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„Uns gibt es nicht“

Warum begegnen Menschen in den westlichen Ländern Belarus mit so wenig Interesse? Warum läuft Belarus meistens unter dem Radar der internationalen Aufmerksamkeit? Warum gibt es so wenig Interesse für die belarussische Literatur? Das sind Fragen, die viele Belarussen umtreiben und die auch aktuell wieder in den sozialen Medien diskutiert werden. Der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič hat dazu einen launigen, polemischen aber auch analytischen Post für seinen Facebook-Account geschrieben, der vom Online-Portal Budzma übernommen wurde. „Die meisten, die über die Aussichten der belarussischen Literatur im Westen diskutieren“, schreibt Bacharevič, „verstehen meiner Meinung nach die fünf wichtigsten Dinge nicht.“

Источник Budzma

Erstens. Uns gibt es nicht.

Im Westen gibt es Belarus praktisch nicht. Die belarussische Sprache nicht, die belarussischsprachige belarussische Literatur nicht, die belarussische Geschichte nicht, Belarus nicht als Text, den andere verstehen und annehmen, der akzeptiert ist und in den großen Welttext eingeht. Auf die belarussischsprachige belarussische Literatur schaut man immer ein wenig argwöhnisch und herablassend. Genau wie auf die Sprache Balbuta.

Folgendes muss man verstehen: Die belarussische Literatur wird in der Regel abgelehnt, ohne gelesen zu werden, ohne dass Bücher und Manuskripte auch nur aufgeschlagen werden. Es genügt zu hören: „belarussische Literatur“ – sofort denken sie an etwas selbstverständlich Schwaches. Es ist sehr schwer, die Menschen vom Gegenteil zu überzeugen. Ein belarussisches Buch kann sein, wie es will – spannend, genial, schlecht, wunderlich, unterhaltsam, langweilig ... Ganz gleich. 99 Prozent nehmen es gar nicht in die Hand, lesen keine einzige Seite, denn es ist ja belarussisch, also direkt uninteressant. Deshalb: Ein Hoch auf die ausländischen Enthusiasten, Wissenschaftler und Übersetzer, die hin und wieder doch westliche Verleger überreden, in den Text zu schauen, ihn schätzen zu lernen und eine Übersetzung herauszugeben! Denn wenn ein belarussisches Buch doch einmal gelesen wird, ruft es häufig wohlwollende Verwunderung hervor: So ist das also, wir wussten ja gar nicht, dass es bei euch interessante Autoren gibt.

Und noch ein Hinweis: Belarussische historische Belletristik ist für den westlichen Leser im Grunde pure Fantasy. Eine Geschichte von einem ausgedachten Land und ausgedachten Menschen, von Monstern und Magiern. Aber Fantasy gibt es im Westen so viel, dass niemand auch noch eine belarussische Version braucht, die Anspruch auf Ernsthaftigkeit erhebt. Die belarussische historische Prosa läuft dem westlichen Geschichtsbild zuwider. Daher gibt es dort keine Perspektive für sie.

Zweitens.

Hundertmal habe ich es gesagt und sage es jetzt noch einmal: Der westliche Buchmarkt hat seine Erwartungshaltung. Für die belarussische Literatur gibt es ein winziges Regal – wie auch für andere kleine Literaturen. Die belarussische Literatur interessiert den Westen nur dann, wenn sie sich mit der ihr zugewiesenen Rolle abfindet. Für den westlichen Leser, Kritiker und Verleger kann die belarussische Literatur nur dann interessant sein, wenn sie aus der Position der Opfer spricht: „Wir sind unglücklich und leiden, bei uns herrschen Finsternis, Diktatur, Hoffnungslosigkeit, Tschernobyl, Lukaschenka, Zweiter Weltkrieg, Okkupation usw.“ – oder aus der Position der Zeugen: „Wir erzählen euch jetzt, wie das ist – erst in der Sowjetunion, dann unter Lukaschenka, am eigenen Leib alle Schrecken von Totalitarismus, Armut, Elend und Diktatur zu erleben.“ Wenn belarussische Literatur versucht, mehr als das zu sein – Warnung, Idee, Reflexion, pure Kunst, Philosophie, all das, was jede große Literatur eben einfach sein kann – sagt man uns: Stopp. Lasst mal die Finger davon, das ist unser Privileg. Woher wollt ihr denn etwas von der Welt verstehen? Wie kommt ihr darauf, dass ihr das Recht habt, etwas anderes als Opfer oder Zeugen zu sein? Denkt daran, aus welchem Loch ihr gekrochen seid – und dann überlegt gut, ob ihr uns etwas beibringen könnt. Räumt erst einmal bei euch selbst auf.

Drittens. Übersetzer

Ich schreibe hier ausschließlich über die belarussischsprachige Literatur. Denn die russischsprachige Literatur, die sich belarussisch nennt, ist ein ganz anderes Phänomen. Übersetzer aus dem Russischen gibt es zuhauf. Man muss niemandem erklären, was das imperiale Russland ist, seine Kultur, Geschichte, seine Sprache, seine Literatur. Stellt man die belarussische russischsprachige Literatur in einen russischen, sowjetischen oder postsowjetischen Kontext – dann hat man auch in der belarussischen Literatur ganz gute Aussichten, gesehen und gelesen zu werden.

Aber was sollen die belarussischsprachigen Autoren in dieser Situation tun?

Im Westen, das lohnt sich zu wissen, fürchtet man sich sehr vor Nationalismus. Die belarussischsprachige belarussische Literatur wird häufig als nationalistische Literatur wahrgenommen. Vielleicht sagt man euch das nicht direkt ins Gesicht. Man denkt es aber. Und man denkt auch: „Anstatt in ihrer kleinen Sprache zu schreiben, die nicht mal in ihrem Land wirklich jemand spricht, könnten sie doch lieber Russisch schreiben – und wären anerkannt und verständlich. Und anstatt über ihre eigenen Sachen auf Belarussisch zu schreiben, könnten sie sich doch dem Russischen und Sowjetischen zuwenden, das ist klar, verständlich und verkauft sich! Aber euer Belarus als Europa – das klingt ja lachhaft ... Das soll Europa sein? Belarus ist ein kleines Russland, als solches sehen wir es, und so ist es interessant für uns, und alles, was diesem eleganten Muster widerspricht, ist naiver Nationalismus und der kindische Versuch, auf unseren europäischen Schnellzug aufzuspringen.“

Viertens

Nun müssen wir auch ein wenig über die eigene Schuld der belarussischen Literatur sprechen. Häufig, wenn nicht in der Mehrheit der Fälle, ist sie langweilig-traditionell, kriegerisch-traditionalistisch, demonstrativ verschlossen für westliche Einflüsse, konservativ und nationalistisch im negativen Wortsinne, fremdenfeindlich und sowjetisch. In vielen ihrer Erscheinungsformen zeigt sie keinen Wunsch, vom Westen zu lernen, Entdeckungen zu machen, Kontakt zur Welt aufzubauen. Idiotischer Größenwahn, literarisches Chuch'e, das macht sie aus, die belarussische Literatur. „Wir brauchen das alles nicht, es ist fremd, wir sind groß und besser als alle, die wir kennen, denn wir haben Schamjakin und Dunin-Marzinkewitsch.“ Mit einem solchen Credo kommst du nirgendwohin. Die großen Nationaldichter Kupala und Kolas, gemachte Ikonen, kennt im Westen niemand, und mit diesen Ikonen und der bolschewistischen Flagge der Sowjetliteratur, mit dem Stolz auf den stalingeschaffenen „Künstlerbund“, ohne Sprachkenntnisse, ohne Interesse daran, was sich in der westlichen Literaturwelt tut, im Glauben an die eigene Ausnahmestellung treten die alten belarussischen Schriftsteller mit unsicherem Lächeln in die große Welt hinaus und beklagen sich: Und wo sind wir? Wo ist unsere Sichtweise, wo die Anerkennung? Wir haben sie verdient! Wieso sieht uns niemand?

Fünftens

Die großen westlichen Verlage – das ist Kommerz, das ist kapitalistisches Unternehmertum. Es geht zuallererst um Geld. Und wenn ein Buch niemand lesen will, es nicht einmal durchblättern möchte, dann wird es sich nicht verkaufen. Deshalb erscheinen die belarussischsprachigen belarussischen Bücher, die relativen Erfolg in kleinen Leserkreisen haben und hoffentlich auch zukünftig erscheinen werden, in kleinen und unabhängigen Verlagen – wo Geld zum Glück nicht alles entscheidet. Das sind Orte, wo Verleger arbeiten, die sich für unsere Literatur und unsere Kultur interessieren, die Bücher lieben, das Wort, die Idee, den Stil – und nicht Millionenauflagen. Für den westlichen Markt ist das ist völlig normal. Es gibt riesige Verlage, es gibt kleinere, und es gibt ganz kleine – jeder hat sein Publikum, seine Nische, seine Erfolge und seine Ausrichtung. Hauptsache ist, all das schließt Kontakte, Wechselwirkungen und Perspektiven auf größere Sichtbarkeit und Rezeption nicht aus.

Und noch einmal: ein Hoch auf alle Deutschen, Engländer, Polen, Franzosen, Litauer, Niederländer, Schweden, Norweger, Amerikaner, Schotten, die ohne besonderen persönlichen Vorteil, nur aus Interesse an unserer Literatur, versuchen, westliche Verleger für belarussische Literatur zu interessieren. Ein Hoch auf die Übersetzer, dank denen Bücher belarussischer Schriftsteller verlegt, gelesen, besprochen, präsentiert werden – und dadurch leben.

Alles in allem ist das kein fröhliches Bild. Doch nun geht es um Trost und Hoffnung. Ich bin zwar nicht sicher, ob mich das beruhigt, aber: Zum Glück oder zum Unglück sind wir nicht allein. Auf der Welt gibt es viele kleine Literaturen mit noch bescheideneren Perspektiven. Bei uns ist nicht alles so schlecht. Immerhin existiert die belarussische Literatur im Westen in Übersetzungen aus dem Belarussischen. Das reicht nicht – aber es wird immer mehr.

Was soll man also tun, wenn man so sehr dazugehören will, sein will wie alle, Erfolg haben möchte?

Man kann beginnen, in einer Fremdsprache zu schreiben. Die Konkurrenz wird aber hart sein. Außerdem gelingt es kaum, in einer anderen Sprache so zu schreiben wie in der eigenen. Es kommt einer bewussten Abkehr von Komplexität und Stil gleich. Um nicht zu sagen – einem Verrat. Denn die Hauptsache ist das Wie, nicht das In welcher Sprache. Und doch ist es eine Abkehr. Von sich selbst, zugunsten der Sichtbarkeit. Letztlich hat die absolute Mehrheit der belarussischen Autoren die belarussische Sprache erst später gelernt, nicht in der Kindheit wie eine Muttersprache. Warum also nicht noch eine Sprache lernen? Oder zwei? Oder drei?

Man kann auch auf Russisch schreiben. Wie ich schon sagte, das ist dann etwas ganz anderes und man begegnet dir ganz anders. Die Rezeption ist eine ganz andere, viel wohlwollender, leichter und mit mehr Anerkennung.

Von den schmalen Regalen, die im Westen für die belarussische Literatur bereitstehen, schrieb ich bereits. Von Opfern und Zeugen. Ich renne mir seit Jahren den Kopf an dieser Wand ein. Und manchmal scheint mir, sie gibt ein wenig nach. Genau das will ich mit der deutschen Übersetzung meines Romans Europas Hunde erreichen – erzwingen, dass ich mit diesem Buch nicht als Wilder aus einem elenden Land betrachtet werde, sondern als europäischer belarussischer Autor, der etwas zu sagen hat und dessen Land und Sprache nicht schlechter sind als andere.

Man kann es so machen wie Julia Cimafiejeva und ich. Weiterhin in dieser kleinen Sprache schreiben. Mit Ausdauer und Würde. Literatur auf Belarussisch. Eine andere belarussische Literatur schreiben – nicht die größte von allen, sondern eine von vielen Literaturen dieser Welt. Von anderen lernen, aufmerksam lesen und zuhören, möglichst offen sein. Über das Eigene schreiben, ohne das Fremde abzulehnen. Nicht zulassen, auf ein Regal, in eine Nische oder in die Grube für die Unglücklichen und Traurigen geschoben zu werden. Nicht zulassen, dass sie dich als „blutende Wunde“ vermarkten. Stets das Gefühl haben, auf Reisen zu sein. Andere Sprachen sprechen, erklären, fragen, versuchen zu verstehen: Wo sind wir? Was ist das für eine Welt? Was will sie uns sagen? Eine Reise hält jederzeit Überraschungen bereit, angenehme und weniger angenehme.

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Die belarussische Diaspora: Erneuerte Solidarität

Die politische Krise, die mit den Protesten vom Sommer 2020 begann, hat zu einer neuen Welle der Massenmigration aus Belarus beigetragen und die  Politisierung der belarusischen Diaspora gefördert. Den vorliegenden Daten zufolge haben innerhalb des ersten Jahres seit den Ereignissen schätzungsweise 100.000 bis 150.000 Menschen das Land verlassen. Bei einer erwerbstätigen Bevölkerung von insgesamt rund 4,3 Millionen Menschen ist dies eine sehr hohe Zahl. Zugleich ist der Prozess noch nicht abgeschlossen. Angesichts der anhaltenden Repressionen im Land planen oder erwägen weiterhin viele Menschen die Ausreise. Auch im Zuge des Krieges in der Ukraine sind viele Belarusen wieder auf der Flucht, denn viele hatten in Kiew oder anderen ukrainischen Städten neu angefangen. 
Die neuen Migranten treffen auf eine Diaspora, die aus einer langen Geschichte mehrerer Auswanderungswellen hervorgegangen und in zahlreichen Ländern organisiert und politisch aktiv ist. Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja gibt der Demokratiebewegung im Ausland ein neues, international bekanntes Gesicht mit politischem Gewicht.

Bereits die Wahlkampagne im Frühjahr 2020 in Belarus, in der Kandidaten nicht zugelassen, verhaftet oder ins Exil getrieben wurden, und die friedlichen Massenproteste nach der gefälschten Präsidentenwahl  gaben der Diaspora bemerkenswerten Aufschwung: Bestehende Auslandsorganisationen (unter anderem in den USA, Schweden, Großbritannien und Polen) wurden so gestärkt und neue Organisationen (unter anderem in Italien, Deutschland und der Tschechischen Republik sowie in den USA) registriert. 

Diese neue Solidarität lässt sich an der hohen Beteiligung der belarusischen Diaspora an kontinuierlichen politischen Aktivitäten ablesen, mit denen auf Ungerechtigkeiten in Belarus aufmerksam gemacht wird. Daran zeigt sich auch, dass die außerhalb des Landes organisierte belarusische Demokratiebewegung eine wichtige Rolle spielt. Für Aljaxsandr Lukaschenka erschwert das ein neuerliches Lavieren zwischen dem Westen und Russland. Das ist mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine allerdings mehr denn je in den Bereich des Undenkbaren gerückt, da Lukaschenka der russischen Führung gewährt, Belarus  als Aufmarschgebiet für russische Truppen zu nutzen. In einer Zeit, in der die Opposition im Land selbst zunehmend unterdrückt wird, dient die Diaspora dabei als Stimme von außen, um demokratische Veränderungen einzufordern.

Vor der politischen Krise von 2020

Die Geschichte der Auswanderung aus der Region des heutigen Belarus beginnt zur Zeit des Großfürstentums Litauen: Damals studierten Hunderte junger Belarusen an Universitäten in West- und Mitteleuropa. Emigranten wie Francysk Skaryna, Ilja Kapijewitsch und andere berühmte Persönlichkeiten der belarusischen Kultur haben im Ausland prägend gewirkt. 

Die Massenauswanderung setzt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Zu dieser Zeit wurden Migranten nicht als Belarusen erfasst, weil die zaristische Regierung diese Nationalitätsbezeichnung offiziell nicht zuließ und es ablehnte, das ethnografisch belarusische Gebiet unter eine einheitliche Verwaltung zu stellen. Obwohl die Zahlenangaben schwanken, liegen sie überwiegend in derselben Größenordnung: Zwischen 1860 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs verließen etwa 1,5 Millionen Belarusen ihre Heimat. Die meisten gingen nach Sibirien, der Rest wanderte in Richtung Westen aus – nach Europa und in die USA. Diese Migrationswelle hatte einen vorwiegend wirtschaftlichen, teils aber auch politischen Hintergrund. Belarusische Juden wanderten in den 1850er Jahren aufgrund religiöser Verfolgung durch die Obrigkeiten aus.

Die Entstehung der belarusischen Diaspora

Die zweite Welle der belarusischen Emigration wurde durch den Ersten Weltkrieg und die revolutionären Ereignisse von 1917 ausgelöst. In den folgenden Jahren gab es in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) über zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Gebiet des heutigen Belarus, mehr als 100.000 Menschen gingen in andere Länder. Mit der Proklamation der Belarusischen Volksrepublik (BNR) 1918 und der Gründung der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) im Jahr 1919 erhielt das erwachende Nationalbewusstsein einen Schub. Die Belarusen sahen sich zunehmend als eigenständige Gruppe. 

Die Politisierung der belarusischen Diaspora begann in den 1920er Jahren in den USA: Zu dieser Zeit nahm die Führung der Rada BNR Kontakt zu neu gegründeten belarusischen Organisationen in New York, New Jersey, Chicago, Michigan und Pennsylvania auf und begann, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Archivdokumente zeigen, dass die kommunistischen Führungen in Moskau und Minsk sogar Versuche unternahmen, belarusische Emigranten über die Schaffung pseudo-nationaler belarusischer Organisationen für die kommunistische Bewegung zu mobilisieren – um die Weltrevolution voranzutreiben. In seinem Buch Belarusians in the United States liefert Vitaut Kipel mit Gershan Duo-Bogen ein Beispiel eines kommunistischen Agenten, der daran beteiligt war, die kommunistische Bewegung auf der anderen Seite des Ozeans zu aktivieren.

Belarusen engagieren sich von den USA aus für nationale Selbstbestimmung

Der Zweite Weltkrieg führte zur dritten Auswanderungswelle. Bei Kriegsende zählte die belarusische Diaspora in Europa etwa eine Million Menschen, von denen es viele weiter in die USA zog. Die politischen Emigranten der 1950er Jahre und ihre Nachkommen bildeten die Basis der modernen belarusischen Diaspora. Diese nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA eingewanderten Belarusen waren nationalbewusst. Sie setzten sich bei der US-Regierung mit Nachdruck dafür ein, den belarusischen Staat als nationale und ethnische Einheit mit dem Recht auf Freiheit und nationale Selbstbestimmung anzuerkennen. So hielten beispielsweise belarusische Priester laut Protokoll des US-Kongresses in den 1960er bis 1980er Jahren fast an jedem Jahrestag der Proklamation der BNR Eröffnungsgebete für den Kongress ab. Zum 50. Jahrestag der BNR-Gründung im Jahr 1968 verzeichnet das Protokoll 23 Redebeiträge im US-Kongress, die die Unabhängigkeit von Belarus unterstützten.

Von 1960 bis 1989 war kaum Auswanderung möglich

In den 1960er bis und 1980er Jahren wuchs die belarusische Diaspora nicht nennenswert an, weil die Emigration aus der Sowjetunion rechtlich nicht möglich war. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR, der massiven Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage in der Republik Belarus sowie den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 erhöhte sich die Zahl der Ausreisen wieder deutlich. Im Jahr 1989 erlaubte die Sowjetrepublik dem Innenministerium zufolge 14.700 Menschen auszureisen. 1990 lag diese Zahl bei 34.100 Menschen und war damit mehr als doppelt so hoch. 

Feierlichkeiten der kanadischen Diaspora zum 50. Jahrestag der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik / Foto © Rada BNR

Nachdem Aljaxandr Lukaschenka im Jahr 1994 an die Macht gekommen war, schwand die anfängliche Hoffnung der belarusischen Diaspora auf eine demokratische Zukunft. An ihre Stelle traten politische Aktivitäten, die von dem Gedanken geleitet waren, Belarus als unabhängigen demokratischen Staat zu erneuern. Die neuen belarusischen Migranten konnten sich im Laufe der Zeit mit der älteren organisierten Diaspora in den USA, Kanada, Europa und anderen demokratischen Ländern auf gemeinsame Positionen verständigen. So wurde in den USA nach erheblichem Engagement der belarusischen Diaspora der Belarus Democracy Act von 2004 verabschiedet – ein US-Bundesgesetz, das erlaubte, politische Organisationen, NGOs und unabhängige Medien zu unterstützen, die sich für die Förderung von Demokratie und Menschenrechte in Belarus einsetzen. Diese Bewilligung wurde in den Jahren 2006, 2011 und 2020 erneuert.

Neue Migrationswelle nach den Repressionen in Belarus

Seit der Jahrtausendwende bis zum Jahr 2019 emigrierten jährlich schätzungsweise zwischen 10.000 und 20.000 Menschen aus Belarus. Das brutale Vorgehen gegen die Opposition nach den größten Protesten in der Geschichte des unabhängigen Belarus 2020/2021 löste dagegen eine beispiellose Migrationswelle aus. Im ersten Jahr nach August 2020 haben etwa 100.000 bis 150.000 Menschen Belarus verlassen. Viele gingen nach Lettland, Estland und noch weiter weg. 

Nicht eingerechnet sind diejenigen, die nach Russland oder in die Ukraine übersiedelten, weil es kein Visum braucht, um in diese Länder zu reisen. Mit präzisen Zahlen ist es dort daher schwierig. Trotzdem lässt sich die Vorstellung einer Größenordnung bekommen: Laut den Zahlen, die der Staatliche Migrationsdienst der Ukraine herausgibt, stiegen die befristeten Aufenthaltsgenehmigungen für belarusische Staatsbürger dort beispielsweise um 39 Prozent (von 2175 im Jahr 2019 auf 3042 im Jahr 2021). Im Oktober 2020 unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky zudem ein Dekret, das es Unternehmern und hochqualifizierten Fachkräften mit belarusischer Staatsangehörigkeit sowie deren Familienangehörigen erleichtert, eine Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine zu erhalten. Infolgedessen sind seit der Protestwelle nach der Präsidentschaftswahl bis zu 1500 belarusische IT-Spezialisten aus politischen Gründen in die Ukraine emigriert. 

Doch die meisten Belarusen gingen nach Polen. Laut Eurostat sind dort zwischen August 2020 und November 2021 knapp 2000 Asylanträge von belarusischen Staatsbürgern eingegangen – mehr als in jedem anderen EU-Land. Das ist ein eindrucksvoller Zuwachs, denn zwischen  Anfang 2019 und  September 2020 hatten Belarusen in Polen nur 165 Asylanträge gestellt. Nach Angaben des polnischen Außenministeriums hat das Nachbarland im Zeitraum von Juni 2020 bis Ende Juli 2021 zudem 178.711 Visa an Personen aus Belarus erteilt, darunter mehr als 20.000 „Poland.Business Harbour“-Visa, etwa für Programmierer und Unternehmer im IT-Bereich.

Das EU-Land mit der zweithöchsten Zahl von Asylanträgen aus Belarus ist Litauen: Dort beantragten 235 belarusische Bürger Asyl – von Anfang 2019 bis zum Beginn der Proteste waren es dagegen nur 35. Nach den Zahlen der litauischen Migrationsbehörde hat das Land von September 2020 bis November 2021 zudem 26.200 nationale Visa an belarusische Bürger ausgestellt. 

Die Politisierung der Diaspora nach den Protesten in Belarus

Nach dem Ausbruch der Krise hat sich die belarusische Diaspora innerhalb weniger Monate weltweit zu einer ernstzunehmenden Kraft mit politischem Einfluss entwickelt. Ihre Aktivitäten sind jetzt eng mit neuen politischen Kräften verknüpft, etwa dem Koordinationsrat von Belarus, dem Büro der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja und dem NAM (Nationales Antikrisen-Management).

Der Koordinationsrat von Belarus wurde im August 2020 von Zichanouskaja im litauischen Exil ins Leben gerufen, um auf eine friedliche Machtübergabe hinzuarbeiten und die Krise im Land zu überwinden. Er versteht sich als das ausschließliche Repräsentativorgan der demokratischen belarusischen Gesellschaft. Die Arbeitsgruppen des Rats befassen sich unter anderem damit, Bildungsinitiativen zu entwickeln, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und über Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen zu informieren, die ihren Arbeitsplatz verloren haben.

Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja ist eine separate Einrichtung. Es besteht aus ihr selbst, acht Beratern für nationale und internationale Angelegenheiten sowie Kommunikationsmitarbeitern.

Die von Pawel Latuschka im Oktober 2020 gegründete Organisation NAM (Nationales Antikrisen-Management) in Warschau arbeitet mit dem Koordinationsrat und Zichanouskajas Büro zusammen. Zudem gibt es zahlreiche Initiativen, darunter ByPol, das von ehemaligen Sicherheitskräften gegründet wurde, und BySol für Sportler, ein Projekt von Sportfunktionären und Athleten.

Die belarusische Diaspora hat viele Anstrengungen unternommen, um sich weltweit zu vernetzen und sich in das Ringen um ein künftiges Belarus einzubringen. Ein Beispiel dafür ist die neu gegründete Organisation Association of Belarusians in America (ABA), die Repräsentanten belarusischer Communitys aus 25 Städten in 18 US-Staaten verbindet. Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja organisierte im September 2021 eine Konferenz der Belarusen der Welt in Vilnius und brachte Vertreter belarusischer Communitys aus über 27 Ländern und 40 Organisationen zusammen. 

Durch die Repressionen sind die Proteste 2021 abgeebbt. Infolge der brutalen Unterdrückung durch die belarusische Regierung und mit der Rückendeckung durch Russland bestand kaum noch Aussicht, etwas zu erreichen. Gleichwohl ist zu erwarten, dass die neu erstarkte und vereinte Diaspora sowie die organisierten demokratischen Kräfte von außen weiter und stärker als vor dem Krisenjahr 2020 eine demokratische Zukunft für Belarus einfordern und denjenigen helfen werden, die unter den Repressionen des Lukaschenka-Regimes leiden. 

ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

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