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Alternative Wahlen für Belarus

Vom 25. bis 27. Mai finden die Wahlen zum Koordinationsrat der belarussischen Opposition im Exil statt. Das Organ wurde während der Proteste im Jahr 2020 gegründet, um einen möglichen Machtwechsel vorzubereiten. Viele Mitglieder des Rates, die die Zivilgesellschaft, Wirtschaft oder Kultur repräsentierten, wurden damals inhaftiert oder mussten das Land verlassen, wie beispielsweise die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch.

Die Opposition um Swetlana Tichanowskaja institutionalisiert seit dem Gang ins Ausland die Arbeit der demokratischen Bewegung, es wurde ein Übergangskabinett geschaffen, nun soll der Koordinationsrat in eine Art Proto-Parlament umgebaut werden, das die Interessen der Belarussen vertritt und die Arbeit der Oppositionsführung kontrolliert. Die Wahl läuft digital ab, dazu wurde speziell eine App entwickelt, über die sich Wähler registrieren lassen können. So sollen auch Belarussen im Inland an der Wahl teilnehmen können. Zur Wahl stehen 256 Kandidaten, die als zwölf Gruppierungen ins Rennen gehen.

Für das Online-Medium Pozirk beschäftigt sich der Journalist Alexander Klaskowski mit diesen Gruppierungen und ihre politischen Ausrichtungen, mit den Wahlen und mit dem Sinn eines solchen Organs im Exil. 

Источник Pozirk – Nawіny pra Belarus

Auf die Wahlen zum Koordinationsrat (KR) reagieren Aljaxandr Lukaschenka und seine Geheimdienste sehr viel lebhafter als der belarussische Durchschnittswähler. Bereits fünf Koalitionen, die zur Wahl in den KR antreten, sind zu extremistischen Vereinigungen erklärt worden.

Die bevorstehenden Wahlen zum Koordinationsrat (KR) hatte Lukaschenka genau einen Monat vor dem Wahltag erwähnt, nämlich am 25. April vor der VII. Allbelarussischen Volksversammlung: „Jetzt sind sie sogar bis zu den Kalinouski-Leuten gekommen. Da ist es eh schon zum Bruch gekommen. […] Sie wissen nicht, wen sie aufstellen sollen. […] Das ist ein Hauen und Stechen.“

Der Herrscher hat zwar Schadenfreude gezeigt und versucht, die politischen Opponenten als bedeutungslose Gestalten hinzustellen, doch ist schon dieser Kommentar als solcher bezeichnend. Es scheint, als würde den Führer des Regimes etwas umtreiben, nämlich sein Komplex von 2020. Damals hatte es geschienen, als sei alles im Kasten; die wichtigsten Widersacher saßen hinter Gittern. Doch dann tauchte wie aus dem Nichts diese Hausfrau Zichanouskaja auf. Also sollte man jetzt lieber übervorsichtig sein.

Durch die Brandmarkung als Extremisten sollen in der Vorstellung der Regierung sowohl die weniger standhaften Kandidaten für den KR eingeschüchtert als auch potenzielle Wähler abgeschreckt werden. Die Letzteren bekommen das Signal, dass eine Stimmabgabe für „kriminelle Elemente“ lange Haftstrafen nach sich ziehen könnte.

Für alles Gute, gegen alles Schlechte

Unterdessen ist der politisch aktive Teil der Diaspora in Bewegung geraten. Zu den KR-Wahlen sind zwölf Listen mit 265 Kandidaten zugelassen. Die Wahlen finden nach einem Verhältniswahlrecht statt. Für europäische Demokratien ist das eine gewöhnliche Sache, für Belarussen jedoch etwas Neues.

Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja und der Oppositionspolitiker Pawel Latuschko (rechts) am 26. März 2022 beim Tag der belarussischen Freiheit in Warschau / Foto © Aleksander Kalka/IMAGO/ZUMA Wire

Salidarnasc

Wenn man sich anschaut, wer auf den Listen zusammengefasst wird, erscheinen einige Bündnisse aus der Situation geboren. So haben sich die Sozialdemokraten der Narodnaja Hramada (dt. Volksgemeinschaft) mit einem Teil der Christdemokraten zum Bündnis Salidarnasc (dt. Solidarität) zusammengeschlossen. In normalen Demokratien stehen Sozialdemokraten und Christdemokraten für recht unterschiedliche Ideologien. Unter den Bedingungen in Belarus aber bedeuten Parteietiketten kaum etwas, insbesondere nach 2020.

Das Programm von Salidarnasc besteht lediglich aus vier Punkten und fällt durch Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler auf. Kurzum: Es wirkt wie in der U-Bahn geschrieben. Die Thesen sind äußerst allgemein und plakativ.

So steht da als erster Punkt „Einsatz für möglichst baldige, freie, faire und transparente Wahlen auf dem Gebiet der Republik Belarus nach den Standards der OSZE“. Ein prächtiger Wunsch. Dumm nur, dass Lukaschenka diese Standards nicht anerkennt. Und mit dem politischen Ruhestand hat er es überhaupt nicht eilig. Wie also wollen sie ihn dann überreden oder zwingen? Mit einer Resolution des Koordinationsrats?

Wolja

Die Bewegung Wolja (dt. Freiheit) beispielsweise hat nicht vor, irgendwen zu überreden. Sie verkündet „die Befreiung des Landes von der hybriden Besatzung“, „die Entfernung von Personen aus der Staatsmacht in Belarus, die diese verfassungswidrig innehaben“.

Hierzu wird unter anderem die Bildung einer belarussischen Befreiungsarmee vorgeschlagen. Die Frage ist: Woher kommen die Ressourcen (Menschen, Waffen)? Und: Welches Land würde es erlauben, dass auf seinem Territorium ein solches Heer aufgestellt wird? Spoiler: Die herrschenden Eliten der Nachbarländer haben wohl kaum den brennenden Wunsch, sich auf diese Weise Probleme aufzuhalsen.

Unabhängige Belarussen

Die Unabhängigen Belarussen versprechen im Falle ihrer Wahl, drei Pläne zur Befreiung von Belarus auszuarbeiten: einen operativ-taktischen, einen strategischen und einen Reserveplan. Die Autoren des Programms konstatieren dabei „eine tiefgreifende Diskreditierung des nicht umgesetzten Mobilisierungsplans Peramoha (dt. Sieg) der Organisation BYPOL sowie das totale Scheitern der demokratischen Kräfte im Bereich der strategischen Planung“.

Gesetz und Rechtsordnung

Wenn man sich vorstellt, dass Aljaxandr Asarau, der Leiter von BYPOL mit seiner Liste Gesetz und Rechtsordnung in den KR einzieht, lässt sich eines erwarten: Die Diskussionen im „Protoparlament“ zwischen den Gruppen, die den Schwerpunkt auf einen gewaltsamen Kampf gegen das Regime legen, werden heftig.

Im Großen und Ganzen sind die Szenarien eines gewaltsamen Machtwechsels in Belarus bislang höchst illusorisch. Und der aktuelle Verlauf des Krieges in der Ukraine fördert diese Perspektiven nicht.

Ein Land für das Leben

Eine Reihe von Programmen ist nach dem schlichten Prinzip „für alles Gute, gegen alles Schlechte“ geschrieben. So setzt sich die Koalition Ein Land für das Leben die „Vereinigung aller demokratischen Kräfte“ zum Ziel.

Eine derartige Idylle hat es noch nie gegeben, seit eine Opposition gegen Lukaschenkas Regime besteht. Und wird es wohl nicht geben. Eine Allianz von Sjanon Pasnjak, Walery Zapkala und Swjatlana Zichanouskaja wäre unvorstellbar.

Stimme der Diaspora

Das Bündnis Stimme der Diaspora – Geschlossenheit über Grenzen hinweg wird dafür kämpfen, „dass die Stimme der belarussischen Diaspora in aller Welt bei Entscheidungen der demokratischen Kräfte in Belarus erhört wird“. Das Programm dieser Liste ist ebenfalls sehr allgemein gehalten.

Team Latuschka und die Bewegung „Für die Freiheit“

Das Programm der Koalition Team Latuschka und die Bewegung „Für die Freiheit“ (die Anführer sind Pawel Latuschka, der eine Masse von Titeln besitzt, sowie dessen Mitstreiter Jury Hubarewitsch) sieht solide und sorgfältig durchgearbeitet aus. In dem Dokument gibt es konkrete Punkte, zum Beispiel, dass der KR ein Programm zur Förderung der nationalen Wiedergeburt von Belarus verabschieden sollte.

Eine andere Frage ist, wie wirksam die Beschlüsse des KR sein werden. Welche Dokumente man auch verabschiedet, das Regime von Lukaschenka wird weiter die Souveränität des Landes abgeben. Er hat das Tor zur „russischen Welt“ weit aufgestoßen.

Unsere Sache

Die Vereinigung Unsere Sache mit der Politologin Rosa Turarbekowa an der Spitze hat folgende Devise gewählt: „Nein zum eisernen Vorhang zwischen Belarus und Europa!“ Dieses Team hat einen konkreten Zweijahresplan formuliert. Unter anderem soll durch die Arbeit des KR mit Regierungen demokratischer Länder erreicht werden, dass „mindestens auf dem Niveau von 2019 humanitäre, Arbeits- und Touristenvisa für Belarussen ausgestellt werden“.

Beim Werben um Stimmen aus Belarus setzen andere Kandidatengruppe für den KR ebenfalls den Akzent darauf, dass man die Mitbürger nicht in der Diktatur eingepfercht lassen dürfe und sie nicht ohne Möglichkeit bleiben sollten, nach Europa zu fahren.

Jugendoffensive und Es reicht mit der Angst

Für ein vereinfachtes Verfahren zum Erhalt von Visa und Dokumenten zum Studium oder für Reisen tritt auch die Jugendoffensive ein. Die Liste Es reicht mit der Angst will ebenfalls Lobbyarbeit für offene Grenzen für ihre Landsleute betreiben. Daneben ist sie für einen verstärkten Druck auf das Regime (das sei wohl „die einzige Sprache, die der Diktator und seine Junta verstehen“).

Europäische Wahl

Die Europäische Wahl mit Aljaxandr Dabrawolski an der Spitze, einem leitenden politischen Berater von Zichanouskaja, verspricht, „sich aktiv an der Ausarbeitung und Erörterung von Reformprogrammen zu beteiligen, die auf den Aufbau eines Rechtsstaates und einer effizienten Wirtschaft in Belarus nach europäischen Standards abzielen“. Allerdings stellt sich die Frage, wie lang man Reformpläne für die Schublade schreiben wird. Werden die nicht schon überholt sein, wenn die lichte Zeit eines neuen Belarus anbricht?

Block Prakopjeu-Jahorau

Der ehemalige Gastronom und leidenschaftlicher Regimekritiker Wadsim Prakopjeu und der Vorsitzende des jetzigen KR, Andrej Jahorau, haben den Block Prakopjeu-Jahorau aufgestellt, der ebenfalls ein konkretes Zweijahresprogramm anbietet. Vorgesehen ist dort unter anderem „ein Übergang der demokratischen Kräfte zur Selbstfinanzierung (Kaffeekasse)“. Das klingt spannend. Ist aber, sagen wir es mal so, eine Herkulesaufgabe.

Auch sollen „überflüssige politische Entitäten entfernt werden“. Und eine „Optimierung der Struktur [der demokratischen Kräfte, ist hier wohl gemeint – A. K.] sowie die Vereinigung doppelnder Organisationen erreicht werden, damit die Ressourcen besser koordiniert und genutzt werden“. Eigentlich eine hochaktuelle Idee, weil sich die Ressourcen zusammenziehen wie Chagrinleder. Nur dass diejenigen, die unters Messer der Optimierung sollen, sich mit einem solchen Schritt wohl kaum abfinden werden.

Zauberstab gesucht

Insgesamt ist die Qualität der Programme sehr unterschiedlich. Einige sind eindeutig in Eile geschrieben und bestehen aus leeren Parolen. Andere enthalten konkrete Ideen. Dennoch stellt sich die Frage, inwieweit und auf welche Weise der KR bei der Umsetzung helfen kann. Welchen Zauberstab bekommen jene, die in den neuen Rat einziehen?

Das Personal des aktuellen KR hat jedenfalls, milde gesagt, nicht zusammengefunden. Seine Legislaturperiode bleibt vor allem durch Skandale und nicht eingehaltene Deadlines in Erinnerung. Immerhin wurde die Entlassung eines Ministers von Zichanouskaja erreicht, nämlich die von Asarau.

Eine starke Alternative?

Der größte Reinfall war, dass die Frist für die nächste Wahl zum KR nicht eingehalten wurde. Schließlich bestand der Clou ja darin, diese Wahl parallel zu der „Nichtwahl“ des Lukaschenka-Regimes am allgemeinen Wahltag abzuhalten, dem 25. Februar. Man hatte verkündet: Wir bieten den Belarussen eine starke Alternative.

Es wurde lange klug geredet, doch ist es nicht gelungen, sich rechtzeitig auf ein Wahlsystem zu einigen. Und hier hat nicht das Regime Knüppel zwischen die Beine geworfen; das haben sie selbst verbockt.

Aber lieber spät als nie. Die Kandidaten rufen engagierte Belarussen verstärkt dazu auf, an der Wahl teilzunehmen. Von der Wahlbeteiligung wird die Legitimität des neu zusammengesetzten KR abhängen.

Allerdings ist die Lage hier dramatisch. Es lässt sich leicht vorhersagen, dass vor allem die Diaspora zur Wahl gehen wird (und selbst die Frage, wie aktiv das sein wird, ist noch offen).

Nachlassendes Interesse, Angst und begrenzte Legitimität

Innerhalb von Belarus hat selbst bei denen, die man als Verfechter von Veränderungen bezeichnen könnte, allgemein das Interesse an der Tätigkeit der Oppositionsstrukturen im Ausland nachgelassen. Das geschieht vor allem deshalb, weil letztere offensichtlich nicht ernsthaft auf das Geschehen im Land Einfluss nehmen können, weil Lukaschenka die Lage dort zementiert hat. Er stützt sich dabei recht stark auf den Kreml, und die Wirtschaft wächst trotz der Sanktionen.

Hinzu kommt, dass selbst der politisierte Teil der Bevölkerung durch ganz banale Angst von einer Stimmabgabe abgehalten werden kann. Die Silowiki waren bemüht, diese Angst durch Bots, Fake News und Videos mit Bekenntnissen von Leuten anzufachen, die angeblich bei der Registrierung beim Peramoha-Plan erwischt wurden. Und so sehr die Organisatoren der Wahlen auch versichern, dass die Plattform absolut sicher ist, wird ein gewisser Teil der Belarussen im Land lieber nichts riskieren.

Der Koordinationsrat hat selbst dazu beigetragen, das Ansehen dieser Institution zu diskeditieren

Schließlich muss deutlich gesagt werden, dass der jetzige KR selbst einiges dazu beigetragen hat, das Ansehen dieser Institution zu diskreditieren.

Der Vorsitzende Jahorau erklärte Anfang April, dass man bei einer erfolgreichen Kampagne „mit einer Wahlbeteiligung von 50.000 und mehr“ rechne. 50.000 sind weniger als ein Prozent der belarussischen Wahlberechtigten. Wenn also eine derartige Ziffer erreicht wird, wäre die Legitimität der neuen Abgeordneten zwar größer als die ihrer Vorgänger, aber dennoch recht begrenzt.

Keine Schwatzbude

Am schwierigsten wird es für die neuen Abgeordneten zu beweisen, dass der KR keine Schwatzbude ist und keine zusätzliche Quelle von Zwist und Reibereien, sondern genau die Struktur, die die Anhänger eines Wandels in Belarus brauchen.

In den KR ziehen ambitionierte politische Akteure ein. Einige Experten gehen davon aus, dass Latuschka, der mit der längsten Liste antritt (47 Kandidaten), das Protoparlament als Bühne nutzen wird, um seine politische Position zu stärken. Er selbst wendet sich leidenschaftlich gegen jeden Verdacht, er wolle die Stellung von Zichanouskaja untergraben.

Trotzdem sprudelt das Thema hoch: Wenn er mit seinen Anhängern im KR die Mehrheit erringt, wird es dann zu einem Tauziehen kommen? Gerät diese Struktur zu einem ernsthaften Opponenten des Büros von Zichanouskaja? Wir können annehmen, dass die Mission des erfahrenen Dabrawolski mit seiner Liste darin besteht, ein solches Szenario zu verhindern und dem Team von Zichanouskaja ausreichend Einfluss im KR zu sichern.

Und das ist nicht das einzige Spannende bei den anstehenden Wahlen.

Wenn der Koordinationsrat lediglich zu einer Kampfarena gerät, wird sich die Krise der Opposition nur verstärken

Wettbewerb ist natürlich gut. Er ist das Markenzeichen der Demokratie. Allerdings ist zu bedenken, dass die belarussischen demokratischen Kräfte sich unter extremen Bedingungen bewegen. Wenn der KR lediglich zu einer Kampfarena gerät, die ständig neue Kluften erzeugt, wird sich die Krise der Opposition nur verstärken. Wenn dort einhellig leere Beschlüsse verabschiedet werden, wird von ihm ebenfalls keine große Wirkung ausgehen.

Für den neuen KR wird es äußerst wichtig sein, endlich eine überzeugende Mission dieser Institution auszuloten und seine Notwendigkeit nicht durch schöne Erörterungen zu beweisen, sondern in der Praxis. Diese Legislaturperiode wird für das weitere Schicksal des Koordinationsrates entscheidend sein.

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Die belarussische Diaspora: Erneuerte Solidarität

Im Zuge von Protest und Repressionen in Belarus haben allein im ersten Jahr seit August 2020 bis zu 150.000 Belarussinnen und Belarussen ihre Heimat verlassen. Mit dem Krieg in der Ukraine sind viele, die sich ein neues Leben in Kiew aufgebaut hatten, erneut auf der Flucht. Durch diese Krisen erlebt die belarussische Diaspora einen massiven Auftrieb. Reichen ihre Ursprünge als politische Kraft etwa einhundert Jahre zurück, ist sie heute weltweit vernetzt und für ein demokratisches Belarus aktiv.

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Swetlana Tichanowskaja

„Serjoscha, ich liebe dich sehr. Ich mache das nur für dich und die Menschen, die an dich glauben.“ Das sagte Swetlana Tichanowskaja vor Reportern, als sie aus dem Minsker Büro der Zentralen Wahlkommission trat, in der sie wenige Minuten zuvor die Bestätigung ihrer Präsidentschaftskandidatur ausgehändigt bekam. Zu diesem Zeitpunkt saß ihr Mann Sergej Tichanowski bereits seit mehr als zwei Wochen in Haft – er ist bis heute nicht frei. Die belarussischen Behörden hatten dem bekannten Blogger und Gründer des Youtube-Kanals Ein Land zum Leben die Kandidatur zu den Wahlen verweigert. Daraufhin hatte seine seine Frau Swetlana beschlossen, an seine Stelle zu treten.

Zurückhaltend, naiv, unerfahren: Das dachten dann wohl die meisten Belarussen, als sie Swetlana Tichanowskaja 2020 zum ersten Mal sahen, nur drei Monate vor den Wahlen vom 9. August. Seitdem ist Tichanowskaja zu einer erfahrenen Politikerin geworden, die schon jetzt mehr Staatsmänner von Weltrang getroffen hat als Machthaber Alexander Lukaschenko in seiner ganzen Laufbahn.

Swetlana Tichanowskaja und das sie stützende Wahlbündnis trat mit dem Versprechen an, die politischen Gefangenen freizulassen und anschließend faire und freie Neuwahlen durchzuführen / Foto © Jindřich Nosek (NoJin) unter CC BY-SA 4.0

Alexander Lukaschenkos strategischer Fehler und der Beginn von Swetlana Tichanowskajas neuem Leben fielen auf den 14. Juli 2020: Tichanowskaja wurde als einzige von drei aussichtsreichen Oppositionskandidaten zum Wahlkampf zugelassen. Mit dieser Zulassung wollte das Regime den Eindruck fairer Wahlen erwecken. Damals behauptete Lukaschenko noch, dass die belarussische Gesellschaft sowieso nicht „reif“ genug sei, um eine Frau ins Präsidentenamt zu heben. Ein ehrlicher politischer Wettstreit gegen männliche Kandidaten wäre ihm höchstwahrscheinlich zu risikoreich gewesen. Daher hatten die Behörden Sergej Tichanowski und Viktor Babariko präventiv festgenommen, außerdem Waleri Zepkalo die Kandidatur verweigert. Wenig später sollte sich herausstellen, wie bereit die belarussische Gesellschaft war, einer Frau das Vertrauen zu schenken.

Drohungen, erzwungenes Video und Tausende Anhänger

Tichanowskaja verkündete zwei Tage nach ihrer Registrierung als Kandidatin, sich mit Babarikos Kampagnenleiterin und Zepkalos Ehefrau zusammenzuschließen. Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo wurden als die „drei Grazien“ bezeichnet, und große Teile der Gesellschaft begannen, sie als Leitfiguren für einen potentiellen Wandel  anzusehen. Von Tichanowskaja erfuhren die Belarussen im Zuge des Wahlkampfs die Geschichte einer Hausfrau und Mutter, die eine Projektionsfläche für viele belarussische Frauen bot: Sie wurde in der Kleinstadt Mikaschewitschi geboren und hatte an der Pädagogischen Universität von Mosyr Fremdsprachen studiert. Später arbeitete sie in Gomel als Übersetzerin für Englisch und heiratete im Jahr 2005. Sie und ihr Mann bekamen zwei Kinder. Weil ihr Sohn mit einer Hörbehinderung geboren wurde, gab sie ihre Arbeit auf, um für ihn da zu sein.  

Zu den Kundgebungen dieser unerfahrenen Newcomerin kamen  hunderttausende Menschen in ganz Belarus. Schon damals war zu erkennen, dass Tichanowskaja – einmal ihrem Mann zuliebe in die Welt der Politik eingetaucht und von seinen Wählern unterstützt – ihr Projekt nicht auf halbem Wege fallen lassen würde. Auch dann nicht, als sie im Zuge der erfolgreichen Wahlkampagne einen Anruf von einer unbekannten Nummer erhielt: Der Anrufer drohte ihr mit Verhaftung und damit, ihr die Kinder wegzunehmen. Also nahm die Großmutter die Kinder in Obhut und reiste mit ihnen nach Litauen aus. Sie selbst setzte ihren Wahlkampf fort. Das Wahlbündnis um Tichanowskaja trat dabei mit dem Versprechen an, die politischen Gefangenen freizulassen und anschließend faire und freie Neuwahlen durchzuführen.

Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse am 9. August 2020 kam es in Belarus noch am selben Abend zu Massenprotesten, Verhaftungen und Polizeigewalt: Der Unmut über das offensichtlich gefälschte Wahlergebnis hatte landesweite Proteste ausgelöst. Berechnungen zu den Stimmabgaben, die Aktivisten vorgenommen haben, legten nahe, dass das Wahlbündnis um Tichanowskaja ziemlich wahrscheinlich mindestens den zweiten Wahlgang erreicht hatte, was den offiziell verkündeten Zahlen von 9,9 Prozent diametral entgegenstand1. Die Zentrale Wahlkommission erklärte, mehr als 80 Prozent der Stimmen seien an Lukaschenko gegangen.

Für Tichanowskaja brachte der nächste Tag endgültige Ernüchterung. Als sie das Wahlergebnis bei der Zentralen Wahlkommission in Minsk anfechten wollte, kehrte sie von dort nicht wieder zurück. Nachdem litauische Behörden tags darauf angaben, dass sie sich in Litauen aufhalte, tauchten zwei Videos auf: Darin rief eine verängstigte Tichanowskaja die Belarussen dazu auf, nicht mehr auf die Straße zu gehen, und erklärte, das Land  verlassen zu haben. Sie begründete das mit der Sorge um die Sicherheit ihrer Kinder2. Später wurde bekannt, dass mindestens eines dieser Videos unter dem Druck des belarussischen Geheimdienstes KGB entstanden war3.
Zehn Tage später gab Tichanowskaja in Litauen ihre erste Pressekonferenz aus dem Exil.

Zu den Kundgebungen dieser unerfahrenen Newcomerin kamen hunderttausende Menschen in ganz Belarus / Foto © Nadia Buzhan

Ein Treffen mit Biden – „Mehr als ein Foto auf Twitter“

Ihr erster wichtiger politischer Schritt im Exil war es, dem Regime ein symbolisches Volksultimatum zu stellen: Sie forderte Lukaschenko auf zurückzutreten, zudem alle politischen Gefangenen freizulassen und die Gewalt gegen die Protestierenden zu beenden. Andernfalls drohe ein Generalstreik – zu dem es im Oktober 2020 tatsächlich kam: Studierende, Ärzte, Unternehmer, Angestellte und Arbeiter der mächtigen Staatsbetriebe schlossen sich dem an. Allerdings erreichte der Streik nicht die gewünschten Ausmaße. Auch weil es der Staatsmacht gelang, die Welle des Ungehorsams und den Protestwillen mit brutalen Festnahmen und Kündigungen zu brechen und einzuhegen. Daher war der Streik relativ schnell beendet, und weitere Versuche, solche Streiks zu organisieren, blieben auch später erfolglos.  

Tichanowskaja und ihr Team begannen vom Exil aus, international politische Aufmerksamkeit für die belarussische Demokratiebewegung zu schaffen, indem sie zahlreiche Staatsoberhäupter westlicher Länder traf, darunter Emmanuel Macron, Angela Merkel, Boris Johnson und Joe Biden. Sie wurde zu einer ernst zunehmenden Stimme für ihr Land. Der Politologe Artyom Shraibman bemerkte damals zu Tichanowskajas Treffen mit Biden: „Ein solches Symbol auf [Präsidenten]Ebene ist mehr als ein Foto auf Twitter. Für die amerikanischen Bürokraten ist das ein starkes Signal.“ Zum Vergleich: Lukaschenko hat in den vergangenen zwei Jahren nur Putin, staatliche Amtsträger aus Venezuela und Staatsführer aus der Einflusssphäre der OVKS getroffen.

Diplomatische Erfolge im Exil

Nach den gefälschten Wahlen hatte die westliche Diplomatie Lukaschenko deutlich zu verstehen gegeben, dass Verhandlungen erst nach einem angemessenen Dialog mit der Opposition, Neuwahlen und der Freilassung politischer Gefangener möglich seien.

Unterdessen konnte Tichanowskaja nach nur wenigen Monaten in Litauen wichtige diplomatische Erfolge erzielen: Das EU-Parlament und der US-Kongress erkannten den auf ihre Initiative hin gegründeten Koordinationsrat als legitime Vertretung des belarussischen Volkes an. Im Sommer 2021 wurde ihrem Büro von der litauischen Regierung der Diplomatenstatus verliehen. Im Februar 2022 kündigte sie die Bildung einer Exilregierung an.
Dass Tichanowskaja durch die westliche Gemeinschaft so vielseitige Unterstützung erhielt, hat ihre Anerkennung erheblich gesteigert, auch bei den Belarussen im Inland.

Zum ersten Mal seit Langem hat auch die belarussische Diaspora eine angesehene moderne Führungspersönlichkeit. Swetlana Tichanowskaja und ihr Team kommunizieren regelmäßig mit Vertretern der belarussischen Diaspora in aller Welt, etwa in den von ihr eingerichteten Volksbotschaften, die als informelle Auslandsvertretungen der Belarussen fungieren. Sie persönlich nimmt an Demonstrationen von Belarussen im Ausland teil und unterstützt Familien von politischen Gefangenen.
Der letzte führende Politiker der Diaspora war Sjanon Pasnjak, ein ehemaliger Abgeordneter des belarussischen Obersten Sowjets, der seit mehr als 20 Jahren nicht mehr in Belarus lebt und Vorsitzender der ultrakonservativen christlichen Partei BNF ist. Für viele Belarussen, die schon lange im Ausland sind, ist er bis heute ein wichtiger Bezugspunkt. Der Großteil der belarussischen Diaspora, die seit 2020 weltweit noch einmal um mindestens 100.000 Menschen gewachsen ist, dürfte jedoch inzwischen Tichanowskaja anhängen, auch, weil sie für eine neue Generation steht.

Gleichzeitig droht den Exilpolitikern angesichts der harten politischen Repressionen ein Bedeutungsverlust bei den Menschen in Belarus selbst: Laut einer unabhängigen Umfrage unter Belarussen, die den Protest unterstützen, vertrauen zwar 85 Prozent der Befragten Tichanowskaja, im Februar 2022 hätten jedoch nur 19 Prozent für sie gestimmt. Der beliebteste Oppositionspolitiker ist nach wie vor Viktor Babariko, den 45 Prozent der Befragten wählen würden.

Wobei die Unterstützung für Tichanowskaja seit Beginn des Kriegs in der Ukraine wieder leicht angestiegen ist. Ihr Team leistet unter anderem humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und verfolgt die Bewegung von russischem Militärgerät auf dem Territorium von Belarus.
Dabei verfügt sie nachweislich über Wirkmacht: Als Tichanowskaja am 27. Februar, dem Tag des umstrittenen Verfassungsreferendums, dazu aufrief, gegen den Krieg auf die Straße zu gehen, kam es in Belarus zu zahlreichen Protesten, bei denen mindestens 500 Menschen festgenommen wurden, die meisten in Minsk.

Kritiker in den oppositionellen Reihen

Innerhalb der belarussischen Opposition wurden immer wieder auch kritische Stimmen laut, die ihr mangelnde politische Kompetenz, eine unklare Position und umstrittene politische Entscheidungen vorwarfen, darunter übertriebenen Optimismus und eine viel zu konkrete Ankündigung eines Siegs über das Regime – was der bekannte Philosoph Wladimir Mazkewitsch mit den Worten quittierte: „Im Herbst haben Sie geschrien, das Regime würde bis Weihnachten oder Neujahr fallen. Es ist aber nicht gefallen, und die Menschen, die darauf gehofft haben, sind jetzt verzweifelt.“ Zu wenig strategisches Denken, um auch die Unentschlossenen anzusprechen, kritisierte Politologe Andrej Kasakewitsch und befand, es brauche mehr als mit politischen Statements in den sozialen Medien „viral“ zu gehen.
Eine der ersten öffentlichen Äußerungen, die Tichanowskajas Glaubwürdigkeit vorübergehend ernsthaft untergrub, war ein Interview mit dem russischen Wirtschaftsmedium RBK im September 2020, kurz nach ihrer Emigration. Darin bezeichnete sie Putin als „weisen Regenten“. Später rechtfertigte sie ihre Aussage mit mangelnder Erfahrung – der Zweck des Interviews sei gewesen, Putin dazu anzuhalten, Lukaschenko nicht länger zu unterstützen.

Tichanowskaja drohen bis zu 59 Jahre Haft, wenn nicht die Todesstrafe

Entgegen Lukaschenkos Behauptung, die belarussische Gesellschaft sei für eine Frau an der Spitze nicht reif, haben die Belarussen mit Swetlana Tichanowskaja nicht nur eine wenig bekannte Frau groß gemacht, sondern sehen in ihr auch die Verkörperung einer Ära der Freiheit, die allerdings alles andere als nahe scheint. Tichanowskaja wurde zum Symbol dieses Kampfes, was trotz aller Kritik nur wenige bestreiten. Oder, wie es Ales Santozki in einer Analyse für Nascha Niwa ausdrückte: „Dass wir jetzt das Büro von Tichanowskaja und andere organisierte Strukturen mit stabilen Kontakten zu den politischen Eliten westlicher Länder haben, ist tatsächlich ein großer Vorteil für uns. Denn das verleiht Belarus abseits von Lukaschenko politische Subjekthaftigkeit. Und wenn die Zeit der Entscheidung über die Zukunft der gesamten Region kommt, kann das einen großen Unterschied machen.“

Am 14. Dezember 2021 war Tichanowskajas Ehemann Sergej Tichanowski zu 18 Jahren Haft verurteilt worden. Sie habe keine Hoffnungen gehegt, dass er vor einem Machtwechsel in Belarus freikommen würde, kommentierte sie das Urteil am Rande einer Sitzung mit Parlamentsabgeordneten, zu der sie an diesem Tag in Schweden war4. Für sie selbst ist eine Rückkehr in ihr Heimatland unter diesen Bedingungen unwahrscheinlich. Aktuell laufen offiziell mindestens sechs Strafverfahren gegen sie (unter anderem wegen „Gründung einer extremistischen Vereinigung“, „Aufruf zum Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung“, „Vorbereitung von Massenunruhen“ und „Vorbereitung eines terroristischen Akts“). Am 6. März 2023 wurde sie in Abwesenheit von einem Minsker Gericht zu 15 Jahren Straflager verurteilt. 


1.Die Aktivisten haben die Wahllokale zugrunde gelegt, in denen Swetlana Tichanowskaja offiziell gewonnen hatte. Demnach erreichte sie in knapp 200 der Wahllokale eine Stimmenmehrheit von rund 57 Prozent, während ihr laut dieser offiziellen Zahlen zugleich in fast 4500 Wahllokalen angeblich nur 3 Prozent der Stimmen zugekommen sein sollen. Diesereklatante Widerspruch deutet auf massive Wahlfälschung hin, vgl. Itogowy ottschet o wyborach Presidenta Respubliki Belarus (Po dannym platform «Golos», «Subr» i soobschtschestwa «Tschestnyje ljudi»)
2.vgl.: currenttime.tv: Tichanovskaja zapisala dva videoobraščenija. V odnom ona govorit o detjach, vo vtorom prosit ne vychodit' na ulicy 
3.vgl.: mediazona.by: Belarus' posle vyborov. Den' tretij  
4.Die Autorin nahm an dieser Sitzung als Vertreterin der belarussischen Diaspora aus Schweden teil. 
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Alexander Lukaschenko

Vor 30 Jahren trat Alexander Lukaschenko nach gewonnener Wahl sein Amt als Präsident der Republik Belarus an. Er schaffte demokratische Freiheiten ab und errichtete ein autokratisches System. Waleri Karbalewitsch über Lukaschenkos Machtwillen und Gründe für die Beständigkeit der Diktatur.  

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