Kirchen, einstige Adels-Residenzen oder Gutshäuser – der belarussische Fotograf Valery Vedrenko beschäftigt sich mit der belarussischen Geschichte auf dem Landstrich zwischen Polesien im Süden und der Seenlandschaft im Norden von Belarus. Er fotografiert Bauten, die oft wie in die Gegend gewürfelt scheinen: Kleinode, klassizistisch, barock oder gotisch.
Allesamt erzählen sie viel über die Geschichte seines Landes, die bis in die Zeit des Großfürstentums Litauen zurück reicht. Einige der Orte sind für die Nachwelt erhalten worden, besitzen sogar Unesco-Weltkulturerbestatus; andere sind sich selbst überlassene Ruinen.
Vedrenko wurde mehrfach für seine Arbeit ausgezeichnet. Er hat sich mit unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen einen Namen gemacht, darunter mit Grafiken, Filmen und Malerei. Mit der Digitalisierung, sagt er, fand er einen ganz eigenen Zugang zur Fotografie, seither lässt er die Kunstformen miteinander verschmelzen. Wenn er die belarussischen Baudenkmäler dokumentiert, über die Jahre immer wieder zu ihnen zurückkehrt, hält er sich an digitale Schwarz-Weiß-Aufnahmen, ohne Filter, ohne Effekte. So sind Bilder entstanden, die auch zeigen, wie schwer es dieses kulturelle Erbe in Belarus hat, einen festen Platz zu finden.
dekoder: Ihre Fotografien zeigen Architekturdenkmäler, hauptsächlich Kirchen. Glockentürme zwischen Bäumen, Ruinen im Wald oder imposante Gebäude entlang ausgestorbener Dorfstraßen. Wie kommt es zu dieser Motivauswahl?
Valery Vedrenko: Mich interessieren Sujets mit eigener Biografie. Die Wahl der Motive ergibt sich daher quasi von selbst. Die Architekturdenkmäler in den belarussischen Großstädten sind aus ihrem historischen Kontext gerissen und wirken eher wie Museumsstücke, die ihres natürlichen Umfelds beraubt sind. Daher reise ich umher und fotografiere in kleinen Ortschaften und Dörfern, in denen die Landschaft und das Alltagsleben noch mehr oder weniger natürlich sind. Allerdings gibt es von diesen Orten mit jedem Jahr weniger, und auch die Motive selbst verschwinden. Sie werden von den neuen Besitzern nach Gusto umgebaut, während sich die Orte selbst in ländliche Siedlungen verwandeln, die dem Muster einer belarussischen Agrogorodok entsprechen.
Die Fotoserie heißt Landschaft der Trauer. Ist Belarus das Land der vergessenen Ruinen?
Belarus hat zwei Gesichter. Es gibt das touristische und das lebendige Belarus. Im ersten werden Ihnen ein Dutzend restaurierter Schlösser und Kathedralen präsentiert, im zweiten finden Sie hunderte Kirchen, Gutshäuser und Wirtschaftsgebäude, die zu Ruinen verfallen. Zum historischen Erbe pflegt die Regierung ein Verhältnis wie zum Sport: Wichtig sind nur die Plätze auf dem Podest. Finanzielle Mittel werden nur für die herausragenden Denkmäler bereitgestellt, die Gewinn einbringen und von denen es nicht mehr viele gibt. Um die anderen sollen sich die lokalen Behörden kümmern, die weder über Geld, noch über die fachliche Ausbildung, noch über Infrastruktur verfügen. Deshalb nagt an vielen Architekturdenkmälern in den kleinen Städten und Dörfern der Zahn der Zeit, der leider alles in Ruinen verwandelt. Ich versuche, diese traurige Entwicklung in meinen Bildern festzuhalten, daher der Titel des Projekts.
Hängt die Tatsache, dass Kulturdenkmäler verfallen und in Vergessenheit geraten auch damit zusammen, dass die Belarussen ihre eigene Geschichte oft schlecht kennen?
Natürlich. Da kommen wir schon in den Bereich von Politik und der Bildung, die ihr untersteht. Um eine Metapher zu bemühen: Wenn in der Sowjetunion die Geschichte mit dem Jahr 1917 begann, dann hat die Geschichte in Belarus mit der Wahl der heutigen Staatsführung begonnen. Alles, was davor war, ist kaum von Bedeutung. Die wirkliche Geschichte des Landes kann man nur in den Bibliotheken erfahren, nicht in den Schulbüchern, die alle fünf Jahre je nach aktueller Lage umgeschrieben werden. Ein solches Verhältnis zur Vergangenheit spiegelt sich unweigerlich auch im Zustand des architektonischen Erbes.
Kann es also sein, dass der Staat kein Interesse daran hat, die Erinnerung an die Geschichte zu bewahren?
Ich werde Ihnen meinen Standpunkt dazu erläutern: In Belarus gibt es weder eine klare Vorstellung von der eigenen Geschichte noch eine Beziehung zu ihr. Alles unterliegt der politischen Konjunktur. Was gestern noch erlaubt war, ist heute bereits verboten, und umgekehrt. Dieser Umstand wirkt sich auf die Einstellung der Beamten und lokalen Behörden aus, die über den Schutz des architektonischen Erbes entscheiden. Er führt zu Gleichgültigkeit nach dem Motto „Nur nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, nichts übereilen“. Und am einfachsten lässt sich das Problem mit der Antwort lösen: „Dafür ist kein Geld da“.
Wie ist die Idee zu diesem Fotoprojekt entstanden?
Ich war schon mein Leben lang viel in Belarus unterwegs. Als die Fotografie zu meiner Hauptbeschäftigung wurde, zeichnete sich auch das Genre ab, das mir besonders lag: historische Landschaften. Aus irgendeinem Grund befanden sich die meisten noch erhaltenen Architekturdenkmäler im Westen des Landes. Die Serie (etwa 500 Fotografien) ist das Ergebnis zahlreicher Reisen in diese Regionen und ich beschloss, sie in einem Kunstband zu vereinen. Nach Sichtung und Analyse des aufgenommenen Materials trat jener spezifische Ton hervor, der dem Projekt seinen Namen gab.
Aus welcher Zeit stammen die Ruinen, die Sie fotografieren, und warum sind sie in so schlechtem Zustand?
Aus der Zeit zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert, als das Großfürstentum Litauen und dann später die Rzeczpospolita seine Bedeutung verlor und unsere Gebiete an das Russische Reich fielen. Am besten erhalten ist die Architektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der Klassizismus, der Jugendstil, die Neugotik ... Aber was die Geschichte bis dahin verschont hatte, fiel entweder dem letzten Krieg oder dem Sowjetregime zum Opfer. Die meisten sakralen Bauten und Gutshöfe wurden in Kolchosen verwandelt und solange sie standen, auch genutzt. Doch mit der Zeit wurde alles baufällig, die Gebäude hätten restauriert werden müssen, aber sie wurden, als sie ausgedient hatten, einfach verschlossen und ihrem Schicksal überlassen. In den 1990er Jahren gingen einige Gebäude an die Kirchengemeinden zurück, aber die alten Höfe blieben verwaist.
Welche Fotografie aus dieser Serie gefällt Ihnen selbst am Besten und warum?
Da gibt es selbstverständlich nicht die Eine. Aber es gibt eine Fotografie, die ich als Titelbild des Bandes Landschaft der Trauer verwenden wollte. Sie zeigt eine alte Lärche auf dem Friedhof von Ljachawitschy im Bezirk Brest. Ich finde, dass diese Fotografie aus dem Jahr 2013 sehr gut den Reichtum der Vergangenheit und die traurige Gegenwart des historischen Andenkens in Belarus widerspiegelt.
Gibt es irgendwelche lokalen Initiativen, Projekte oder Hilfen, um Gebäude zu retten, die sich in einem besonders schlechten Zustand befinden?
Die gibt es. Es gibt Versuche, leerstehende baufällige Gebäude bei Auktionen zu verkaufen. Manchmal, eher selten finden sich tatsächlich Käufer. Aber ich erinnere mich an keinen Fall, in dem das gekaufte historische Gebäude fachmännisch restauriert und entsprechend wieder genutzt wurde. Die für Belarus einzigartigen Schlösser in Shamyslaul und Shaludok haben schon mehrfach den Besitzer gewechselt. Ich war im September dieses Jahres dort und konnte nicht sehen, dass sich an ihrem traurigen Schicksal etwas geändert hätte. In der Regel treten die neuen Besitzer nach drei bis vier Jahren von ihrem Kauf zurück. Sie sind sich dann stärker bewusst, in was für einer Lage sich diese Schlösser befinden: Weit weg von den Hauptverkehrsstraßen – da gibt es keine Infrastruktur. Keine Hotels, keine Cafés, kein Freizeitangebot. Keine brauchbaren Straßen. Sie sehen sich mit zahlreichen Bau- und Sanierungsproblemen konfrontiert und begreifen, dass sie das investierte Geld nie wieder reinholen werden.
Wie arbeiten Sie normalerweise, wie kann man sich das vorstellen: Suchen und finden Sie Ihre Motive mehr oder weniger zufällig, wenn Sie unterwegs sind? Oder wissen Sie im Voraus, wohin Sie fahren wollen und welches Motiv Sie genau interessiert?
Da gibt es kein System. Selbst wenn ich an einen mir unbekannten Ort fahre, komme ich unterwegs unweigerlich an Orten vorbei, an denen ich schon mehrmals war. Belarus ist nicht groß. Das macht es leichter, Veränderungen wahrzunehmen und zu dokumentieren, sowohl die positiven als auch die negativen, wenn zum Beispiel etwas instandgesetzt wurde oder ein Haus, das eben noch da war, inzwischen eingestürzt ist. Aber besonders interessant ist, dass ich an mir bekannten Orten jedes Mal Motive entdecke, die ich zuvor noch nicht gesehen habe.
Wehrschloss von Mir, zunächst in gotischem Stil erbaut, später erweitert und umgebaut, Renaissance- und Barockeinflüsse. Genießt heute Welterbestatus der Unesco, fotografiert im Jahr 2011 / Foto © Valery Vedrenko
Ruinen der Burg von Nawahrudak, wo der litauische Großfürst Mindaugas seinen Sitz hatte, erbaut im 13. Jahrhundert, fotografiert im Jahr 2012 / Foto © Valery Vedrenko
Ursprünglich rein gotische, später umgebaute Christi-Verklärungskirche in Nawahrudak aus dem 14. Jahrhundert. Grundstein von Großfürst Witold gelegt, fotografiert im Jahr 2012 / Foto © Valery Vedrenko
Klassizistische Kirche aus dem 19. Jahrhundert im Dorf Wischnewo im Norden von Belarus, fotografiert im Jahr 2015 / Foto © Valery Vedrenko
Kirche und Kirchturm aus dem 19. Jahrhundert, in einem Dorf nordwestlich von Minsk, fotografiert im Jahr 2013 / Foto © Valery Vedrenko
Katholischer Golgatha-Friedhof in Minsk, auf dem auch belarussisch-polnisch-litauische Adelsgeschlechter bestattet sind. Im Hintergrund: Kirche der Kreuzerhöhung, im 19. Jahrhundert als Steinkirche (wieder-)errichtet, fotografiert im Jahr 2016 / Foto © Valery Vedrenko
Kapelle auf einem Friedhof, erbaut im 19. Jahrhundert, Stadt Waloshyn, fotografiert im Jahr 2015 / Foto © Valery Vedrenko
Kirche auf einem Friedhof im Städtchen Iwjanez. Ein Wagen zum Transport der Särge steht vor dem Eingang, fotografiert im Jahr 2017 / Foto © Valery Vedrenko
Kapelle im Wald nahe dem Dorf Hruschauka, Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut. Sie gilt als Grab-Gewölbe der polnischen Adelsfamilie Reitan, fotografiert im Jahr 2010 / Foto © Valery Vedrenko
Alte Dorfstraße, Warontscha, fotografiert im Jahr 2010 / Foto © Valery Vedrenko
Njaswish, frühere Residenz des polnisch-litauischen Adelsgeschlechts Radziwiłł aus dem 15./16. Jahrhundert. Seit 2005 mit Welterbestatus der Unesco, fotografiert im Jahr 2011 / Foto © Valery Vedrenko
Grabstein auf einem Friedhof im Dorf Lasduny, fotografiert im Jahr 2015 / Foto © Valery Vedrenko
Siedlung Sembin: Ruinen einer Kirche, die im 19. Jahrhundert erbaut wurde, allerdings einen Vorgänger an selber Stelle aus dem 18. Jahrhundert hatte, fotografiert im Jahr 2017 / Foto © Valery Vedrenko
Eine verfallene Kapelle im Schatten einer alten Lärche auf einem Friedhof in Ljachawitschy, fotografiert im Jahr 2016 / Foto © Valery Vedrenko
Katholische Kirche in Rubjashewіtschy, eine ländliche Siedlung südwestlich von Minsk. Erbaut im neogotischen Stil Anfang des 20. Jahrhunderts, fotografiert im Jahr 2016 / Foto © Valery Vedrenko
Kirche, neogotischer Stil, erbaut zu Beginn des 20. Jahrhunderts, fotografiert im Jahr 2013 / Foto © Valery Vedrenko
Schloss in Shaludok, das der polnische Architekt Władysław Marconi für die fürstliche Familie Czetwertyński entworfen hatte, erbaut 1908, Neobarock, fotografiert im Jahr 2017 / Foto © Valery Vedrenko
Kreuzung im Dorf Galschany im Nordwesten von Belarus nahe der litauischen Grenze, fotografiert im Jahr 2014 / Foto © Valery Vedrenko
Fotograf: Valery Vedrenko
Bildredaktion: Andy Heller
Interview: dekoder-Redaktion
Übersetzung: Henriette Reisner
Veröffentlicht am: 30.09.2021