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FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Ukraine-Krieg?

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Belarus spielt im Krieg gegen die Ukraine eine zentrale Rolle: Für Russland war es möglich, von dort aus am 24. Februar 2022 direkt die ukrainische Hauptstadt Kiew anzugreifen. Doch insgesamt wirft das Verhalten von Machthaber Alexander Lukaschenko viele Fragen auf: Warum hilft er dem russischen Präsidenten Wladimir Putin? Wie fest steht er an dessen Seite? Hat er eigene Interessen, und wenn ja, welche? Und wie stehen die Belarussinnen und Belarussen zum Krieg?

In unserem FAQ, das Stück für Stück weiter wachsen wird, sammeln wir zentrale Fragen zum Krieg und lassen sie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beantworten: FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Krieg gegen die Ukraine?

FAQ #1: Putins Angriffskrieg auf die Ukraine
FAQ #2: Wie kann man diesen Krieg beenden?
FAQ #3: Neutrale Ukraine – ein Ausweg aus dem Krieg?
FAQ #4: Kriegsverlauf in der Ukraine: Was wir wissen – und was nicht
   

Источник dekoder

1. Inwiefern ist Belarus am Krieg gegen die Ukraine beteiligt?

2. Kann Belarus aus diesem Krieg irgendwelche Vorteile für sich ziehen?

3. Belarus ist also Aufmarschgebiet für russische Truppen – wie konnte es dazu kommen? Und wieso dann nicht schon früher?

4. Was denken die Belarussen? Gibt es keine Proteste gegen den Krieg?

5. Was erfährt man in Belarus überhaupt vom Krieg? 

6. War Lukaschenko nicht eh schon immer Russlands Marionette?
 

 

1. Inwiefern ist Belarus am Krieg gegen die Ukraine beteiligt?

Nach allem, was bekannt ist, steht fest: Belarussische Truppen oder Sicherheitskräfte waren und sind bisher nicht am Krieg in der Ukraine beteiligt. Belarus unterstützt Moskau aber bei der Invasion, allen voran mit seinem Territorium, das zum Durchgangshof der russischen Armee geworden ist. Dafür waren russische Truppen vor dem Krieg unter dem Vorwand gemeinsamer Militärmanöver von Russland nach Belarus verlegt worden und sind von dort aus auf Kiew vorgedrungen. Zudem deuten zahlreiche Hinweise darauf hin, dass ukrainisches Staatsgebiet von belarussischem Territorium aus beschossen wird1

Im Laufe der ersten Kriegsmonate haben sich die russisch-militärischen Aktivitäten, die mit dem belarussischen Staatsgebiet verbunden sind, verringert, ebenso die Zahl russischer Truppen in Belarus – die weiter präsent sind. Das hing sicherlich mit dem russischen Rückzug aus dem Raum Kiew ab Ende März zusammen.
Zum Teil könnte auch weitere belarussische Infrastruktur im Krieg genutzt worden sein, zum Beispiel für die Versorgung mit Treibstoff2. Über die militärische Zusammenarbeit haben Putin und Lukaschenko bei einem Treffen außerdem erst Ende Juni erneut verhandelt

Doch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) schätzte die Lage im April so ein, dass Belarus – auch wenn russische Truppen von dort aus agier(t)en – keine Kriegspartei sei. An den Ausgangsbedingungen zu dieser Analyse hat sich im Wesentlichen nichts geändert.

Zugleich gibt es zivile Belarussinnen und Belarussen, die sich der ukrainischen Seite angeschlossen haben. So haben sich manche Aktivisten der belarussischen Opposition bereits seit 2014 als Freiwillige bei den ukrainischen Streitkräften gemeldet3. Ihre Zahl wuchs nach Beginn der großflächigen Invasion der Ukraine weiter an. Sie durften auch eigene Einheiten in der ukrainischen Armee bilden, allerdings bleiben Truppenstärke sowie ihre genaue Funktion bislang unklar. Außerdem gab es Sabotageakte an den Eisenbahnlinien von Belarus nach Russland, mit dem proklamierten Ziel, den Transport von militärischem Gerät zu unterbinden. 

Siarhei Bohdan
Politischer Analyst am Ostrogorski Centre Minsk/London

2. Kann Belarus aus diesem Krieg irgendwelche Vorteile für sich ziehen?

Nein, Belarus hat mit diesem Krieg nichts zu gewinnen, sondern kann sogar alles verlieren. Dafür sprechen gleich mehrere Punkte: 

Die Menschen: Ein Gemetzel mit den Ukrainern, die in Belarus als Brudervolk wahrgenommen werden, ist für sich genommen, eine Tragödie – was unter Belarussinnen und Belarussen auch vielfach so gesehen wird.

Die Wirtschaft: Der Krieg bedeutet den De-facto-Verlust der Ukraine als bedeutendem Handelspartner, mit dem zuletzt auch ein stets steigendes Handelsvolumen verbunden war. 

Das Verhältnis zur EU: Der Krieg verschärft für das belarussische Regime die Konfrontation mit der EU und den NATO-Mitgliedstaaten. Das Verhältnis ist seit dem Protestjahr 2020 ohnehin massiv belastet, Belarus isoliert und mit Sanktionen belegt.

Das Regime: Lukaschenko könnte sich auch in seinem Machterhalt bedroht sehen. Umfragen zufolge lehnt ein immerhin deutlich wahrnehmbarer Teil der Bevölkerung ↓ den Krieg ab, darunter auch Anhänger des Lukaschenko-Lagers. Damit wäre zumindest offen, ob ein Kriegseintritt nicht auch – trotz der harten Repressionen – neue Proteststimmung im Land befördert. 

Entsprechend ließ die belarussische Führung die Nutzung des eigenen Territoriums durch Moskau für den Vorstoß auf Kiew regelrecht über sich ergehen. Experten gehen davon aus, dass Alexander Lukaschenko in die Angriffspläne nicht eingeweiht gewesen ist – auch wenn er zuvor verbal in Richtung Westen ausgeteilt hat. Soweit bekannt, hat Minsk bei den russischen Kriegsvorbereitungen selbst keinen aktiven Beitrag geleistet. Lukaschenko hat Anfang Mai zudem – für belarussische Verhältnisse auffallend – kritische Töne am Vorgehen des Kreml geäußert. 

Siarhei Bohdan
Politischer Analyst am Ostrogorski Centre Minsk/London

3. Belarus ist also Aufmarschgebiet für russische Truppen – wie konnte es dazu kommen? Und wieso dann nicht schon früher?

Das hat mit drei Faktoren zu tun, die sich gegenseitig bedingen: mit der politischen Isolierung von Minsk seit dem Protestjahr 2020, der entsprechend gewachsenen belarussischen Abhängigkeit von Moskau und den damit eröffneten Möglichkeiten für den Kreml, mehr russisches Militär nach Belarus verlegen zu können.

Um das genauer zu verstehen, ist es wichtig, sich die gesamte Entwicklung der Jahre seit Annexion der Krim vor Augen zu führen: Minsk hat seit 2014 die zweigleisige Strategie ↓ verfolgt, einerseits Verbündeter an der Seite Russlands zu sein, sich andererseits aber kritisch von der Ukraine-Politik des Kreml zu distanzieren. Damit hatte Kiew, allen Spekulationen zum Trotz, aus nördlicher Richtung kaum etwas zu befürchten. Für die Kiewer Führung war das entscheidend, weil die ukrainische Hauptstadt unweit der belarussischen Grenze liegt, das Land also von dieser Flanke sehr verletzlich ist. Sprich: Ohne diesen belarussischen Balkon war es dem Kreml bis vor kurzem nicht möglich, einen Großangriff zu wagen. 

Tatsächlich war der Zugang für die russische Armee zum belarussischen Territorium bis zum Jahr 2020 sehr begrenzt. So hatte Minsk stets dafür gesorgt, gemeinsame Übungen fern der ukrainischen Grenze abzuhalten. Auch wurde die belarussische Armee wenig auf ein mögliches Zusammenwirken mit russischen Streitkräften vorbereitet: Zum Beispiel nahmen an den Manövern oft dieselben Einheiten aus Belarus teil, die überdies nur einen geringen Teil der gesamten belarussischen Armee ausmachten. Selbst die Ausrüstung der Streitkräfte beider Länder unterschied sich zunehmend voneinander

Schon im Herbst 2020 beeilte sich der Kreml, gemeinsame Manöver zu starten –  mit bis dahin beispiellosen Truppenverschiebungen an die belarussisch-ukrainische Grenze.

Nach der brutalen Unterdrückung der Proteste durch das belarussische Regime im Jahr 2020 änderte sich diese Ausgangslage komplett. Das erweist sich rückblickend als Schlüsselmoment für eine geopolitische Umwälzung in der Region: Wegen der 2021 verhängten massiven westlichen Sanktionen gegen Belarus hielt sich Machthaber Alexander Lukaschenko fortan noch stärker an den Kreml. Schon zuvor war er in hohem Maße von russischen Krediten und Subventionen abhängig. Das verstärkte sich nun, so dass sein politisches Überleben mehr denn je die Rückendeckung aus Moskau braucht, während er nach innen mit immer schärferen Repressionen herrscht.

Die regelmäßige direkte Anwesenheit russischen Militärs dehnte sich in der Folge für weitere hunderte Kilometer westwärts aus. Denn schon im Herbst 2020 beeilte sich der Kreml, gemeinsame Manöver zu starten –  mit bis dahin beispiellosen Truppenverschiebungen an die belarussisch-ukrainische Grenze, Luftlandeoperationen und einem in seinem Umfang ebenfalls bis dahin nicht dagewesenen Einsatz der strategischen Luftwaffe. Seither stieg die Zahl der gemeinsamen Manöver drastisch an. Damit war die Bedrohung der Ukraine entlang der belarussisch-ukrainischen Grenze seit dem Jahr 2020 kontinuierlich gewachsen. Auch eine ständige Präsenz russischer Truppen besteht inzwischen in Belarus. Im Jahr 2021 konnte Moskau zum ersten Mal den Aufbau eines russischen Militärstützpunktes durchsetzen: In der Region Grodno soll ein gemeinsames militärisches Ausbildungszentrum für Luftwaffe und -abwehr entstehen4. Zudem wurde begonnen, russische Kampfflieger auf belarussische Luftstützpunkte zu verlegen5. Ähnliche Vorstöße der russischen Seite waren zuvor jahrelang ergebnislos verlaufen.

Siarhei Bohdan
Politischer Analyst am Ostrogorski Centre Minsk/London

4. Was denken die Belarussen? Gibt es keine Proteste gegen den Krieg?

Еs ist schwer zu sagen, was die Belarussinnen und Belarussen über den Krieg denken. Das Land wird repressiv regiert, unabhängige Umfrage-Institute existieren, wenn überhaupt, dann nur im Exil. So gibt es nur wenige aktuelle Zahlen, die zumindest Anhaltspunkte liefern können, darunter von der Belarussischen Analysewerkstatt, die jüngsten aber vom Soziologen Ryhor Astapenia bei Chatham House. Dort gaben 40 Prozent der Befragten bei einer Online-Umfrage von Mitte April 2022 an, gegen den Krieg zu sein. 32 Prozent befürworteten den Krieg. Die Zahlen zeigen auch, dass es insgesamt eine verbreitete Angst gibt, in den Krieg mit eigenen Truppen hineingezogen zu werden.

Allerdings sind hierbei mindestens zwei Dinge zu beachten: Einerseits könnte die Zahl der Befürworter höher sein, weil die Befragungen nur online erfolgten, nicht wie sonst häufig bei solchen Erhebungen auch per Telefon. Damit zusammenhängende Verzerrungen können nicht ganz korrigiert werden. Zweitens könnte genauso die Zahl der Kriegsgegnerinnen in Wirklichkeit höher sein, sich in den Zahlen aber womöglich nicht ausdrücken: Dadurch, dass Belarus die russische Attacke mit der Überlassung des eigenen Territoriums unterstützt, könnten sich manche dazu gedrängt gefühlt haben, befürwortend zu antworten, obwohl sie eigentlich dagegen sind – aus Angst vor persönlichen Konsequenzen.

Unabhängig davon, wie belastbar diese Zahlen sind, sprechen die Handlungen einiger Belarussinnen und Belarussen für sich: Zum Kriegsausbruch gab es kleinere protestartige Menschenversammlungen6, vor der ukrainischen Botschaft in Minsk wurden Blumen abgelegt (oft gelb und blau eingewickelt). Die gelb-blaue Farbsymbolik der ukrainischen Flagge spiegelt sich auch in verwendeten Haarschleifen und Schals. Das ist in einem Land, das so autoritär regiert wird wie Belarus, schon durchaus bemerkenswert, weil die Menschen für diesen offen gezeigten Protest harte Strafen in Kauf nehmen. Auch kommt es zu Sabotageakten an den Eisenbahnlinien, die als Zeichen des Protestes gewertet werden können. 

Jan Matti Dollbaum
Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen 

5. Was erfährt man in Belarus überhaupt vom Krieg? 

In Belarus ist es noch möglich, Informationen zum Krieg zu erhalten, weil es im Exil unabhängige belarussische Online-Medien gibt, die darüber berichten. Das muss man mit einer Einschränkung sagen: Ihre Webseiten sind in Belarus so gut wie alle gesperrt, so dass die Leute dafür VPN-Zugänge benötigen. Was hilft, ist, dass die Inhalte auch über Plattformen wie Telegram, Youtube und Facebook verbreitet werden. Die Exil-Medien sind entstanden, nachdem die Mehrheit der unabhängigen belarussischen Journalistinnen und Journalisten nach dem Protestjahr 2020 und den darauf folgenden harten Repressionen das Land verlassen haben. Nur im Ausland ist es noch möglich, regierungskritisch sowie zu heiklen sozialen und politischen Themen zu berichten. Dazu gehört auch der russische Überfall auf die Ukraine. 

Was außerdem –  im Unterschied zu Russland – in Belarus noch zugänglich ist: Ukrainische Nachrichtenseiten im Internet, die über den Krieg berichten. 

Bleibt also die Frage, ob die Informationen, die es gibt, Menschen in Belarus auch tatsächlich erreichen. In einer aktuellen Umfrage der Belarussischen Analysewerkstatt des Soziologen Andrej Wardomazki gaben 63 Prozent der Befragten an, sich vor allem über Telegram-Kanäle oder Youtube zu informieren. Auf beiden Plattformen dominieren unabhängige belarussische Exil-Medien als Informationsquellen, die damit eine starke Bedeutung haben. 
55 Prozent der Befragten erhalten ihre Informationen vorwiegend aus dem belarussischen oder russischen Staatsfernsehen7. Blickt man auf frühere Befunde, relativieren sich diese Zahlen ein wenig, weil es nur rund 16,3 Prozent der Befragten sind, die dem belarussischen Staatsfernsehen überhaupt Vertrauen entgegenbringen8. Selbes gilt für das russische Staatsfernsehen, das für eine Mehrheit im Land noch vor fünf Jahren als vertrauenswürdige Quelle galt, sogar viel eher als das eigene Staatsfernsehen. Wie man sieht, hat sich das geändert.

Dazu muss man wissen, dass das belarussische Staatsfernsehen die Narrative des russischen Staatsfernsehens eins zu eins kopiert: Dass es in diesem Krieg darum gehe, angebliche Nazis in der Ukraine zu bekämpfen, mit Minsk an der Seite Moskaus gegen die gesamte Welt. Diese staatliche Propaganda mag also dieselbe wie in Russland sein, doch sie trifft auf eine vollkommen andere Gesellschaft. Nämlich eine, die sich viel stärker von seiner politischen Elite abgekapselt hat als die russische. Wenn wir also über belarussische Staatspropaganda sprechen, sollte man ihre Wirkung nicht überbewerten, weil sie weit weniger bei den Menschen verfängt. 

Auch wenn Machthaber Alexander Lukaschenko oft laut und markig gegen den Westen, Polen oder Litauen poltert, so ist es in diesem Zusammenhang interessant zu sehen, dass die Botschaften, die er verbreitet, trotzdem sehr viel friedvoller sind als das, was das eigene Staatsfernsehen sendet. Lukaschenko will permanent vermitteln, dass Belarus an diesem Krieg in keiner Weise beteiligt sei und versucht, den Umstand für sich zu nutzen, dass die belarussische Armee selbst nicht an der Seite Moskaus steht. Damit dürfte er sich erhoffen, bei der westlichen Staatenwelt an den Sanktionen gegen sein Land zu rütteln – bislang jedoch ohne Erfolg ↓.

Die unabhängigen belarussischen Medien nennen den Krieg dagegen einen Krieg und berichten darüber so, wie es in allen anderen Ländern mit freien Medien auch der Fall ist.

Aliaksandr Papko
Politikwissenschaftler am Think Tank EAST-Zentrum und Fernsehjournalist in Warschau

6. War Lukaschenko nicht eh schon immer Russlands Marionette?

Jein. Die Russland-Politik von Machthaber Alexander Lukaschenko war stets vor allem eins: eigennützig. Daher lässt er sich nicht einfach als Marionette des russischen Präsidenten Wladimir Putin bezeichnen. Eher als Junior-Verbündeter, der sich oft loyal und ergeben zeigt, aber eigene Ziele hat. Deshalb verfolgte er lange eine Schaukelpolitik zwischen der Europäischen Union und Russland, hat dafür jedoch seit dem vergangenen Jahr den Spielraum verloren.

Schauen wir uns die Entwicklung seit Lukaschenkos Machtantritt 1994 genauer an: Ohne russische Subventionen wäre der Erfolg seines Herrschaftsmodells nicht denkbar. Mit Boris Jelzin als russischem Präsidenten hatte es Lukaschenko allerdings noch leicht, weil dieser dafür kaum Gegenleistungen erwartete. Zugleich unterstützte Lukaschenko mit seiner antiwestlichen Rhetorik die Position des Kreml während des Kosovo-Kriegs9 und in Bezug auf die Nato-Osterweiterung10

Unter Wladimir Putin begann der Kreml allerdings, die Subventionen für Belarus erstmals mit der Erwartung zu verknüpfen, dass das Land auf einzelne nationale Hoheitsrechte verzichtet. Der noch zu Jelzins Zeiten unterzeichnete „Vertrag über die Bildung eines Unionsstaates“ zwischen Belarus und Russland entwickelte sich damit von einem Lippenbekenntnis zu einem Forderungskatalog. Lukaschenko widersetzte sich jedoch und sicherte sich die weiteren russischen Subventionen, indem er einen außenpolitischen Kurswechsel Richtung Westen androhte. Gleichzeitig gelang es ihm, substanzielle Demokratisierungs­forderungen der EU und der USA – mit dem Verweis auf die Gefahr einer russischen Intervention  – abzuwehren11

Im Westen wurde diese Schaukelpolitik sehr wohl wahr-, jedoch auch in Kauf genommen. Aus westlicher Sicht zählte in erster Linie, dass Lukaschenko weder nach dem Georgienkrieg 2008 noch im Fall der Ukraine 2014 offiziell die Position des Kreml unterstützte. Damit empfahl er sich für eine Vermittlerrolle in den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Das führte im Jahr 2016 sogar zur Aufhebung aller Sanktionen, die der Westen nach der Präsidentschaftswahl vom Dezember 2010 gegen Belarus verhängt hatte.

Die Massenproteste nach der Präsidentschaftswahl im August 2020 veränderten die politische Konstellation für Lukaschenko jedoch grundlegend: Erstmals verdankt er sein politisches Überleben allein Putin, zudem erkennt der Westen ihn seitdem nicht länger als Präsidenten an. Über Asylsuchende an der Grenze zwischen Belarus und Polen versuchte Lukaschenko Ende 2021 vergeblich gegenüber der Europäischen Union neue Verhandlungen zu erzwingen. Gleichzeitig bot sich Lukaschenko dem Kreml wieder als antiwestlicher Vorposten an, um dessen weitergehende Forderungen zur Bildung des Unionsstaates klein zu halten. Lukaschenkos neue Abhängigkeit zeigte sich insbesondere im massiven Ausbau der russischen Militärpräsenz in Belarus ↑.
So bietet der Krieg für Lukaschenko dieses Mal – im Unterschied zu 2014 – keine Möglichkeit, sich als Vermittler zu profilieren. Stattdessen wird er vom Westen und der Ukraine als Handlanger des Kreml wahrgenommen. 

Astrid Sahm
Politikwissenschaftlerin an der Stiftung Wissenschaft und Politik

 


Russland führt Krieg gegen die Ukraine. dekoder stellt die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen. Gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern geht es in diesem FAQ darum, fakten- und wissenschaftsbasiert zu erklären und einzuordnen, was man zu Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wissen muss.

Stellen Sie uns gern auch Ihre Fragen – per Email unter dekoder-lab@dekoder.org. Wir werden versuchen, mit Expertinnen und Experten aus europäischen Universitäten Antworten darauf zu finden.

Diese Reihe entsteht in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin und wird von der Alfred-Toepfer-Stiftung F.V.S. unterstützt.

Veröffentlicht am 05. Juli 2022


 

1. Die Monitoring-Gruppe „Belaruski Hajun“ um den Aktivisten Anton Motolka trägt regelmäßig Hinweise zu russischem Raketenbeschuss von Belarus aus zusammen, ebenso zu russischen Truppenbewegungen auf dem Staatsgebiet von Belarus. Den Recherchen nach könnten es bisher mindestens 630 Raketenabschüsse gewesen sein. vgl. Berichterstattung der unabhängigen Online-Zeitung Nasha Niva З Беларусі па Украіне была запушчаная як мінімум 631 ракета und die Veröffentlichungen (engl.) der Gruppe auf Youtube: 631 missiles in 70 days: Timeline of the entire bombing of Ukraine from the territory of Belarus. Machthaber Alexander Lukaschenko gestand Abschüsse durch russisches Militär in den ersten Kriegswochen selbst ein, spielte die Größenordnung in seinen Verlautbarungen aber herunter, vgl. Belta: Ėto byl vynuždennyj šag. Lukašenko o zapuske raket s territorii Belarusi po pozicijam v Ukraine. Ende Juni meldeten ukrainische Behörden Einschläge von Belarus aus, vgl. zdf.de: Kiew: Moskau will Belarus in Krieg verwickeln
Von solchen Angriffen soll er selbst nur aus den Medien erfahren und von Moskau darüber nicht informiert sein, vgl. sn-plus.de: Valerij Karbalevič: Plochoj znak 
2. Der Militärexperte Jegor Lebedok sagte in einem Interview mit Mediazona, er glaubt nicht daran, dass der Treibstoff  „aus dem russischen Hinterland“ herangebracht werde. Möglich wäre, dass russische Truppen ans Pipeline-Netz angeschlossen seien oder dass sie Benzin von der Raffinerie in Mozyr erhielten. vgl. mediazona.by: «Točno možno skazatʹ, čto ėto ne konec. V ljubom rasklade, kto by ni pobedil». Egor Lebedok otvečaet na voprosy pro vojnu, kotoruju prognoziroval v intervʹju «Mediazone» 
3. vgl. Deutsche Welle: Freiwillige aus Belarus kämpfen auf ukrainischer Seite 
4.vgl. Učebnyj centr ili aviabaza: v čem sutʹ voennogo sotrudničestva RB i RF? 
5. vgl. lenta.ru: V Belorussiju pribyli rossijskie aviatory dlja ochrany Sojuznogo gosudarstva
6. Größere Protestzüge waren am 27. und 28. Februar 2022 in Minsk, aber auch in zahlreichen anderen Städten des Landes auf den Straßen. Nach Medienberichten gab es dabei mehr als 1100 Festnahmen. vgl. zerkalo.io: Kak belorusy protestujut protiv vojny i kak ich za ėto presledujut Čitatʹ polnostʹju  
7. Gefragt wurde in der Wardomazki-Umfrage nach den wichtigsten Informationsquellen (nicht nach den einzigen). Auch zwei Jahre zuvor zeigte sich, dass das Staatsfernsehen an Bedeutung verliert. Einer  Erhebung des Zentrums für Osteuropa und internationale Studien (ZOiS) vom Dezember 2020 zufolge war für nur rund 10 Prozent der Menschen das Staatsfernsehen die erste Informationsquelle, für noch weniger das staatlich kontrollierte Radio oder staatsnahe Blätter. Social Media, unabhängige Online-Medien und Messenger wurden dagegen von rund 70 Prozent der Befragten als wichtigste Informationsquelle angegeben. vgl. ZoiS Report 03/2021: Belarus at a crossroads: attitudes on social and political change, S. 10
8. Das haben Erhebungen im Jahr 2021 von Chatham House erbracht, vgl. Chatham House: Belarusians' views on the political crisis. Results of a public opinion poll conducted between 14 and 20 January 2021, S. 24.
9. Durch Russlands Veto-Recht bei den Vereinten Nationen bleibt dem Kosovo die Mitgliedschaft dort bis heute verwehrt. Präsident Wladimir Putin zog den Kosovo in der Vergangenheit immer wieder heran, etwa um sein Vorgehen im Donbass und auf der Krim zu rechtfertigen, vgl. zum Beispiel Video #8: Putin: Kosovo als Präzedenz für Krim und Katalonien?
10. Nach Aufnahme der Slowakei in die Nato im März 2004 stellte es der belarussische Präsident bei einer Rede Mitte April gegen das Nato-Bündnis so dar, als würden westliche Militärs belarussisches und russisches Staatsgebiet umzingeln und antasten: „Unser Territorium ist völlig von technisch-intelligenten Mitteln ‚durchschossen‘. (...) Und nicht nur unser Territorium, sondern auch das russische bis hin zum Kreml ist damit ‘durchschossen’. Wann gab es das schon mal?“, vgl. president.gov.by: Послание Президента Беларуси Александра Лукашенко Парламенту  ↑
11. Insbesondere nach dem Krieg in Georgien vom August 2008 verschärfte sich der Ton zwischen Russland und Belarus. vgl. DGAP Standpunkt (09/2010): Die Ökonomisierung russischer Außenpolitik 
 
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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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