriegsgeneration und ihre stumm gewordenen Eltern trennte. Paradoxerweise wurde die Verständigung der Generationen um den Preis eines lautstarken und für viele endgültigen Bruchs mit der Vergangenheit erreicht. Dieser Bruch verhalf den Deutschen zu einer gemeinsamen politischen Sprache, und diese Sprache wurde zur Sprache der westdeutschen Zivilgesellschaft, in der der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede 1985 den 8. Mai 1945 zum ersten Mal als Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bezeichnete und damit die Bedeutung dieses Tages für sein Land definierte. Bis zu dieser heute allgemein gültigen deutschen Formel mussten 40 Jahre vergehen.

Die „Befreiung“, von der Weizsäcker sprach, und die „Trauer“, von deren Notwendigkeit die Mitscherlichs gesprochen hatten, wurden zu Schlüsselbegriffen eines langen historischen Weges. Man kann die Befreiung nicht verstehen, solange nicht die ganze Trauer ausgedrückt ist. Aber trauern muss man lernen.

Die erste Aufbauphase des bundesrepublikanischen Staates (1945–1955) wurde mit dem Schlüsselwort Wunder belegt. Nach der totalen Zerschlagung Deutschlands waren nach Ansicht der Menschen zwei Wunder geschehen. Das erste war natürlich das unter der Führung des von 1949 bis 1963 amtierenden Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard erreichte Wirtschaftswunder. Das zweite ist in die deutschen Geschichtsbücher und Lexika eingegangen als das Wunder von Bern: Gemeint ist der Sieg der [bundes]deutschen Nationalmannschaft über Ungarn bei der Fußballweltmeisterschaft am 4. Juli 1954; die bundesweite Begeisterung über diesen Sieg war die erste Äußerung von Enthusiasmus der Westdeutschen nach der jahrelangen Nachkriegsdepression.

Warum hat die Gesellschaft, nachdem sie vom emotionalen und materiellen Aufschwung gekostet hat, dann doch vom Wunder als politischem Ideologem Abstand genommen? Weil hinter dem Rücken dieses Wunders weiterhin die auch durch dieses Wunder keineswegs zu erklärende Wirklichkeit der nicht weit zurückliegenden Vergangenheit stand – nicht einfach die Besonderheit im Verhältnis der europäischen Nachbarn zu Deutschland, sondern die Realität dessen, was tatsächlich geschehen war. Denn genau das war es, was die Menschen mit der Zeit immer mehr beschäftigte.

Das Ideologem des Wunders erwies sich als psychologische Falle, geistreich verspottet in der bekannten Filmkomödie Das Spukschloss im Spessart. Die Sowjetunion befand sich zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt der Entstalinisierung, die Entfernung von Stalins Mumie aus dem Mausoleum stand bevor, und der Film über die im Wirtschaftswunder-Deutschland ausgegrabenen Skelette trug, wie es schöner nicht hätte sein können, zu einer Art westlicher Ausleuchtung dieses (nach 1953 und 1956) dritten Versuchs bei, sich von Stalin und dem Stalinismus zu verabschieden. Offiziell galt das „Spukschloss“ in der UdSSR als gegen den „Revanchismus in der BRD“ gerichtete Komödie, doch den Silberpreis des Moskauer Filmfestivals von 1961 bekam der Film nicht allein hierfür.

Unterdessen setzte die sowjetische Propaganda alles daran, das westdeutsche Entnazifizierungsprogramm vor der Gesellschaft zu verheimlichen. Aus der Vielzahl der politischen Debatten in Deutschland wählte man lediglich das aus, was für die sowjetische Propaganda relevante Gegenstände betraf (unter anderem den Revanchismus). Keine Beachtung fand in der sowjetischen Zeit auch das Schlüsselthema der Mitscherlichs – das Trauma, das sich der Täter selbst zufügt, aber auch die Mitglieder von verbrecherischen Organisationen, und nicht nur die allein. Die meisten Deutschen hätten sich nämlich, so Mitscherlich, so weitgehend mit dem Regime abgefunden, dass sie auch nach dem Krieg, in der Adenauer-Ära, „politisch erstarrt“ gewesen seien. Die Generation, die sich mit Hitler und den Nazis, also den Kriegsverlierern, identifiziert hatte, versperrte sich instinktiv dem Konzept der Befreiung, das erst dann annehmbar wurde, als die westdeutsche Gesellschaft sich grundlegende demokratische Werte zu eigen gemacht und entsprechende Normen etabliert hatte.

An dieser Stelle wird nun die Rolle der Schlüsselbegriffe, anhand derer nicht nur der politische Diskurs rekonstruiert, sondern auch die Überwindung des Traumas durch Narration beschrieben wird, besonders wichtig. Zwischen den kritischen Debatten der Intellektuellen und einer breiten Einbeziehung der „erstarrten“ Bevölkerungsmehrheit in das politische Leben über die Artikulation eines unmittelbaren Zusammenhangs, etwa zwischen dem Wirtschaftswunder und der politischen Freiheit vom Nationalsozialismus, vergeht einige Zeit.

3.

Betrachtet man die historische Bahn, auf die die Russische Föderation derzeit geraten ist, wird jedoch klar, dass kein Vergleich die Situation in unserem Land auch nur annähernd vollständig beschreiben kann. Einige generelle Fixpunkte lassen sich dennoch herausstellen. Es geht ja um die Reaktion der Träger einer Sprache auf die gesellschaftlichen Traumata, die manchem vielleicht doch vergleichbar erscheinen mit denen, die die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Den gewohnten Disziplinkategorien folgend, sollen im Folgenden kurz und knapp einige Realien der russischen Politiksprache beschrieben werden, die jemand einmal treffend als „Schlüsselwörter des historischen Augenblicks“2 bezeichnet hat. Die im Grenzgebiet zwischen Literatur, Sozialpsychologie und Politik verhandelten Schlüsselbegriffe entfalten sich zu Phrasen der besonderen Art. Daran, wie das gesellschaftliche Umfeld sie entfaltet, lässt sich erkennen, wie sich das Verhältnis der Sprachträger zu ihrem kollektiven historischen Trauma entwickelt.

Dabei klingt nur ein einziges Trauma, gewissermaßen die Spitze des Eisbergs, deutlich hervor, eben jenes, das aus der Statusveränderung des Landes und somit der Veränderung der Situation jedes einzelnen Bewohners resultiert. Auf der Ebene der politischen Rhetorik ist dieses Trauma durch drei selten öffentlich angefochtene Phrasen markiert, nämlich: den Zerfall der UdSSR als die „größte geopolitische Katastrophe“, das „Chaos der 1990er“ oder die „wilden Neunziger“ (die Jelzin-Zeit) und die „Erhebung von den Knien“ (die gegenwärtige Phase). Die allgemein angenommene Übersetzung dieser emotional gefärbten Ideologeme besagt in etwa Folgendes: Das goldene Zeitalter, das sich zusammensetzt aus einem Mosaik von Ereignissen der russischen Geschichte seit 1612 (oder bei Bedarf auch seit den Zeiten Alexander Newskis) bis zum Ende der 1980er Jahre, wurde quasi hinweggefegt durch die „geopolitische Katastrophe“ der Perestroika und die Auflösung (sprich: den Zerfall) der UdSSR, wonach eine Zeit der Wirren anbrach. Wenn, so will man uns glauben machen, diesen Wirren nicht just an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert durch das neue Regime Einhalt geboten worden wäre, hätten jene Kräfte, die es angeblich geschafft haben, die Sowjetunion zu zerstören, längst auch die Russische Föderation zerstört – das letzte Bollwerk des zerfallenen sowjetisch-russischen Imperiums.

Offenbar ist das der grundlegende Legitimierungsmythos des Regimes, der mit den Mitteln der Propaganda verbreitet wurde und für einen großen Teil der aktiven Bevölkerung der Russischen Föderation allgemeine Gültigkeit erlangt hat. Wenn man die Mitscherlich-Konzeption anwendet, fällt einem das zentrale Drama des Augenblicks auf: Die Kette aus Russland-Mythen verfälscht den Inhalt des Traumas, das die ehemaligen Bürger der UdSSR erlitten haben. Das tatsächliche Trauma (Jahrzehnte der Unfreiheit, die physische Vernichtung ganzer Bevölkerungsschichten, die komplette Deportation ganzer Völker, ohne Gerichtsverfahren verhängte, gesetzeswidrige Repressalien gegen die Menschen unter beliebigem Vorwand) wurde ersetzt durch das frische emotionale Trauma des Zerfalls einer Staatsmaschine. Man muss bloß hinzufügen: eben jener Staatsmaschine, die für das ursprüngliche Trauma verantwortlich ist.

Das echte Trauma, das der Mehrheit in der UdSSR und im Russischen Reich über das 20. Jahrhundert zugefügt worden ist, wurde einfach so durch die Schlüsselphrase der „größten geopolitischen Katastrophe“ ausgetauscht. Der Beginn einer schmerzhaften Diskussion über das Trauma, eines öffentlichen Diskurses über die den Systemzusammenbruch begründenden Mechanismen, die das Trauma ausgelöst hatten – all das wurde erfolgreich gestoppt, vor allem mit ziemlich primitiven Propagandatricks, die an die Gefühle der Bürger appellierten.

Durch die Mitscherlich-Brille betrachtet wird deutlich, wie Russlands heutige politische Elite – jene soziale Schicht, die bei der Überwindung ihres Narzissmus und beim Erlernen der Fähigkeit zu trauern am meisten Hilfe benötigt hätte – sich die Ratlosigkeit der gerade erst zum politischen Leben erwachten Bevölkerung zunutze machte und die Rolle des gesellschaftlichen Psychotherapeuten an sich riss. Die Mitscherlichs wussten nichts von Öl- und Gaspreisen im beginnenden 21. Jahrhundert, aber sie beschrieben die Steigerung des ökonomischen Wohlstands als den wichtigsten „Verdränger“ von Reflexion. Ihrer Meinung nach war es gerade das Wirtschaftswunder, das die unausweichliche Abrechnung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit um zehn Jahre verzögerte.

Die Jahre der Entstehung eines Trauma-Narrativs und der sie begleitenden Diskussionen zu dem Thema fielen mit dem wirtschaftlichen Durcheinander und den schwierigen administrativ-territorialen, teilweise zu lokalen Kriegen führenden Konflikten der ausklingenden 1980er und 1990er Jahre zusammen. Dieser Umstand ermöglichte es Ende der 1990er Jahre dem aktiven Teil der postsowjetischen Gesellschaft, die Initiative zu ergreifen – den zahlreichen Mitarbeitern der früheren Straf- und Ideologie-Organe, die selbst zutiefst traumatisiert waren von der Unfähigkeit, die eigenen Opfer zu betrauern.

Dieser Kreis hatte sich für eine gewisse Zeit sogar die Kontrolle über wichtige Machtzentren zurückgeholt, angefangen von den hauptsächlichen Rohstoffquellen bis hin zu den wichtigsten Medien. Doch die einzige Ideologie, zu der die neue Generation der Kreml-Chefs sich als fähig erwies, erschöpfte sich in der Konservierung des Traumas.

Kontrolliert durch fremde Armeen, hatten die Deutschen es leichter, sich auf ihr Trauma zu konzentrieren, sich darüber auszutauschen und allmählich aus der Sackgasse herauszufinden, in die sie sich unter der Führung der Nationalsozialisten verirrt hatten. Die Notwendigkeit, den Staat von Grund auf neu zu errichten, war den Menschen sowohl im Westen wie im Osten Deutschlands bewusst. Dass die eigenen Tschekisten Kontrolle bekamen über die Situation, in die sie selbst und ihre ehemaligen Chefs Russland geführt hatten, konnte nur mithilfe der entsprechenden ideologischen Klischees aufrechterhalten werden. Die aus diesen Klischees erwachsende geopolitische Schimäre zieht diejenigen in ihren Bann, die in der Sprache leben.

Am Tag der Einheit des Volkes, am 4. November 2008, hörte ich gemeinsam mit Millionen Passagieren in der Moskauer Metro die schmissigen Reden über die Befreiung der Hauptstadt von den „polnischen Besatzern“ im Jahre 1612, las an den Wänden und Türen der Waggons den höhnischen Spruch: „Die Behutsamen behütet die Bank“, wurde eingeladen, den neuen Agitationsstreifen Der Admiral im Kino zu bewundern (während man am Abend desselben Tages im TV dazu eingeladen wurde, sich zum wiederholten Male den Film 1612 anzuschauen) und verstand, dass man den Passagieren auf diese Weise nahelegte, sich so weit wie möglich weg von der politischen Moderne und dem sowjetischen 20. Jahrhundert in eine galvanisierte Vergangenheit der einen oder anderen Zeit der Wirren zu versetzen. Gleichzeitig geschieht eine bewusst-unbewusste Außerbetriebsetzung des einzigen Erkenntnisinstruments, über das die Menschen verfügen – ihrer Sprache. Doch auch wenn die Frage, wie bewusst oder unbewusst die Operationen an der Sprache in den letzten zehn Jahren durchgeführt wurden, eine interessante und wichtige ist, ist das ein eigenes Thema.

Das Hauptproblem bleibt die Verstärkung des sozio-historischen Traumas bei den Patienten infolge der massenhaften Verbreitung von falschen Informationen bezüglich ihrer Leiden. Warum wurde die offizielle Rhetorik der ersten postsowjetischen Jahre zur doppelten Befreiung Russlands von der Ideologie des Kommunismus und von der Praxis des Kolonialimperialismus an der Jahrtausendwende so entschieden eingestampft?

Wie die genannten deutschen Wissenschaftler in ihren sozialpsychologischen Arbeiten zeigen konnten, ist das Prozedere der kollektiven Traumatherapie vernunftbasiert. Der emotionale Faktor wird selbstverständlich berücksichtigt, ist aber nicht der wichtigste. Es geht um die Suche nach einem allgemeingültigen Ausweg aus einer unerfreulichen Situation. Die Rationalisierung der Gefühle muss gekoppelt sein an Beherrschtheit innerhalb des politischen Diskurses. Dort, wo die Zensur auf der inhaltlichen Ebene aufgehoben ist, ist sie auf der Ebene ihrer stilistischen Gestaltung unabdingbar. Der Stil ist in der Lage, jede Kommunikation, nicht einmal nur in traumatherapeutischen Kontexten, zu blockieren und außer Kraft zu setzen.

Damit der Akt der politischen Kommunikation selbst nicht zu einer Quelle neuer kollektiver Traumata wird, befindet sich eine freie Gesellschaft in einem ständigen Diskurs über politische Korrektheit. Durch allgemeingültige und akzeptable, maximal leidenschaftslose Schlüsselbegriffe wird der Prozess der Konsenssuche rationalisiert und entemotionalisiert. Im Gegensatz dazu wird hier bei uns, alten sowjetisch-russischen Klischees folgend, einer politkorrekten Heuchelei die Wahrheit des freimütigen Sprechakts entgegengestellt. Sei es die apolitische Zügellosigkeit eines Wladimir Shirinowski oder die öffentlichen Entgleisungen populärer TV-Moderatoren. Das Fernsehen präsentiert Alexander Gordon, Wladimir Solowjow, Lolita und ihresgleichen als Meister der maximal freimütigen Verkündung von Binsenweisheiten.

In den Sprechakten dieser öffentlichen Autoritäten mit ihrer äußersten rhetorischen Schärfe (sprich: Unbändigkeit) wird ein Bouquet abstrakter Drohgebärden bei gleichzeitigem Verschweigen eines konkreten Sinngehalts versprüht. Die inakzeptable Grobheit der Äußerung substituiert nämlich ihren Sinngehalt, mit anderen Worten: Sie ist bereits der ganze Sinngehalt der Äußerung, und nicht zufällig wurde die diffuse Drohung, jemanden „im Klo abzumurksen“ zur faktischen Devise der ersten Amtszeit von Wladimir Putin.3 Diese Drohung war an mutmaßliche Terroristen gerichtet, aber in den aktuellen Sprachgebrauch fand sie in einer erweiterten Bedeutung Eingang – als Universalformel für den Umgang mit Widersachern.

Der Zuschauer oder Zuhörer, der die Drohreden von Politikern oder Medienleuten geduldig ertragen muss, überlässt ihnen Stück für Stück sein ganzes politisches Subjekt-Sein. Die minimale passive Reaktion auf solche TV-Sendungen könnte in einer gebildeten Gesellschaft ein Zuschauer-Boykott sein. Der minimale Ausdruck einer auf Vernunft gründenden Aktivität in einem Rechtsstaat wäre die Diskussion über die Verantwortung von Moderatoren und Redakteuren des TV-Senders für das emotionale Stimulieren von sozialem Zwist. Dort aber, wo weder das eine noch das andere geschieht, kommt es zum „politischen Stillstand“, wie er in anderer Spielart von den Mitscherlichs für die deutsche Gesellschaft zu Adenauers Zeiten diagnostiziert wurde. Um seine Mitbürger dazu zu bewegen, sich als selbständig politisch Handelnde zu begreifen, wird Kanzler Konrad Adenauer 1966 vor der Klagemauer in Jerusalem auf die Knie gehen, genau wie Kanzler Willy Brandt 1970 und Boris Jelzin 1993 in Warschau vor dem Denkmal-Kreuz für die Erschossenen von Katyn.

4.

Im Unterschied zu den Deutschen nach der unmissverständlichen Zerschlagung des Nationalsozialismus, ging die Bevölkerung der Russischen Föderation während der Auflösung der UdSSR über den Zerfall des Russischen Reichs und der dahinter stehenden politischen Strategie einfach hinweg. Die spontane, heilsame und vernunftbasierte Rhetorik vom Ende der UdSSR als Befreiung vom Totalitarismus empfanden nur diejenigen als Kapitulation im globalen Kalten Krieg, die diesen Krieg tatsächlich verloren hatten – Geheimdienstleute sowie Partei- und Staatsapparat. Für die allgemeine Bevölkerung aber war es ein Signal für den Zerfall des Russischen Reiches, der zu Beginn der 1920er Jahre in die Gründung der Sowjetunion umgelenkt worden war. Doch dann traf es sich so, dass sich die Bürger der Russischen Föderation durch die Verwendung der Bezeichnung Russland dem Verständnis verschlossen, ja, sich sogar selbst das Nachdenken über eine offensichtliche Tatsache verboten: dass einige andere ehemalige Republiken der UdSSR ebenfalls ein „anderes Russland“4 sind. Eben deswegen ist auch die formal korrekte Eigenbezeichnung der heutigen Russischen Föderation in gewisser Hinsicht ein Substitut für den geschichtlichen und politischen Sinn hinter dem Begriff, ein Substitut, das einer kollektiven Reflexion bedarf. Durch die historische Verbindung des Russischen Reichs beispielsweise zur heutigen Ukraine mit ihrer sich von Russland unterscheidenden, selbst gewählten Ausrichtung des gesellschaftlich-historischen Weges, wird das zweisprachige Land zu einer maximalen Quelle des Ärgers für alle Politiker, die nostalgische Gefühle für die UdSSR hegen. Die bloße Tatsache der Existenz eines anderen Russland, eines Kiewer Russland, in dem weder das Merkmal Sprache noch das Merkmal Kultur eine eindeutige Unterscheidung in sogenannte ethnische Russen und ethnische Ukrainer zulässt, ruft in der unmittelbaren Nähe zum Russland Moskaus bei der gesamten Führungsschicht der Russischen Föderation einen ausgeprägten politischen Minderwertigkeitskomplex hervor.

Auf sprachlicher Ebene äußert sich dieser Komplex, der genereller Natur und nicht auf die unmittelbar mit der Ukraine zusammenhängende Situation beschränkt ist, schon in den Namen der Organisationen, die für sich die volle Macht in der Russischen Föderation beanspruchen: Einiges Russland, Gerechtes Russland – all diese Bezeichnungen sind ja nichts als unfreiwillige Enthüllungen, die den Mangel an globaler politischer Legitimität zeigen. „Russland“ und russisch“ ersetzen oder bedeuten hier „UdSSRund „sowjetisch“. Und genau deshalb erscheint alles, was früher sowjetisch war, heute jedoch juristisch gesehen nicht russisch ist, in der Phantasie der Elite des Moskauer Russland als Irrtum oder heimtückische Bedrohung, als Objekt rechtmäßigen Misstrauens oder offener Feindschaft.

Einmal freiwillig in die Rolle der retrospektiven Beschützerin der UdSSR geschlüpft, verbreitet die politische und Medienelite der heutigen Russischen Föderation ihre Sprache des Hasses sowohl auf ehemalige Teile des Imperiums („das georgische Regime“, wie der russische Außenminister despektierlich zu sagen pflegte) als auch auf den großen Widersacher: den Sieger des Kalten Krieges. Die Vertreter der Straforgane, die bis heute nicht, nicht einmal nach ihren eigenen Gesetzen, für die Niederlage der UdSSR in jenem Krieg zur Verantwortung gezogen wurden, konservieren die Gesellschaft im Zustand des Traumas – als wollten sie sich nachträglich dafür rächen, dass der wiederholte Zerfall des Russischen Reiches 1991 vergleichsweise friedlich ausfiel.

Wenn die Position der Russischen Föderation gegenüber den USA formuliert wird, beruft sich die herrschende Klasse der heutigen Russischen Föderation ständig in der Art auf die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen, als wäre sie der Rechtsnachfolger der UdSSR, der dazu verdammt ist, die historische Mission der Verliererseite weiterzuführen. Betrachtet man einmal die USA und die UdSSR provisorisch als zwei Dritte Roms, ein republikanisches und ein imperiales, so zeigt sich, dass der Niedergang unseres, des imperialen, Teils die Bevölkerung des größten Fragments der ehemaligen UdSSR, also die Menschen der Russischen Föderation, an eine Weggabelung gebracht hat. Auf der einen Seite Freiheit und Bündnissuche mit den USA, auf der anderen Revanche-Versuche eines autoritären Zentralstaates.

Diejenigen, die der Bevölkerung der Russischen Föderation Revanche, antiamerikanische und NATO-feindliche Rhetorik nahegelegt haben, handeln offenbar instinktiv. Die Ironie der politischen Geschichte Russlands offenbarte sich in einem zentralen Schimpfwort für die Amerikaner und Amerika: Pindossy und Pindossija. In vorrevolutionären Zeiten waren Pindossy eine abfällige Bezeichnung für die Griechen (angeblich nach dem Namen des Berges Pind), wobei die Etymologie dieses ethnischen Schmähausdrucks nicht ganz klar ist. Womöglich haben sich die Amerikaner diesen Spitznamen nach dem Krieg um die jugoslawische Erbfolge im Zuge der Überschneidungen der Friedenseinsätze der Russischen Föderation und der USA auf dem Balkan eingehandelt.5 Doch woher auch immer die Bezeichnung kommt, zwingt uns der Gebrauch eines verallgemeinernden Schimpfwortes zu einem genaueren Blick auf den psychologischen Kontext dieser xenophoben Rhetorik.

Warum findet unsere Gesellschaft auch 20 Jahre nach der Auflösung der UdSSR keine klare, deutliche, politische Formulierung für die Quelle des eigenen Traumas? Die Bevölkerung der Russischen Föderation versteht, dass der reale Status eines neuen, jungen, demokratischen, russischen Staates nicht mit dem Phantom einer Supermacht Russland vereinbar ist, aber sie will nicht verstehen, warum das so ist. Alexander Mitscherlich sagt, dass ein Trauma nur mithilfe von gewissenhaft angeeignetem Wissen überwunden werden kann, darunter auch solchem, dessen sich das eigene Bewusstsein schämt. Dabei müssten die intellektuellen und moralischen Einstellungen selbst radikal überwunden werden, die zu Hitler geführt hätten, „da das, was geschah, nur geschehen konnte, weil dieses Bewusstsein korrumpiert war“6, schreibt Mitscherlich. Genau vor diesem Wissen fürchten sich die der UdSSR nachtrauernden russischen Politiker wie vor dem Feuer.

Natürlich kann man das als eine äußerst strittige Frage bezeichnen. Schließlich wurde auch die Diskussion um die Buße, die während der Perestroika in Gang gekommen war, gewaltsam beendet, und zwar aus Angst, das Land könnte unter all denjenigen verteilt werden, die irgendwann einmal vom Russischen Reich gekränkt wurden. Oder dass es unter dem Deckmantel von Kontributionszahlungen an all die Letten, Tschurken, Chatschen und Schlitzaugen ausverkauft wird, und an die ganzen Pindossija- und NATO-Huren entlang der neuen russischen Grenzen. Und hier betreten wir ein höchst schwieriges linguistisch-politisches Feld: Je durchsichtiger seine Logik, umso nebulöser die politischen Folgen.


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1.Mitscherlich M. / Mitscherlich A. (1967): Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens, Stuttgart
2. Šmeleva, T. V. (1993): Ključevye slova tekuščego momenta, in: Collegium: Meždunarodnyj naučno-chudožestvennyj žurnal, Nr. 1, S. 33-41
3.Camus, R. (2006): “We’ll whack them, even in the outhouse”: on a phrase by V.V. Putin, in: Gusejnov, Gasan (Hrsg.): Language and Social Change: New Tendencies in the Russian Language, kultura, Nr. 10, S. 3-8
4.siehe auch: Gusejnov, G. (1992): Istoričeskij smysl političeskogo kosnojasyčija: Ukraina i russkoje obščestvo, in: Znamja, Nr. 9, S. 191; Guseinov, G. (1993): The Russian-Ukrainian Conflict: Tradition and Prospects, in: Anthropology and Archaeology of Eurasi:. Sociolinguistics, Semiotics, and Society, Vol. 32 (1), Washington, S. 53-65
5.Offenbar ist der Begriff pindos in dieser modernen Bedeutung erstmals am 7. November 1999 im Fernsehen in einer Reportage aus dem Kosowo aufgetaucht. Ein Soldat sagte in einem Interview, dass man dort mit diesem Wort die amerikanischen Friedenstruppen bezeichnete – NLO
6.Mitscherlich M. / Mitscherlich A. (1967): Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens, Stuttgart. S. 82
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Großer Vaterländischer Krieg

Als Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet man in Russland den Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941–1945. Der Begriff ist an den Vaterländischen Krieg gegen Napoleon im Jahr 1812 angelehnt. Galt der Sieg über den Faschismus offiziell zunächst als ein sozialistischer Triumph unter vielen, wurde er seit Mitte der 1960er Jahre zu einem zentralen Bezugspunkt der russischen Geschichte.

„Der Große Vaterländische Krieg 1941–1945 war der gerechte Befreiungskrieg des sowjetischen Volkes für die Freiheit und Unabhängigkeit der sozialistischen Heimat gegen das faschistische Deutschland und seine Verbündeten, der wichtigste und entscheidende Teil des Zweiten Weltkriegs 1939–1945.“ So definierte im Jahr 1985 eine einschlägige Moskauer Enzyklopädie.1 Diese in der Sowjetunion und einigen Nachfolgestaaten übliche Bezeichnung entspricht chronologisch und geographisch in etwa den deutschen Begriffen Krieg an der Ostfront oder Russlandfeldzug. Selbst für sich allein genommen war dieser Abschnitt des Zweiten Weltkriegs einer der blutigsten Kriege der Weltgeschichte.

Ein Sieg unter vielen

Der Begriff ist an die Bezeichung für Napoleons gescheiterten Russlandfeldzug von 1812 angelehnt, der in Russland als Vaterländischer Krieg bekannt ist. Gemeint ist ein Verteidigungskrieg auf eigenem Boden, auch wenn dieser in eine Gegenoffensive außerhalb der Staatsgrenzen übergeht. Bereits der Erste Weltkrieg wurde manchmal als Großer Vaterländischer Krieg bezeichnet.

Nachdem die Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, wurden die Parallelen zum Ersten Weltkrieg, vor allem aber zu 1812, schnell aufgegriffen. Bereits am nächsten Tag druckte die „Prawda“ einen Artikel des Parteiideologen Jemeljan Jaroslawskij mit dem Titel „Der Große Vaterländische Krieg“. Auch Stalin griff die Bezeichnung in seiner ersten öffentlichen Kriegsansprache am 3. Juli 1941 auf.

Obwohl der internationale Charakter aller drei Kriege stets betont wurde, markierte der Begriff des Vaterländischen Krieges eine Wende von einer sozialistischen Interpretation hin zu einer Besinnung auf die Geschichte Russlands vor der Oktoberrevolution. Militärische Ruhmestaten aus dem Mittelalter und der Zarenzeit wurden in der Propaganda ebenso betont wie die führende Rolle des russischen Volkes. Dennoch dauerte es Monate, bis der Ausdruck Vaterländischer Krieg zum Standardbegriff wurde – und erst gegen Ende des Kriegs war das zusätzliche Attribut Großer nicht mehr wegzudenken.

Die Chronologie des Kriegs und seine Bedeutung im Verhältnis zu anderen militärischen und politischen Ereignissen waren auch nach 1945 nicht sofort in Stein gemeißelt. Der 3. September 1945 als Tag des Sieges über Japan stand noch 1947 im staatlichen Festkalender und in Denkmalsentwürfen aus der Bevölkerung gleichberechtigt neben dem 9. Mai.2 Als vaterländische Kriege konnten der Bürgerkrieg von 1917–1921, die sowjetisch-japanische Schlacht am Chasansee von 1938 und sogar der sowjetisch-finnische Krieg von 1939/40 gelten.3

Bis zur Mitte der 1960er Jahre galt der Sieg von 1945 als eine Errungenschaft des Sozialismus unter vielen. Seine Bedeutung für das historische und politische Selbstverständnis des Landes stieg jedoch kontinuierlich, nicht zuletzt auf Druck aus der Armee, den neuen Veteranenverbänden und von Verantwortlichen aus den Westgebieten der UdSSR, wo die zentrale Rolle des Kriegs bereits etabliert war.

Siegeskult und Geschichtsklitterung

Nach dem Sturz Chruschtschows im Jahr 1964 bemühte sich die neue Staatsspitze, den bereits bestehenden Kult des Großen Vaterländischen Kriegs (GVK, russ. WОW, Welikaja Otetschestwennaja Woina) zu vereinheitlichen und im ganzen Land zu etablieren. Die rückwärtsgewandte Sicht auf den Krieg als das – neben der Oktoberrevolution – wichtigste Ereignis in Russlands Geschichte überschattete zunehmend die zukunftsorientierten Versprechungen des Sozialismus. Die 1418 Tage vom 22. Juni 1941 bis zum 9. Mai 1945 wurden zum endgültigen chronologischen Rahmen; die geheimen Teile der deutsch-sowjetischen Abkommen von 1939 und die Besetzung von Teilen Osteuropas durch die Sowjetunion 1939/40 blieben aus der offiziellen Geschichtsschreibung ausgespart.

Fundament des historischen Selbstverständnisses

Nach einer Phase kontroverser Diskussionen um Interpretationen und Chronologie des Krieges während der Perestroika stieg die Bedeutung des Kults um den GVK seit Mitte der 1990er Jahre wieder kontinuierlich. Durch den Zusammenbruch des marxistisch-leninistischen Geschichtsbilds blieb der Stolz auf den Sieg von 1945 als einziger historischer Affekt übrig, der nationalen Zusammenhalt versprach. Mit Unterstützung aus der Staatsführung, oft jedoch auf Initiative der Enkelgeneration, wurde er in den 2000ern endgültig zum Fundament des historischen Selbstverständnisses in Russland und Belarus.

In den ehemaligen Sowjetrepubliken und dem ferneren Ausland sind es vor allem russischsprachige Einwohner, für deren Geschichts- und Selbstverständnis der GVK ein wichtiger Bezugspunkt ist. Inzwischen werden mehr kulturelle Artefakte (Filme, Bücher, Denkmäler usw.) zu 1941–1945 produziert als zu spätsowjetischen Zeiten. In Russland ist der Tag des Sieges am 9. Mai der mit Abstand wichtigste Nationalfeiertag.

Ereignisse der jüngsten Geschichte werden zunehmend als Neuauflage des GVK gesehen, so – durch beide Seiten – der seit 2014 andauernde Ukrainekrieg. Gerade in der Ukraine hat der Konflikt jedoch auch zu Neuinterpretationen geführt. Neben dem weiterhin bestehenden Kult um den Großen Vaterländischen Krieg werden die Ereignisse ab 1941 dort, wie schon zuvor im Baltikum, zunehmend als Teil des Zweiten Weltkriegs von 1939–1945 gesehen und das eigene Land als Opfer zweier Diktaturen dargestellt.


1.Sovenciklopedija (1985): Velikaja Otečestvennaja vojna, 1941-1945, Moskau, S. 7
2.zu einem solchen Projekt siehe: Pamjatnik Pobedy: Dokumenty po istorii sooruženija memorial’nogo kompleksa na Poklonnoj gore v Moskve (1943-1991gg.), Golden-Bi Verlag, Moskau, S. 41-49
3.Pamjatnik Pobedy: Dokumenty po istorii sooruženija memorial’nogo kompleksa na Poklonnoj gore v Moskve (1943-1991gg.), Golden-Bi Verlag, Moskau, S. 27-32
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