oder: Ode an die Übersetzerinnen und Übersetzer über das, was in ihnen steckt, am Beispiel Belarus
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Was nicht sehr bekannt ist: Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja ist Übersetzerin. Sie hat Englisch und Deutsch studiert und anschließend unter anderem für die in Irland ansässige Organisation Chernobyl Life Line übersetzt.
Ihr Interview mit RBC, das dekoder übersetzt hat, atmet den Geist, der im Übersetzen steckt: Sie steht im Dienst der belarussischen Menschen, wie eine Übersetzerin im Dienst eines Textes steht. Vielleicht sind diese Sätze ein bisschen zu groß. Das darf ruhig sein, denn das kommt in Bezug auf Übersetzerinnen selten vor. Und heute ist der Internationale ÜbersetzerInnentag, an dem wir das Übersetzen und die, die es tun, feiern.
Dieses Im-Dienst-der-Menschen-Stehen und der Wille, die Menschen zu fragen und das Erfragte zu beherzigen, die bei Tichanowskaja durchklingen (etwa, wenn sie sagt, dass sie diese und jene Frage nicht beantworten kann, denn bei solchen Fragen müsse das belarussische Volk mitentscheiden) – das ist kein Sich-Herauswinden oder arrogantes Drüberstehen. Es ist die Einsicht, das Bewusstsein: dass man fragen muss, dass man kommunizieren muss, bevor man Ziele festlegt, wenn man stellvertretend für jemand anderen spricht. Und es ist die demütige Einsicht, dass man nicht alles wissen kann, was man für seine Tätigkeit oder für die Übersetzung eines Textes braucht. („Wir begrüßen alle Vorschläge, die auf die Entwicklung unseres Landes abzielen. Die … Formen der Unterstützung sollen Experten vereinbaren, und ich weiß, dass sie schon in die Richtung arbeiten.“) Man weiß, wo man findet, was man sucht oder wen man fragt, mit wem man sich berät. Diese Haltung ist keine Entscheidungsschwäche: Denn jeder übersetzte Text steckt voller Entscheidungen, von manchmal schmerzlichen Kompromissen bis hin zu brillanten Würfen. Sonst gäbe es am Ende keinen Text.1
Diese Fähigkeiten, die ich von vielen Kolleginnen kenne und die ich an ihnen schätze, bringt die derzeit im Zentrum der Weltaufmerksamkeit stehende Swetlana Tichanowskaja mit, zumindest lese ich es aus dem Interview mit ihr heraus.
Und da fange ich an, mich ein wenig zu ärgern, dass immer, auch von ihr selbst, die Rede ist von „Hausfrau“ oder der „Stay-at-Home Mom“, die nun zum „Revolution Leader“ wird … Natürlich ist das marketingtechnisch, beziehungsweise genderklischeemäßig ein echter Reißer.2 Viele Übersetzerinnen mit Kindern haben ein paar Jahre lang weniger oder nicht gearbeitet. Die Gründe dafür sind divers, manche schön, manche ärgerlich. In Belarus funktioniert das dann alles noch mal ganz anders, doch das wäre ein Editorial in einem anderen Ressort, und der Feiertag wäre nicht der 30. September, sondern der 8. März.
S prasdnikom dorogije kollegy i soratniki! Herzlichen Glückwunsch zu unserem Tag, liebe KollegInnen und allen, die schätzen, was wir tun!
eure Rike Übersetzungsredakteurin bei dekoder
1.Nie steht in einer Fußnote: Die Übersetzerin konnte sich nicht entscheiden und hat deswegen einfach selbst etwas gedichtet. Obwohl sie in anderen Situationen vielleicht gerne dichtet. Doch da gilt es zu unterscheiden: Wo stehe ich im Dienst eines Textes, eines Volkes und wo kann ich machen, was ich will. ↑
2.Als Stay at home Mom ist man übrigens ständig Revolution- oder Counter-Revolution-Leader und Entscheidungsträgerin, oder sehe ich das falsch? ↑
Einmal sprach ich mit Schülern über den Krieg. Plötzlich steht ein achtjähriges Mädchen auf: „Daniil Alexandrowitsch, wie viele Menschen haben Sie getötet?“ Da verstand ich, dass die Kinder den Krieg heute völlig anders sehen. Dass es auch diese Seite des Krieges gibt, wo gefragt wird: „Wie viele Menschen haben Sie getötet?“ Nicht Deutsche, nicht Feinde, sondern Menschen. Ich antwortete: „Ich habe Feinde getötet.“ Daniil Granin
Während einer Vorlesung über russische Literatur „ging Vladimir Nabokov, ohne ein Wort zu sagen, über das Podium zur rechten Wand und schaltete die drei Deckenlampen aus. Dann zog er schweigend die Rollos der großen Fenster im Hörsaal hinunter und lief zurück zu den Lichtschaltern“, erinnerte sich ein Student: „,Am Firmament der russischen Literatur‘, verkündete Nabokov, ,ist das hier Puschkin!‘ Er schaltete die Lampe in der linken Ecke unseres Planetariums wieder an. ,Das hier ist Gogol!‘ Die Lampe in der Mitte leuchtete auf. ,Das ist Tschechow!‘ Die Lampe rechts erleuchtete. Dann löste Nabokov das Rollo, das mit einem lauten Knall in die Höhe schnellte. Ein breiter, heller Sonnenstrahl brach in den Hörsaal, Nabokovs Stimme donnerte los: ,Und das, das ist Tolstoi!‘“1
Mit Licht, Glück und ethischer Bestimmtheit wandte sich Lew Tolstoi in seinen Werken gegen das Motiv des Leids – und somit gegen seine Epoche. Denn die russische Literatur des 19. Jahrhunderts war vom Motiv der Leiderfahrung durchzogen. Dostojewski etwa enthüllte die Fragmentiertheit des menschlichen Bewusstseins mit seinen tiefen und dunklen Schichten und führte seine Protagonisten durch die Erfahrung der Sünde und des Leidens zur Wahrheit. Bei Tolstoi dagegen ist der Mensch in erster Linie ein ungeteiltes und glückliches Wesen, und „das menschliche Leben, soweit wir es kennen, ist eine Welle, die völlig in Glanz und Freude gehüllt ist“2. Als eine Art Gegenentwurf zu Dostojewski tritt bei Tolstoi ein intensives moralisches Empfinden an die Stelle der Sünde. Auch Tolstois eigenes Leben war das Produkt eines solchen Empfindens.
Leben und Wirken
Lew Tolstoi wurde am 28. August (9. September) 1828 auf dem Familiengut Jasnaja Poljana geboren, etwa 200 Kilometer entfernt von Moskau. Er gehörte dem Adelsgeschlecht der Grafen von Tolstoi an und wuchs in einer aristokratischen, von literarischem Schaffen weit entfernten Umgebung auf.
Er studierte Östliche Philologie und Rechtswissenschaften an der Universität Kasan, leistete seinen Wehrdienst, war in den Jahren 1854 und 1855 während des Krimkriegs an der Verteidigung von Sewastopol beteiligt, wurde mit dem Tapferkeitsorden der heiligen Anna ausgezeichnet und bewegte sich fern jeglicher literarischer Kreise.
So kam es völlig unerwartet, als Anfang der 1850er Jahre im Journal Sowremennik die Erstschrift eines bislang unbekannten Autors erschien, der sich hinter dem Kürzel L. N. verbarg. Es war der erste Teil von Tolstois biografischer Trilogie Kindheit, Knabenjahre, Jugendzeit. Sie begründete den Ruhm Tolstois.
Der Protagonist der Trilogie, Nikolenka Irtenjew, der drei Stadien des Erwachsenwerdens durchläuft, gleicht dem Autor. Allerdings nicht im biografischen Sinne, sondern der psychologischen Erfahrung nach. Diese steht über viele Jahre im Mittelpunkt von Tolstois Werken: in seinen drei großen Romanen Woina i Mir (dt. Krieg und Frieden, 1865–1869), Anna Karenina (1875–1877) und Woskressenije (dt. Auferstehung, 1899), in einer Vielzahl von Erzählungen, Dramen, publizistischen Essays und religionsphilosophischen Traktaten. Immer beschäftigt sich Tolstoi mit dem Finden der Wahrheit, die im Menschen verborgen und nur dadurch zu erkennen ist, dass man das Wesen des Menschen in seinem konkreten Sein ergründet.
Tolstois Anthropologie
„Der Mensch ist Alles und ein Teil von Allem“ – das ist die Kernthese der tolstoischen Anthropologie. Den Sinn seines Romans Krieg und Frieden sieht der Autor darin, die Menschen „dazu zu bringen, das Leben in all seinen unzähligen und unerschöpflichen Erscheinungen zu lieben“. Anna Karenina verkörpert laut Tolstoi das Leben „mit all der unausdrückbaren Kompliziertheit von allem Lebendigen“.
Der zweite Grundpfeiler in Tolstois Anthropologie ist das intensive moralische Empfinden. Alles im Leben wird als gut oder schlecht wahrgenommen. Dabei ergeben sich grundlegende Probleme, die es zu klären gilt: Was genau ist das Gute und das Schlechte? Was ist charakteristisch nur für mich und was ist charakteristisch für den Menschen allgemein? Was sind die Grenzen der Selbsterkenntnis? Das sind die Fragen, die sich Konstantin Lewin in Anna Karenina stellt, aber auch andere Protagonisten, die als „tolstoische Menschen“ bezeichnet werden.
Weltanschauliche Sinnkrise
Tolstoi selbst dachte über all diese Fragen sein ganzes Leben lang nach. All das findet sich in den Tagebüchern wieder, die er von der frühen Jugend an bis zu seinem Tod führte. Ende der 1870er, Anfang der 1880er Jahre durchlebte Tolstoi eine tiefe weltanschauliche Sinnkrise. In einer Reihe von religionsphilosophischen Werken suchte er nach theoretischen Begründungen für seine neuen Sichtweisen zu den Themen Religion, Moral, Kunst, Politik und Zivilisation. In dieser Zeit begann er, sich nicht mehr in erster Linie als Künstler zu begreifen, sondern als Religionsphilosoph. In seinen Traktaten erklärt Tolstoi, dass er zwar der Verkündigung Jesu glaube, nicht jedoch der Institution Kirche, in der der Glaube durch Ritualismus ersetzt würde. Das führte zu seinem Ausschluss aus der Kirche, der bis heute nicht aufgehoben wurde.
Schriftsteller, Moralist und Philosoph
Während der Schriftsteller Tolstoi bereits zu Lebzeiten ein anerkannter Klassiker der russischen Literatur war, erfuhr der Religionsphilosoph starken Gegenwind. Seine späten Werke, vor allem die religionsphilosophischen Traktate und der Roman Woskressenije mit ausführlichen Zitaten aus dem Neuen Testament, wurden massiv kritisiert. Tolstoi sah sich mit Vorwürfen des Moralismus und Utopismus konfrontiert. Es gab heftige Kritik an seiner religiösen Lehre sowie an der um Tolstoi in den 1880er Jahren gegründeten Bewegung Tolstowstwo. Unter anderem solche Philosophen wie Iwan Iljin oder Nikolaj Berdjajew traten damit hervor.
In seinen Tagebüchern bemerkte Tolstoi, dass er zunehmend darunter gelitten habe, nicht im Einklang mit seinen Überzeugungen gelebt zu haben. Der berühmte Literaturkritiker Viktor Schklowski vertrat die These, Tolstoi sei „Gewissen und Spiegel“ seiner Epoche zugleich gewesen. In seinen Werken habe er schließlich auch die eigenen Laster verteufelt.
Ein großer Teil der Rezeption sieht in Tolstois Verzweiflung darüber, den eigenen moralischen Ansprüchen nicht zu genügen, den Grund für sein tragisches Ende. In der Nacht auf den 28. Oktober (10. November) verließ Tolstoi unbemerkt Jasnaja Poljana. Wenige Tage später bekam er eine Lungenentzündung, die ihn zwang, seine Reise an der Bahnstation Astapowo zu unterbrechen. Nach einer Woche schweren Leidens starb er am 7. (20.) November im Haus des Leiters der Bahnstation.
1.zit. nach: Boyd, Brian (1991): Vladimir Nabokov: The American Years, Princeton, S. 221-222
2.Tagebucheintrag vom 27. Mai (8. Juni) 1884: Tolstoj, Lev (1952): Polnoe sobranie sočinenii, Moskau, Bd. 49, S. 98
Nikolaj Berdjajew (1874–1948) war ein russischer Philosoph mit weltweiter Wirkung. Zunächst marxistisch beeinflusst, stellte er sich noch vor der Oktoberrevolution gegen den Atheismus der Kommunisten und wurde 1922 ausgewiesen. Seine christlich-existenzialistische Philosophie stellt die Freiheit des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt, zielt dabei aber auf eine geistige Erneuerung der Gemeinschaft. Die religiöse Rückbesinnung in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beruft sich vielfach auf Berdjajews Denken.
Nikolaj Alexejewitsch Nekrassow war ein Autor, Kritiker und einflussreicher Publizist, der insbesondere in politisch-revolutionär gesinnten Kreisen eine breite Anhängerschaft fand. Im westlichen Ausland kaum bekannt, gilt Nekrassow in Russland als Nationalheld der Literatur des 19. Jahrhunderts und als moralische Instanz der Kulturgeschichte. Nekrassow begriff Literatur in erster Linie als Medium zum Ausdruck sozialer und politischer Belange.
Heute vor 14 Jahren verstarb Wassili Aksjonow. Er gilt als einer der wichtigsten, vielleicht der wichtigste, russische Autor der Nachkriegszeit. Im Tauwetter als Kultautor einer neuen Generation verehrt, unter Breshnew repressiert und schließlich des Landes verwiesen, durchlief Aksjonow das klassische Drama des sowjetischen Intellektuellen im 20. Jahrhundert. Torben Philipp über Leben und Wirken des Bestsellerautors.
Das Konzept der Russischen Welt (russ. russki mir) wurde in den Jahren 2006/07 entwickelt und hat seitdem an Popularität gewonnen. War es zunächst eher ein kulturelles Konzept, das die soziale Bindungskraft russischer Sprache und Literatur betonte (es existiert eine gleichnamige kulturpolitische Stiftung), so dient es heute auch zur Legitimierung außenpolitischer Aktionen, die den Einfluss Russlands im postsowjetischen Raum stärken sollten.
Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist die christliche Kirche mit der größten Glaubensgemeinschaft in Russland. Prägend für ihr Verhältnis zum russischen Staat ist das von der byzantinischen Mutterkirche übernommene Ideal der Symphonie, das heißt einer harmonischen Beziehung zwischen Staat und Kirche. Vor 1917 galt die Orthodoxie neben der Autokratie und dem „Volk“, genauer: einem volksverbundenen Patriotismus, als eine der wichtigsten Stützen des russischen Staates und des Zarenreichs – eine Traditionslinie, die heute wieder wirksam scheint.
Sein Name ist untrennbar mit seinem größten Coup verbunden – dem Schwarzen Quadrat (1915, Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau). Sein im doppelten Sinn ikonisches Gemälde stellt eine Tabula rasa für das Medium Malerei dar und bildet gleichzeitig den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer gegenstandslosen Abstraktion, die bis heute andauert. Malewitsch verstarb am 15. Mai 1935.
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