Ehemann kommt stockbesoffen nach Hause: Ich war heut besoffen und am Arsch. Du sagst, deine Nerven sind auf Abmarsch. Du sagst, du kannst nicht mit mir. Du sagst, du krankes Alki-Tier. Ich sag, scheiß drauf, mir schnurz, zieh Leine, ich bin Agent 007 auch alleine. Du sagst, du liebst mich nicht mehr. Du sagst, ein Schwein macht da mehr her. Ich sag, scheiß drauf, mir schnurz, hau ab, 0,5 Liter Wodka kauf ich vorab.
Ein typischer Liedtext von Sergej Schnurow – in diesem Fall aus dem Album Datschniki (dt. soviel wie Kleingärtner), mit dem er und seine Band Leningrad im Jahr 2000 berühmt geworden sind. Es ist ein schlichtes Sujet mit eigener Sprache, wie in vielen seiner Lieder: Schnurows Protagonist schuftet, kommt besoffen nach Hause, setzt sich vor die Glotze, streitet mit seiner Frau, schimpft über den Westen und verwendet ständig Kraftausdrücke (Mat). Auf diese Art thematisiert und ästhetisiert Schnurow ein Lebensgefühl und eine Lebensweise, die von vielen Menschen in Russland aufgrund ihrer Derbheit verachtet werden. Und doch wurde Schnurow in kürzester Zeit zu einem der populärsten Musiker Russlands, und seine Konzerte ziehen bis heute zigtausende Menschen an.
Sergej Schnurow, kurz Schnur genannt, mimt den russischen Mann und Macho in einer dezidiert rauen und brutalen Ausprägung. Mit dieser Rolle repräsentiert er ein Stereotyp, spielt ironisch damit und revoltiert gleichzeitig gegen eine süßliche, verweichlichte und angepasste Popkultur, die auf Russisch abwertend auch als popsa bezeichnet wird.
Diese männliche Wildheit der Band Leningrad wird auf mehreren Ebenen inszeniert. Dazu gehören, erstens, ein exzessiver Alkoholkonsum der Musiker und ihrer Konzertbesucher sowie das Besingen einer derben Saufkultur, zweitens ein ebenso exzessiver Gebrauch des russischen Mat, und drittens eine souverän gespielte Mischung aus Ska, Punk-Rock und Chanson mit eingängigen ekstatischen Rhythmen.
Sergej Schnurow wurde 1973 in der Stadt des russischen Rocks – in Leningrad – geboren und dort sozialisiert. Eine Ausbildung zum Restaurator brach er ab, wie er auch ein Philosophiestudium nicht abschloss.1 Gleichzeitig begann er Anfang der 1990er Jahre damit, Musik zu machen. Als Gründungsdatum der Gruppirowka Leningrad, wie sich die Band offiziell bezeichnet, gilt der 9. Januar 1997, damals noch mit Igor Wdowin als Lead-Sänger und Sergej Schnurow als Komponisten und Bass-Gitarristen.
Seit 1999 führt Schnurow selbst die bis zu 17-köpfige Band als Frontmann an. Die Mitglieder wechseln immer wieder, während er zu ihrem unverwechselbaren Gesicht geworden ist und inzwischen einen beachtlichen Output vorweisen kann: über 20 Studio- und Konzertalben, weit mehr als 100 Videoclips und auch einige Film-Soundtracks zählen dazu (unter anderem zu dem im Jahr 2003 entstandenen Film Bumer unter der Regie von Pjotr Buslow). Sergej Schnurow ist darüber hinaus ein gefragter Einzeldarsteller und spielt immer wieder in Filmen mit. Er tritt auch als Opernsänger, Fernsehmoderator und Maler in Erscheinung, und ist zudem in Werbespots zu sehen, so zum Beispiel für ein Potenzmittel oder für das Telekommunikationsunternehmen Ewroset (wobei letzterer Spot fast ausschließlich aus Pieptönen besteht, die Schnurows Mat gespielt zensieren). In Interviews gibt sich Schnurow dagegen durchaus auch als belesener Petersburger Intellektueller, oder er posiert in teurer Markenkleidung.2
Ein Narkotiseur Russlands
Obwohl Schnurow quer durch die Gesellschaft des ganzen Landes enorm beliebt ist und in seinen Liedern auch auf aktuelle politische Ereignisse reagiert, ist seine gesellschaftliche Rolle alles andere als unumstritten. So bezeichnet ihn der bekannte Musikkritiker Artemi Troizki als einen „Narkotiseur Russlands“, als „Lackierer der russischen Realität“, der einerseits das „wahre“ Leben besinge, in dem alles scheiße sei – wir, ich, du –, dabei gleichzeitig aber zu verstehen gebe, „wie cool das alles ist und wie fröhlich es sich hier leben lässt“.3 Das spiele – so Troizki – dem Kreml in die Hände, weswegen Schnurow eine der wichtigsten „geistigen Klammern“ der russischen Gesellschaft sei – neben dem Tag des Sieges und der Angliederung der Krim. Die Staatsführung, die traditionelle Werte propagiert und mit einem gesetzlichen Verbot gegen Mat in den Medien und in der Kunst vorgeht, toleriert die Auftritte von Leningrad und würdigt die Band sogar öffentlich.4
Männliche Wildheit und Saufkultur
Schnurow ist jedoch zweifelsohne kein ideologiekonformer Patriot. Eines seiner Erfolgsgeheimnisse liegt vielmehr in seiner affirmativen und gleichzeitig ironisch-distanzierten Haltung gegenüber seiner medialen Persona. So besingt Schnurow die im russischen Selbstbild verankerte besondere „männliche Souveränität“ in der Welt mit den Worten „überall ist es besser, wo wir sind / wo wir aber nicht sind, ist es schlecht“ („Choroscho tam, gde my est / no gde nas net, tam plocho“), während das männliche Selbstbewusstsein in anderen Liedern wieder als vom Wodka beflügelter Größenwahn und national-patriotischer Chauvinismus entlarvt wird. Dies geschieht im Song Kogda-nibud (dt. Irgendwann), der in das Album Vetschny ogon (dt. Ewiges Feuer, 2011) Eingang fand. Schnurows Ironie geht hier bereits aus dem Titel hervor: Denn das Plattencover zeigt nicht etwa – wie der Albumtitel ausgehend von bestehenden Ehrenmalen vermuten ließe – eine den gefallenen Soldaten des Großen Vaterländischen Kriegs gewidmete Gedenkstätte, sondern den bläulichen Flammenkranz eines Gasherdes.
Lachen über sich selbst
In Kogda-nibud sind alternierend eine männliche und eine weibliche Stimme zu hören. Während der männliche Part eine grobe und aggressive Ansammlung patriotischer Phrasen herausbrüllt, auf Deutsch sinngemäß „wir, verdammt, sind Kulturträger / wir sind ein orthodoxes Land“ („My, bljad, nositeli kultury / my prawoslawnaja strana“), holt die sanfte weibliche Gegenstimme diesen Höhenflug, der in dem animierten Clip als sowjetischer Traum vom Kosmos daherkommt, auf den Boden der Realität zurück: „Irgendwann wirst du das Trinken aufgeben / und ich werde dich zum Arzt bringen“ („Kogda-nibud ty brosisch pit / ja otwedu tebja k wratschu“).
Auf diese Weise gelingt es Schnurow, die Rolle des „Volkssängers“ und die des Gesellschaftskritikers in sich zu vereinen. Damit erreicht er, was nur Wenigen gelingt, nämlich dass das von ihm besungene russische „Volk“ mitunter auch über sich selbst lachen kann. Wie Schnurow selbst in einem Interview sagte: „Solange wir über uns selbst lachen können, [...] bleiben wir im Rahmen des Vernünftigen. Wenn wir das einmal nicht mehr können, ist alles [pisdez] im Arsch.“5