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Was ist Krieg?

Ein schönes Format in Russlands Medienlandschaft sind „Vorlesungen“: Ein Journalist oder Wissenschaftler erzählt über ein bestimmtes Thema. Ausführlich. Zunächst live, ein Auszug wird dann danach veröffentlicht. Auf Inliberty hat der bekannte Journalist und Kulturkritiker Juri Saprykin nun eine ganze Vorlesungsreihe bestritten zu den großen Themen des Lebens, und zwar aus russisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive: Liebe, Krieg und Freiheit – und andere russische Fragen.

In einer der ersten Vorlesungen beschäftigt er sich mit Krieg: Wie kann Krieg einen Wert darstellen? Und was soll das besondere russische Verständnis von Krieg sein? 

Источник Republic

In der Liste der „wichtigsten russischen Fragen“ wirft das Wort Krieg die meisten – entschuldigen Sie die Tautologie – Fragen auf. Wie kann Krieg bitteschön einen Wert darstellen? Wir sind doch friedliche Menschen. Und inwiefern soll sich das russische Verständnis von Krieg von anderen unterscheiden? 

Es stimmt zwar, dass die Ursprünge der russischen Literatur in Kriegsepen liegen (wie übrigens jeder Literatur). Die ältesten uns überlieferten weltlichen Werke sind das Igorlied, das Epos von der Schlacht am Don oder die Sage von der großen Schlacht gegen Mamai. Sie bestehen nahezu komplett aus Beschreibungen von Kriegshandlungen. Sie sind die Grundpfeiler unserer Kultur, ob wir wollen oder nicht. Aber damit sind wir keineswegs allein.   

Seit den vergangenen Jahrzehnten gibt es neben diesen Grundpfeilern, die schon fast in den Tiefen der Geschichte versunken und unsichtbar sind, eine weitere tragende Säule: den Großen Vaterländischen Krieg. Die Rolle, die er für die aktuelle Staatsideologie, die nationale Identität, die Erinnerungskultur oder das kollektive Bewusstsein spielt – nennen Sie es, wie Sie wollen – ist einzigartig. 

Wenn wir heute das Wort „Krieg“ sagen, sagen wir das ganz allgemein, aber fast augenblicklich wird es zu einem konkreten Krieg, mit Großbuchstaben: „Krieg“ ist immer der „Große Vaterländische Krieg“, der Zweite Weltkrieg, das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts, an dem das zeitgenössische Russland ansetzt und worin es nicht nur seine Bestimmung und Legitimation sieht, sondern auch das grundlegende Existenzmodell. 

Rückkehr sowjetischer Soldaten aus dem Großen Vaterländischen Krieg / Foto © Skaramanga_1972/lievejournal

Dieser Krieg gibt eine Matrix vor, in deren Sprache sich alles Alltägliche leicht übersetzen lässt – ob lokale bewaffnete Konflikte oder internationale politische Ereignisse, bis hin zu den absurdesten Fällen, wenn das Ausscheiden der deutschen Mannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft zur Fortsetzung der Schlacht bei Stalingrad wird oder das Spiel gegen Kroatien zum Kampf gegen die Ustascha, stets wie aus der Maschinenpistole aufgeladen mit der Beschwörungsformel „Wir können das wiederholen“. 

Der Krieg des 19. Jahrhunderts

Aber dieses Verständnis von Krieg ist nicht das einzig mögliche. Es war einmal anders, wie auch Krieg selbst anders war. Bei dem oft zitierten Satz „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist der klassische Krieg vom Typ des 19. Jahrhunderts gemeint. Dabei wird ein Streit weitergeführt, den Diplomaten nicht lösen konnten, es wird neues Gleichgewicht hergestellt und es werden, im Falle von Kolonialisierung, Einflusssphären erweitert und gleichzeitig zivilisatorische Missionen ihrer Vertreter erfüllt. So ein Krieg ist ein Spezialfall mit eigenen Regeln und Gesetzen.

Die Sichtweise auf den Krieg liegt im Auge des Betrachters. Nehmen wir zum Beispiel den Kaukasuskrieg. In der Regel sind solche Texte aus der Perspektive eines adeligen Offiziers geschrieben, der den Krieg als romantisches Abenteuer erlebt. Für ihn ist der Krieg die Möglichkeit, seinen Heldenmut unter Beweis zu stellen und zu Ruhm und Ehre zu kommen. Im Blick des Offiziers stehen in erster Linie edle Gefühle, starke Leidenschaften, große Taten oder exotische Bräuche und Sitten anderer Völker, auf die er stößt. Das ist eine erstaunliche und verblüffende Welt, die den Menschen die Chance bietet, sich von ihrer besten Seite zu zeigen.

Dabei entgeht dem Blick des adligen Offiziers natürlich nicht, dass er nicht der einzige ist in diesem Krieg, dass es auch Menschen gibt, für die er weder eine Reise noch ein Abenteuer darstellt. Das sind die vielzähligen Maxim Maximytschs, die Hauptakteure dieses Krieges. Die sind nicht so begeistert und nicht so romantisch gestimmt. Für die ist es vor allem hartverdientes Brot, wie die Arbeit in der Landwirtschaft. 

Kaukasuskrieg: Treffen auf die absolute Andersheit

In diesem Krieg gibt es weitere Akteure: die Bergvölker, mit denen man kämpfen muss und die es zu zivilisieren gilt. Sie haben kein Recht auf eine eigene Stimme, wie wahrscheinlich in jeder Art von Kolonialliteratur. Ihre Sitten, Bräuche und Gewohnheiten können beschrieben, ihr Mut bewundert und ihr Äußeres bestaunt werden, aber bis auf Hadschi Murat wird keinem Kaukasier bis Ende des 19. Jahrhunderts das Wort gegeben. 

Der Vaterländische Krieg erscheint als nationale Aufgabe, als Vereinigung aller im gemeinsamen Enthusiasmus / „Die Schlacht bei Borodino“, Louis Lejeune, 1822Es ist klar, dass es in jedem Kriegsbericht Leerstellen geben muss, Gruppen, die schweigen, und Schichten, die in diesem historischen Drama im Hintergrund bleiben, während nur den Siegern die Autorität zugesprochen wird, über den Krieg zu sprechen. In der Literatur wird der Kaukasuskrieg zu einem „Treffen auf die absolute Andersheit", auf einen Menschen, der nach grundlegend anderen, nicht nachvollziehbaren und zuweilen faszinierenden, zuweilen erschreckenden Regeln lebt.      

Der erste große Prosatext zum Vaterländischen Krieg von 1812 wird erst 1830 veröffentlicht. Es ist Michail Sagoskins Werk Roslawlew oder die Russen im Jahre 1812. Darin zeigt sich das Verständnis vom Krieg als einer Angelegenheit des Volkes mit oberster Priorität, die uns gewöhnlich und natürlich scheint. Im Namen des Krieges vereinen sich alle Stände und vergessen alle Unterschiede, vorübergehend wird die komplexe russische Gesellschaftsstruktur einfach und homogen. Alle verschmelzen zu einer stählernen Faust im Schlag gegen den Feind. Mit diesem neu aufkommenden Verständnis von Krieg als nationaler Aufgabe, als Vereinigung aller im gemeinsamen Enthusiasmus um das heilige Zarenreich, rutscht Russland in den Krimkrieg, der sich als bittere Enttäuschung entpuppt.    

Lew Tolstoi: Krieg als universelle Erfahrung

Neben einigen politischen Folgen führt die Erfahrung dieser Niederlage zu einer völlig neuen Auffassung von Krieg, die Lew Tolstoi aus den Batterien von Sewastopol mitbringt. Sein Blick ist nicht mehr der romantische Blick eines Offiziers, der nach Abenteuern sucht, es ist der Blick eines Kriegsteilnehmers, eines Menschen als solchem. 

Tolstoi berichtet über den Krieg aus der Sicht eines Teilnehmers und macht deutlich, dass diese Erfahrung universell ist. Es gibt keine Offiziere oder einfache Soldaten, Feldherren oder gewöhnliche Menschen, die unbemerkt im Hintergrund vorbeiziehen. Es gibt nur den Menschen, und jeder Mensch, auf den ein Geschütz zufliegt, hat in diesem Moment mehr oder weniger dieselben Empfindungen. Und das sind Empfindungen, die kein Mensch durchmachen sollte. Krieg widerspricht der menschlichen Natur völlig , es ist etwas Unerträgliches, das es nicht geben darf. 

Wie so oft, nimmt Tolstoi auch hier eine radikal neue Position ein, die vorherrschende Auffassungen vehement ablehnt, da diese versuchen, den Krieg in edle weiße Gewänder zu hüllen und ihn zu rechtfertigen mit der Verteidigung nationaler Interessen, Anlass seinen Heldenmut unter Beweis zu stellen oder der Möglichkeit Russlands Territorium zu vergrößern. 

Laut Tolstoi redet man sich damit den Krieg schön, während in Wirklichkeit der einzelne Mensch mit aufgeschlitztem Bauch auf dem Schlachtfeld liegt und ihm weniger als eine Sekunde zu leben bleibt. Und das ist das einzige, was zählt.

Jede Rechtfertigung oder Rationalisierung des Krieges ist Betrug, eine Illusion, die entlarvt werden muss. In Wirklichkeit sind die Gründe für einen Krieg eher profaner, pragmatischer Art. Für Fürst Schtscherbazki in Anna Karenina ist der Krieg – während er sieht, wie sich die Bevölkerung in einen patriotischen Taumel hineinsteigert – nichts weiter als eine fixe Idee des Adels. Sein äußerst treffender Satz ließe sich als Kommentar so manchem Sofaexperten entgegnen: „Sie meinen, ein Krieg sei notwendig? Wunderbar. Wer den Krieg predigt, kommt in eine besondere, vorgeschobene Legion, und dann – auf zum Sturm, zur Attacke, allen voran!“ Meistens verteidigen diejenigen die Kriege, die letzten Endes für ihre Worte nicht geradestehen müssen. Wenn es deine tägliche, schwere Arbeit ist, wirst du wohl kaum viele Worte darüber verlieren, außer ganz schlichte, vulgäre.

Das Schlachtfeld als Chaos

Tolstois Darstellung steht im Widerspruch zu der damals etablierten Tradition, den Krieg als Ausdruck von Größe und Bedeutung historischer Persönlichkeiten zu sehen. So ist Woina i Mir (dt. „Krieg und Frieden“​) eine groß angelegte Polemik gegen jene, die meinen, dass Kriege von Napoleon, Alexander oder Kutusow gewonnen werden, dass Kriege den Befehlen bedeutender Autoritäten gehorchen. Das Schlachtfeld ist ein Chaos, das von fast mystischen, unergründlichen Kraftlinien bestimmt wird, vom Trieb ganzer Nationen. 

Es ist durchaus interessant, dass es um den Zeitpunkt der Veröffentlichung von Woina i Mir einen Skandal gab, der sehr an die Skandale der letzten Jahre erinnert: Tolstoi wird buchstäblich beschuldigt, die Kriegsveteranen zu verunglimpfen. Pjotr Wjasemski schreibt, Tolstois Roman sei eine Schmähschrift auf den Krieg, er habe dieses heroische Ereignis dargestellt, als würden da Menschen im Dreck herumwuseln und selbst nicht verstehen, was sie tun und wohin es geht. Eine zentrale Frage, die Tolstoi beschäftigt, lautet: Was bringt Menschen dazu, sich zusammenzurotten und in dieselbe Richtung zu marschieren, mehr noch, etwas zu tun, das der menschlichen Natur absolut widerstrebt?  
Trotz seiner seitenlangen geschichtsphilosophischen Überlegungen, muss Tolstoi vor dieser unsichtbaren überwältigenden Kraft in gewisser Hinsicht kapitulieren. Er spürt ihre Wirkung, kann sie aber nicht genau greifen. Natürlich ist die ordnende bürokratische Maschinerie der Moderne eine treibende Kraft für das organisierte Heer, und das Unpersönliche und Maschinenhafte ist an sich schon erschreckend. Und trotzdem bleibt das Gefühl, dass hinter diesem bürokratischen Apparat etwas Größeres steht, irgendwelche unergründlichen Schicksalskräfte. Etwas Unbestimmtes, das sich im Laufe des 20. Jahrhunderts durchsetzt. Und Tolstois Vergleiche vom zerstörten Ameisenhaufen oder Bienenstock weichen komplett den Metaphern vom Wetterleuchten, lodernden Himmel und anderen metaphysischen Verklärungen. 

Denn die Ereignisse des 20. Jahrhunderts in ihrem vollen Ausmaß haben tatsächlich nichts mit Bienenstöcken gemeinsam. Sie sind unfassbar, katastrophal und monströs. „Karger Himmel der Tode in Scharen“, wird später Ossip Mandelstam schreiben. 

Um die Jahrhundertwende fängt es an, wird immer deutlicher, dass der Krieg nicht mehr Anlass ist, Ruhm zu erlangen, und auch keine Aufgabe der Nation. Er ist ein weltumspannendes Grauen, das der menschlichen Natur zuwiderläuft und gleichzeitig die Menschen einer fatalen Zwangsläufigkeit unterwirft.  

Karger Himmel der Tode in Scharen

Wahrnehmbar wurde dieser „karge Himmel der Tode in Scharen“ erstmals am Vorabend des Ersten Weltkriegs – jenes Krieges, der von späteren tragischen Ereignissen aus dem Gedächtnis gedrängt wurde, der aber eine weitere, eine wichtige Erkenntnis mit sich brachte. Nämlich, wie gefährlich der, wie Lenin es nannte, „Übergang des imperialistischen in den Bürgerkrieg“ ist, dieser auflodernde Patriotismus und die Vereinigung aller Volkskräfte gegen einen Feind.

Jeder kann zum Feind werden. Nicht nur Ungläubige oder Imperialisten, diabolische Deutsche oder Japaner, auch dein Nachbar oder dein Bruder. 
Dieser Krieg schwelt gewissermaßen ständig in uns, denn durch Russland ziehen sich unzählige Sprenglinien. Zwischen den bildungsfernen Schichten und der Elite, zwischen Arm und Reich, zwischen Bauern und Großgrundbesitzern, zwischen Stadt und Land, zwischen dem Chanson und dem iPhone, zwischen Liberalen und Patrioten. Jeder dieser Konflikte lässt sich im Handumdrehen bis zu dem Punkt hochschaukeln, wo plötzlich eine wahrhaft dunkle Macht, die vernichtet werden muss, gleich neben einem ist. 

Das Gerede darüber, dass sich verschiedene Bevölkerungsgruppen zusammenschließen müssen für ein übergeordnetes Ziel, der Patriotismus, der Nationalstolz und der gemeinsamen Sieg – all das sind Beschwörungsformeln, die die Gesellschaft vor dem Auseinanderbrechen bewahren sollen. Und vor dem Krieg jeder gegen jeden. 

Russischer Existenzialismus, ohne papierene Klugscheißerei

Aber noch ein paar Worte zum Großen Vaterländischen Krieg. Selbstverständlich erschöpft sich sein Stellenwert im kulturellen Gedächtnis nicht darin, dass sich das ganze Volk vereint und den Feind besiegt habe. Es gab da etwas Größeres, das den vorherigen Kriegen nicht eigen gewesen war oder sich zumindest nicht in diesem Ausmaß in die Kultur eingeschrieben hat. Für alle, die den Krieg überlebt haben – und das wissen wir nur zu gut – war dieser Krieg das wichtigste Ereignis ihres Lebens. Für alle, die an der Front waren, für alle, die im Hinterland waren, überhaupt für jeden. Etwas Wichtigeres konnte es danach nicht mehr geben. Es war der Augenblick der Wahrheit, der den Menschen das Maximum an Kraft abverlangt und sie mit der absoluten Ausnahmesituation konfrontiert hatte. Ständig an der Grenze zwischen Leben und Tod trafen sie dringlichste moralische Entscheidungen. Auf welcher Seite stehst du? Wie verhältst du dich? Wofür entscheidest du dich? Bist du bereit, Risiken zu tragen? Zu sterben? Und wenn ja, wofür? Das war russischer Existenzialismus ohne papierene Klugscheißerei, es war der Augenblick, in dem Millionen Menschen solche Fragen für sich selbst beantworten mussten, ohne irgendwelche Autoritäten, Religionen oder Ideologien. Fragen über Leben und Tod.  

Zuweilen vermittelte der Krieg manchen Menschen an manchen Orten den Eindruck von unwahrscheinlicher Freiheit und Glück. In Wassili Grossmans Roman Shishn i Sudba (dt. „Leben und Schicksal“) gibt es eine Beschreibung vom Grekow-Haus, dem das Pawlow-Haus in Stalingrad als reales Vorbild diente, jenes umstellte Haus, das Soldaten monatelang mit dem Leben verteidigten. 

Wenn du dich plötzlich an so einem Ort wiederfindest, in ständiger Lebensgefahr, aber immer wieder überlebst, entsteht ein unglaublich starkes Gefühl von Brüderlichkeit, Gemeinschaft und einem Sinn des Lebens, sprich von etwas, das man durchaus als Glück interpretieren könnte. 
All diese Dinge, die während des Großen Vaterländischen Krieges mit einer nie gekannten Intensität erlebt wurden – sie sind der Grund für die starke Erinnerung an ihn. Es versteht sich von selbst, dass uns diese Erinnerung nicht einfach durch die aktuelle Politik aufgezwungen wird, sie sitzt tief in uns. Ist seit 1945 immer präsent. 

In den Kellern saßen die Kinder und wollten unter die Panzer

Bei Wyssozki heißt es in der Ballada o Detstwe (dt. „Ballade über die Kindheit“): „In den Kellern und Souterrains saßen die Kinder und wollten unter die Panzer.“ Dieses Gefühl, man sei zu spät geboren und hätte das wichtigste Ereignis im Leben verpasst, war der ersten Nachkriegsgeneration besonders eigen. Aber auch heute flammt es hier und da auf. 

Ich möchte an dieser Stelle nicht über Sachar Prilepin sprechen. Es versteht sich von selbst, dass die ganze Geschichte mit dem Donbass für Prilepin wie für viele andere nicht nur mit dem Wunsch herumzuballern einhergeht, sondern auch mit der obengenannten Sehnsucht nach dem wichtigsten Krieg im Leben, nach dem Großen Vaterländischen, wo das absolute Gute auf das absolute Böse trifft. Hier wird für viele plötzlich alles nochmal durchgespielt, und zwar buchstäblich, mit denselben Begrifflichkeiten: Man führt Krieg gegen die Faschisten, gegen die Henker. Die Sehnsucht nach Wahrheit und Sinn, die der Große Vaterländische mit sich brachte, ist so stark, dass man bereit ist, jeden Krieg zum Großen Vaterländischen zu erklären.

Es gibt noch etwas Wichtiges, das nicht als Nachklang der Kriege entstanden ist, sondern als eine Art therapeutisches Mittel im Umgang damit: die Lieder von Viktor Zoi

Wir denken, wir lieben Zoi, weil er so großartige Lieder schrieb – schön, melodiös, energiegeladen und ein bisschen rätselhaft. Aber ich weiß noch sehr gut, welche Zeilen den Jugendlichen am stärksten im Gedächtnis blieben, als das alles 1988/1989 aufkam. Für die meisten waren es zweifellos die Bilder des Krieges: „Wünsch mir Glück im Gefecht“, „ich will niemandem den Fuß auf die Brust setzen“, „wie die Krieger wankend ihre Schwerter am Gras abwischten“, „was sind tausend Worte wert, wenn es auf die Armeskraft ankommt“. 

Ich bin mir vollkommen sicher, dass  diese Worte genau in jenem Moment gesagt werden mussten: „zwischen Himmel und Erde herrscht Krieg“. Was bedeutet das? Es sind nicht die Worte eines Militaristen oder Propagandisten, der den Krieg überhöht oder behauptet, wir könnten den ganzen Planeten in radioaktive Asche verwandeln. Es sind Worte, die etwas vollkommen Unrussisches durchweht, vielmehr ist es eine östliche Auffassung vom Krieg als Teil eines großen, kosmischen Zyklus. Ich will niemandem den Fuß auf die Brust setzen, aber es ist vom Schicksal vorherbestimmt, es ist Ausdruck eines Naturgesetzes, eines natürlichen Zyklus, der sich immerzu zwischen Himmel und Erde vollzieht. „Nach einer Stunde ist es bloß noch Erde, nach zwei wachsen auf ihr Blumen und Gras, nach drei ist sie wieder lebendig.“

Zwischen Himmel und Erde herrscht Krieg

Man achtet da nicht unbedingt drauf, aber es ist bemerkenswert, wie in der ersten Strophe des Liedes Swesda po imeni Solnze (dt. „Ein Stern namens Sonne“) der Blick wandert. Anfangs ist er auf den Boden geheftet, weißer Schnee, graues Eis auf der aufgeplatzten Erde; dann schnellt er hinauf und zeigt uns die Stadt im Verkehrsknoten; plötzlich steigt er noch höher, Wolken ziehen über die Stadt und spiegeln das Licht des Himmels; bis er in der fünften Zeile im fernen Kosmos verschwindet, zum Planeten namens Sonne. In diesen Zeilen sehen wir den gesamten kosmischen Zyklus, in dem ein zweitausend Jahre andauernder Krieg als natürliches und unabdingbares Element erscheint. 

https://www.youtube.com/watch?v=LO_VEv1wFio

 

Viktor Zoi, „Swesda po imeni Solnze“ im Film „Igla“ von Raschid Nugmanow, 1988

Warum mussten diese Worte gesagt werden? Oder warum hatten sie zu jener Zeit so eine starke Wirkung? Weil sie, wie mir scheint, für die Menschen, die sie mit 15 oder 16 zum ersten Mal hörten, eine unwahrscheinliche Hilfe waren, die 1990er Jahre zu überstehen. Denn sie hatten sich plötzlich im Epizentrum gleich mehrerer Kriege wiedergefunden: Im Krieg, der auf den Straßen der russischen Städte tobte und der sich auf unterschiedlichste Weise äußerte – vom Putsch bis zur Straßenschießerei

Zudem hatten sie den ersten Tschetschenienkrieg miterlebt, bei dem es keine ritterlichen Hoffnungen mehr gab, kein Gefühl der großen, gemeinsamen Sache. Nur die absolute Sinnlosigkeit, Absurdität und den Schrecken des Zusammenpralls mit einem äußerst brutalen Gegner, der gleichermaßen der Eigene, der Fremde, der Andere und sonst noch wer war. 

Diese aus dem Mund eines fünfundzwanzigjährigen Petersburger Jungen unerwartete Weisheit in Bezug auf Krieg – nicht einfach als patriotische Aufwallung, sondern als eine harte, aber absolut notwendige menschliche Angelegenheit, hat den Menschen in den 1990ern sehr geholfen. Und dieses Verständnis hat bis heute nicht an Aktualität verloren.

Die 1990er wurden durch Afghanistan so, wie sie waren

In Zusammenhang mit den Kriegen in Afghanistan und Tschetschenien hat auch der Film Brat (dt. „Bruder“) von Alexej Balabanow eine besondere Bedeutung. Er zeigt den Krieg als eine Erfahrung, die im Menschen eine feste, kristalline Struktur erzeugt, welche er dann auch in Friedenszeiten um sich herum aufbaut. 

Das alles ist sehr nah an dem posttraumatischen amerikanischen Film nach dem Vietnamkrieg, in dem Veteranen von der Front zurückkehren, aber den Krieg nicht aus dem Kopf bekommen. 

Der Film „Brat“ zeigt den Krieg als traumatische Erfahrung, die Veteranen nicht aus dem Kopf bekommen / Filmstill aus dem Film „Brat“/CTB Film Company

In Balabanows Film schwingt sogar mit, dass die 1990er durch den Afghanistankrieg so wurden, wie sie waren, denn die charismatischsten, leidenschaftlichsten und energischsten Menschen dieser neuen Verhältnisse waren Leute, die nur einen Verhaltensmodus kannten: sich mit einer Handvoll Vertrauter, quasi Brüder, im Schützengraben zu verschanzen und um sich zu schießen. Sind ringsum keine Feinde, werden sie künstlich geschaffen. 

Einen anderen Verhaltensmodus kennen Menschen nach einer Kriegserfahrung nicht. Weder die gemeinsame Sache, noch patriotische Aufwallung, noch Ehre oder Heldenmut, sondern das Gefühl eines Soldaten, der im Schützengraben sitzt und sich nach allen Seiten vor Feinden verteidigen muss – das war ihr Beitrag zum Frieden. 

Vor diesem Hintergrund wird vieles verständlich: angefangen bei den Besonderheiten der russischen Privatisierung bis zu den Besonderheiten der russischen kriminellen Szene. 

Die unterschiedlichen Auffassungen von Krieg haben allerdings eines gemeinsam. Und das konnten wir in den letzten Jahren sehr deutlich spüren: Sie stehen allesamt auf sehr wackligen Füßen. Beim kleinsten Druck von oben kippen wir als Individuen oder als Gesellschaft in Kriegsszenarien. 

Soldaten auf dem Sofa 

Plötzlich fühlen wir uns wie Soldaten, auch wenn wir bloß auf dem Sofa sitzen und Kommentare bei Facebook tippen oder den Fernseher anbrüllen. 

Der Krieg ist eine große Versuchung. Er lockt mit der Möglichkeit, doch noch jene wichtige Sache zu erleben, die alles mit der absoluten Wahrheit auflädt und alle Schulden erlässt. 

Wir glauben sehr leicht an Geschichten von dunklen Mächten, die unser aller Existenz bedrohen. Und je leichter wir daran glauben, je leichter wir darauf reinfallen, desto schneller geraten wir in die Hände ganz anderer dunkler Mächte, die Menschen zu einer Masse zusammendrängen und in den Tod schicken, wie schon Tolstoi sagte. 

Je leichtfertiger wir in gewöhnlichen Facebook-Posts eine Sprache des Krieges verwenden, je leichtfertiger wir unsere Widersacher mit Insekten, Parasiten, Käfern und anderem Getier vergleichen, desto näher rücken wir der Ansicht, sie seien Unmenschen, die vernichtet werden müssen. Das Einzige, was uns davor bewahren kann, ist die durch die russische Geschichte buchstäblich leidvoll errungene Erkenntnis, dass die letzte Wahrheit nicht in exaltierten Losungen oder den patriotischen Notizen eines Graf Rastoptschin liegt. Sondern in der Angst, im Schmerz und im Chaos, die im Hirn eines Menschen toben, der irgendwo auf dem Schlachtfeld bei Sewastopol liegt und nur noch eine Sekunde zu leben hat. 

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Großer Vaterländischer Krieg

Als Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet man in Russland den Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941–1945. Der Begriff ist an den Vaterländischen Krieg gegen Napoleon im Jahr 1812 angelehnt. Galt der Sieg über den Faschismus offiziell zunächst als ein sozialistischer Triumph unter vielen, wurde er seit Mitte der 1960er Jahre zu einem zentralen Bezugspunkt der russischen Geschichte.

„Der Große Vaterländische Krieg 1941–1945 war der gerechte Befreiungskrieg des sowjetischen Volkes für die Freiheit und Unabhängigkeit der sozialistischen Heimat gegen das faschistische Deutschland und seine Verbündeten, der wichtigste und entscheidende Teil des Zweiten Weltkriegs 1939–1945.“ So definierte im Jahr 1985 eine einschlägige Moskauer Enzyklopädie.1 Diese in der Sowjetunion und einigen Nachfolgestaaten übliche Bezeichnung entspricht chronologisch und geographisch in etwa den deutschen Begriffen Krieg an der Ostfront oder Russlandfeldzug. Selbst für sich allein genommen war dieser Abschnitt des Zweiten Weltkriegs einer der blutigsten Kriege der Weltgeschichte.

Ein Sieg unter vielen

Der Begriff ist an die Bezeichung für Napoleons gescheiterten Russlandfeldzug von 1812 angelehnt, der in Russland als Vaterländischer Krieg bekannt ist. Gemeint ist ein Verteidigungskrieg auf eigenem Boden, auch wenn dieser in eine Gegenoffensive außerhalb der Staatsgrenzen übergeht. Bereits der Erste Weltkrieg wurde manchmal als Großer Vaterländischer Krieg bezeichnet.

Nachdem die Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, wurden die Parallelen zum Ersten Weltkrieg, vor allem aber zu 1812, schnell aufgegriffen. Bereits am nächsten Tag druckte die „Prawda“ einen Artikel des Parteiideologen Jemeljan Jaroslawskij mit dem Titel „Der Große Vaterländische Krieg“. Auch Stalin griff die Bezeichnung in seiner ersten öffentlichen Kriegsansprache am 3. Juli 1941 auf.

Obwohl der internationale Charakter aller drei Kriege stets betont wurde, markierte der Begriff des Vaterländischen Krieges eine Wende von einer sozialistischen Interpretation hin zu einer Besinnung auf die Geschichte Russlands vor der Oktoberrevolution. Militärische Ruhmestaten aus dem Mittelalter und der Zarenzeit wurden in der Propaganda ebenso betont wie die führende Rolle des russischen Volkes. Dennoch dauerte es Monate, bis der Ausdruck Vaterländischer Krieg zum Standardbegriff wurde – und erst gegen Ende des Kriegs war das zusätzliche Attribut Großer nicht mehr wegzudenken.

Die Chronologie des Kriegs und seine Bedeutung im Verhältnis zu anderen militärischen und politischen Ereignissen waren auch nach 1945 nicht sofort in Stein gemeißelt. Der 3. September 1945 als Tag des Sieges über Japan stand noch 1947 im staatlichen Festkalender und in Denkmalsentwürfen aus der Bevölkerung gleichberechtigt neben dem 9. Mai.2 Als vaterländische Kriege konnten der Bürgerkrieg von 1917–1921, die sowjetisch-japanische Schlacht am Chasansee von 1938 und sogar der sowjetisch-finnische Krieg von 1939/40 gelten.3

Bis zur Mitte der 1960er Jahre galt der Sieg von 1945 als eine Errungenschaft des Sozialismus unter vielen. Seine Bedeutung für das historische und politische Selbstverständnis des Landes stieg jedoch kontinuierlich, nicht zuletzt auf Druck aus der Armee, den neuen Veteranenverbänden und von Verantwortlichen aus den Westgebieten der UdSSR, wo die zentrale Rolle des Kriegs bereits etabliert war.

Siegeskult und Geschichtsklitterung

Nach dem Sturz Chruschtschows im Jahr 1964 bemühte sich die neue Staatsspitze, den bereits bestehenden Kult des Großen Vaterländischen Kriegs (GVK, russ. WОW, Welikaja Otetschestwennaja Woina) zu vereinheitlichen und im ganzen Land zu etablieren. Die rückwärtsgewandte Sicht auf den Krieg als das – neben der Oktoberrevolution – wichtigste Ereignis in Russlands Geschichte überschattete zunehmend die zukunftsorientierten Versprechungen des Sozialismus. Die 1418 Tage vom 22. Juni 1941 bis zum 9. Mai 1945 wurden zum endgültigen chronologischen Rahmen; die geheimen Teile der deutsch-sowjetischen Abkommen von 1939 und die Besetzung von Teilen Osteuropas durch die Sowjetunion 1939/40 blieben aus der offiziellen Geschichtsschreibung ausgespart.

Fundament des historischen Selbstverständnisses

Nach einer Phase kontroverser Diskussionen um Interpretationen und Chronologie des Krieges während der Perestroika stieg die Bedeutung des Kults um den GVK seit Mitte der 1990er Jahre wieder kontinuierlich. Durch den Zusammenbruch des marxistisch-leninistischen Geschichtsbilds blieb der Stolz auf den Sieg von 1945 als einziger historischer Affekt übrig, der nationalen Zusammenhalt versprach. Mit Unterstützung aus der Staatsführung, oft jedoch auf Initiative der Enkelgeneration, wurde er in den 2000ern endgültig zum Fundament des historischen Selbstverständnisses in Russland und Belarus.

In den ehemaligen Sowjetrepubliken und dem ferneren Ausland sind es vor allem russischsprachige Einwohner, für deren Geschichts- und Selbstverständnis der GVK ein wichtiger Bezugspunkt ist. Inzwischen werden mehr kulturelle Artefakte (Filme, Bücher, Denkmäler usw.) zu 1941–1945 produziert als zu spätsowjetischen Zeiten. In Russland ist der Tag des Sieges am 9. Mai der mit Abstand wichtigste Nationalfeiertag.

Ereignisse der jüngsten Geschichte werden zunehmend als Neuauflage des GVK gesehen, so – durch beide Seiten – der seit 2014 andauernde Ukrainekrieg. Gerade in der Ukraine hat der Konflikt jedoch auch zu Neuinterpretationen geführt. Neben dem weiterhin bestehenden Kult um den Großen Vaterländischen Krieg werden die Ereignisse ab 1941 dort, wie schon zuvor im Baltikum, zunehmend als Teil des Zweiten Weltkriegs von 1939–1945 gesehen und das eigene Land als Opfer zweier Diktaturen dargestellt.


1.Sovenciklopedija (1985): Velikaja Otečestvennaja vojna, 1941-1945, Moskau, S. 7
2.zu einem solchen Projekt siehe: Pamjatnik Pobedy: Dokumenty po istorii sooruženija memorial’nogo kompleksa na Poklonnoj gore v Moskve (1943-1991gg.), Golden-Bi Verlag, Moskau, S. 41-49
3.Pamjatnik Pobedy: Dokumenty po istorii sooruženija memorial’nogo kompleksa na Poklonnoj gore v Moskve (1943-1991gg.), Golden-Bi Verlag, Moskau, S. 27-32
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Der Tag des Sieges wird in den meisten Nachfolgestaaten der UdSSR sowie in Israel am 9. Mai gefeiert. Er erinnert an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland und ist in Russland inzwischen der wichtigste Nationalfeiertag. Der 9. Mai ist nicht nur staatlicher Gedenktag, sondern wird traditionell auch als Volks- und Familienfest begangen.

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Der Park des Sieges ist eine Gedenkstätte im Westen Moskaus. Auf dem weiträumigen Gelände befinden sich zahlreiche Statuen und Denkmäler, ein Museum sowie weitere Sehenswürdigkeiten, die an den Großen Vaterländischen Krieg erinnern. Die Parkalage hat sich nicht nur zu einem zentralen Gedächtnisort für die Feierlichkeiten am 9. Mai entwickelt, sondern ist auch als Touristenattraktion und Erholungspark bei den Moskauern sehr beliebt.

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