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„Der Point of no Return liegt hinter uns“

Sergej Petrow ist Russlands größter Autoimporteur und war zuletzt neun Jahre lang Abgeordneter der Staatsduma. Nun will er nicht noch einmal zur Wahl antreten. Als Politiker wollte er etwas verändern, politischen Wettbewerb anregen - hat jedoch das Gefühl, nichts erreicht zu haben. Mittlerweile sieht er das Parlament als Institution im Niedergang begriffen.

Noch sitzt der Milliardär für die Partei Gerechtes Russland in der Duma, die jetzt am Sonntag neu gewählt wird. Aus Teilen dieser Fraktion gab es in der Vergangenheit zeitweise aufmüpfige Töne – auch wenn das selten größere Wirkung hatte. Petrow selbst stimmte gegen das Dima-Jakowlew-Gesetz und das Jarowaja-Paket, bei der Angliederung der Krim enthielt er sich als einer von ganz wenigen Abgeordneten der Stimme. Petrow ist der Meinung, dass die Bürger gute Politik viel stärker einfordern müssten. Erst eine starke Krise, eine Erschütterung, wenn nicht gar ein Zusammenbruch des Systems könne einer liberalen oppositionellen Kraft dabei wirksame Unterstützung bringen.

Im Interview mit dem liberalen Wirtschaftsblatt Vedomosti gibt der Geschäftsmann eine vielbeachtete Innenansicht aus dem russischen Parlament.

Источник Vedomosti

Sergej Petrow saß neun Jahre lang in der Duma – nun wird er nicht mehr antreten /Foto © Sergej Kisselew/Kommersant

Vedomosti: Sie haben früher oft in Interviews gesagt, dass Sie auf die große Krise im Land warten und nicht an die Möglichkeit einer schrittweisen Entwicklung glauben. Wann wird das Ihrer Meinung nach passieren?

Sergej Petrow: Manchmal weiß man zwar, was passieren wird, kann aber nicht voraussagen, wann.

Genau das ist jetzt der Fall. Ich weiß, dass wir einen Weg eingeschlagen haben, der höchstwahrscheinlich keinen evolutionären Ausweg mehr bietet, der Point of no Return liegt hinter uns, und das System wird voraussichtlich mit einem Riesenkrach in sich zusammenstürzen, wie alle festgefahrenen Strukturen.  

Sie glauben also nach wie vor, dass sich in Russland eine Ineffizienz anhäuft, die letztlich zum Zusammenbruch führt?

Missverhältnisse werden stärker, der Niedergang der Institutionen schreitet voran. Unter normal funktionierenden Institutionen verstehe ich zum Beispiel eine Polizei, die vor allem dem Gesetz folgt, und nicht den Anweisungen des Innenministers. Bei uns verstehen viele Leute unter Begriffen wie Konkurrenz und Institutionen das, womit sie aufgewachsen sind, also etwas ziemlich Exotisches.

Glauben Sie, dass Reformen unmöglich sind?

Wenn Sie historische Parallelen finden, wo ein System reformiert werden konnte, das ein solches Niveau des Niedergangs erreicht hat, ändere ich gern meine Meinung. Ich bin zwar kein Historiker, aber ich glaube nicht, dass es solche Beispiele gibt. Obwohl uns klar ist, dass es uns ohne Reformen langfristig schlechter geht, nehmen wir lieber die Katastrophe morgen in Kauf als den sanften Ausstieg heute. Hätten wir in der UdSSR in den 1970er Jahren mit Reformen begonnen, wäre sie 1991 vielleicht nicht zusammengebrochen.

Duma-Diagnose

Können Sie eine Diagnose zur Situation im Parlament stellen? Warum ist ein Gesetz wie das Jarowaja-Paket möglich, wo doch für jeden denkenden Menschen offensichtlich ist, welchen Schaden es anrichtet?

Jede Struktur verkommt allmählich, wenn sie keine wirkliche Verantwortung trägt –  wenn der Glaube vorherrscht, die endgültige Verabschiedung eines Gesetzes hänge nicht von einem selbst ab, wenn man als Abgeordneter nicht den eigenen Namen unter das Jarowaja-Paket setzen muss und es auch nachher nicht gleich wieder selbst revidieren muss.

Wenn die Dinge so stehen, schämt sich niemand für seine Unprofessionalität. Und schreibt dann solche Gesetzesentwürfe: „Ich möchte, dass alle in Frieden leben und gut zueinander sind.“ Wie das zu geschehen hat, ist Sache der Regierung. Im Gesetzestext folgen nur Verweise auf Rechtsnormen.

Ein solches Niveau der Gesetzgebung wäre in einem normalen Parlament unmöglich – unserem erlaubt es, gut 500 Gesetze pro Jahr zu beschließen, ohne für ihre Qualität Verantwortung zu übernehmen. Klar ist es leichter, auf technische, aber für Wirtschaft und Bevölkerung notwendige Gesetze zu verzichten und lieber solche zu verabschieden, hinter denen die Fraktionen stehen.

Die Kollegen in den Ausschüssen sehen sich dann an, wie gut das Gesetz durchgeht und wer es eingebracht hat. Der Präsident? Dann bloß nicht diskutieren. Die Regierung? Da kann man schon mal was sagen. Hör mal, heißt es dann, das ist doch dein Vorschlag, du profitierst sicher davon, komm, gib uns auch was ab. Bei uns gibt es kein Anti-Lobbyismus-Gesetz. Die Kollegen können nicht glauben, dass ein Gesetz zum Wohl eines ganzen Wirtschaftszweigs beschlossen werden soll, weil sie in einem Umfeld aufgewachsen sind, wo das nie jemand so gemacht hat. Du sagst ihnen: Die Amerikaner haben uns in den 1940er Jahren mit dem Lend-Lease-Act geholfen, und dann auch in den 1990ern, und sie sagen darauf: Was war das denn bitte für eine Hilfe, ihre alten Vorräte haben sie uns angedreht. Eine solche Wahrnehmung ist natürlich ein Riesenproblem in der Kommunikation.

Wenn die Abgeordneten in schönster Eintracht dem Jarowaja-Gesetz zustimmen oder dem Gesetz zur Adoption russischer Waisenkinder durch Ausländer? Folgen sie damit ihren eigenen Interessen, oder wird Druck auf sie ausgeübt, gibt es da Abhängigkeiten?

Die Debatten im Parlament sind eine Methode, Konflikte in einer reifen Gesellschaft zu lösen, und wir haben uns dafür als zu schwach erwiesen. Bevor man in Rechte und Linke einteilt, muss man zuerst einmal eine ausreichende Menge an Menschen mit einer eigenen Meinung haben.

Bei uns ist alles in den Händen von denen, die noch den byzantinischen Stil verkörpern und nicht verstehen, wozu eine Opposition gut sein soll

Sogar unter den Anhängern von Jedinaja Rossija haben einige gegen das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt, ohne auf den Fraktionszwang zu achten. Tatsache ist, dass solche Alleingänge zu keiner besonderen Entrüstung im Kreml führen, sie ärgern vielmehr die Kollegen [die Mehrheit, die dafür stimmt]: „Wollen die uns als Halunken hinstellen?“

Als erstes müssen unsere Abgeordneten lernen, unabhängig zu sein. Das wird nur funktionieren, wenn die politischen Kräfte ausgewogen sind und die Unabhängigen sich auf jemanden stützen können. Bisher ist jeder einzeln unterwegs und denkt, jede Minderheit mit anderer Meinung sei die Opposition. 

Sie waren einer von sieben, die gegen das Adoptionsverbot durch Ausländer gestimmt haben. Wie haben Ihre Kollegen reagiert?

Die Kollegen haben geflüstert: „Was machst du denn da? Die werden dich und uns auffressen.“ Das ist diese Geschichte mit der doppelten Moral: Als Kind bringt dir deine Mutter bei, die Wahrheit zu sagen, aber spätestens in der zweiten Klasse weißt du, dass du in der Schule etwas anderes sagen musst als zu Hause in der Küche.

Wovor haben die Abgeordneten Angst – ihren Sitz zu verlieren, ihre Privilegien?

In den neun Jahren, die ich im Parlament verbracht habe, habe ich gesehen, wie sich binnen kürzester Zeit sogar Leute, die ihre Meinung äußern konnten, daran gewöhnten, dass es einfacher ist, das zu tun, worum man gebeten wird. Ihr genetisches Gedächtnis sagte ihnen, dass man sich lieber nicht zu weit aus dem Fenster lehnt, wenn jemand Entscheidungen trifft und, wie Gaidar schreibt1, zu uneingeschränkter Gewalt bereit ist. Das ist eben jenes historische Gedächtnis: dass ganze Dörfer niedergebrannt wurden, weil ihr euch aufgelehnt habt – und niemand konnte euch schützen. Politische Gegengewichte wurden in Russland nicht geduldet, dafür gibt es Tausende Beispiele.

Meinen Sie, dass bei den Abgeordneten sogar im Falle absolut ehrlicher Parlamentswahlen mit der Zeit ein moralischer Niedergang einsetzt – aufgrund der durch die Vorgeschichte bedingten Mentalität?

Die Mentalität kann sich ändern. In Russland ist eine soziale Schicht entstanden – Umfragen zufolge ungefähr 14 Prozent der Bevölkerung – die ein westliches, differenzierteres Verständnis des Parlamentarismus fordert, eines, in dem Minderheiten geschützt werden. Derzeit gilt ja bei uns das einfachste Muster: Wir sind die Mehrheit, wir entscheiden. Ihr seid gegen die Mehrheit? Dann seid ihr gegen die Heimat!  

Die Abgeordneten sehen für sich keinerlei Vorteil darin, unabhängig zu sein. Nicht mit Unabhängigkeit machen sie sich bei den Wählern beliebt, sondern damit, dass sie zum Beispiel für ihren Wahlkreis ein Stück mehr Territorium ergattern, aus einem anderen Wahlkreis – das ist eine Leistung. Der Sinn des Satzes „Widerspruch ist die höchste Form des Patriotismus“ ist für die Gesellschaft vorläufig nicht greifbar.

ABSCHIED VOM PARLAMENT

Wann haben Sie beschlossen, die Duma zu verlassen?

Bereits im Herbst 2015. Für einen Unternehmer bringt der Abgeordnetenstatus sehr viele Einschränkungen mit sich: Man darf keine Konten im Ausland haben, keinen ausländischen Pass, man darf nicht Mitglied eines Verwaltungsrats sein. Man darf dies nicht, man darf jenes nicht. Das ist alles sehr belastend für eine Geschäftsleitung, für ein Unternehmen. Gleichzeitig konnte ich das, was ich in der Duma wollte, nicht erreichen: den politischen Wettbewerb anzuregen, wenigstens die Unabhängigkeit der Gerichte zu garantieren, für den Aufbau von Institutionen zu sorgen. Es gibt sehr viel Gegenwind.

Gibt es denn etwas, das Sie erreicht haben?

Ich sehe es so, dass sich die Situation kontinuierlich verschlechtert hat und ein einzelner Abgeordneter nicht viel ausrichten konnte. Das Einzige, was ich tun konnte, war: den anderen ein Beispiel für Unabhängigkeit sein. Aber die sagten: „Er hat irgendwelche Beziehungen zur Präsidialadministration, deswegen kann er sich das erlauben.“ Die Mehrheit nimmt die Botschaft, die sie aussenden, also sowieso nicht wahr, aber vielleicht folgt ja in der Zukunft jemand ihrem Beispiel.

Aber das muss man alles vor dem Hintergrund der Ausgangssituation betrachten. Seit dem Beginn meiner Tätigkeit in der Duma ist alles viel schlechter geworden, wir haben nichts erreicht. Aber seit 1991 haben wir viel erreicht: Wir leben nicht mehr im Sozialismus und höchstwahrscheinlich führt kein Weg mehr zurück in die Planwirtschaft. Mittlerweile sind 14 Prozent der Bevölkerung oppositionell eingestellt – das sind nicht mehr die paar hundert Dissidenten, die wir in den 1970er Jahren hatten, die Hälfte davon in der Klappse und die andere Hälfte im Gefängnis. Dieser Zuwachs ist ein großartiges Ergebnis. Also von wo aus wollen wir die Situation betrachten?

Sie hatten doch einen Plan, mit dem Sie in der Duma begonnen haben. Konnten Sie den umsetzen?

Ich wollte, dass eine Fraktion entsteht, egal welche, die eine Konkurrenz zur Mehrheit bildet. Politische Konkurrenz ist das Wichtigste, denn dann muss im Parlament verhandelt werden. Meinetwegen auch mit den Kommunisten. Es ist schwer, ein Gleichgewicht zu erreichen, solange die Gesellschaft nicht sukzessive in eine neue Entwicklungsphase eintritt. Wir haben nach 1991 zu viel erreicht, sind über das eigentliche Niveau unserer politischen Bildung hinausgeschossen. Und nun rutschen wir Stück für Stück wieder ab und auf die nächste Krise zu. Die, wie ich hoffe, der Opposition als konkurrierender politischer Kraft eine Unterstützung von 30 bis 35 Prozent verschaffen wird.

WAS DIE WÄHLER TUN KÖNNEN

Michail Prochorow bekam bei den Präsidentschaftswahlen sieben Prozent. In absoluten Zahlen sind das sehr viele Menschen. Warum hat ihm das nicht geholfen? Ihn nicht geschützt?

Sieben Prozent sind viel zu wenig für ein Kräftegleichgewicht. Selbst 49 Prozent würden nicht reichen, wenn die Opposition nicht weiß, wie sie die Energie der Proteste in Taten überführen soll, die eine Veränderung der politischen Landschaft bewirken. Es gibt in Russland keine Spaltung zwischen Konservativen und Labourpartei, oder Menschen, die höhere Steuern oder Sozialleistungen wollen. Bei uns ist alles in den Händen von denen, die noch den byzantinischen Stil verkörpern und überhaupt nicht verstehen, wozu eine Opposition gut sein soll. Sie hindert doch nur daran, die Amerikaner bei irgendetwas zu übertrumpfen oder jemandem ein Stück Land zu entreißen. Stellt unnötige Fragen. Die Idee des Fair Play ist uns Russen völlig fremd.

Hypothetisch sind erst einmal alle Menschen, die an der Macht sind, aus Putins Umfeld. Der Radius ist mal größer mal kleiner

Es ist sehr schlecht, dass man uns in den letzten zehn Jahren des politischen Lernzyklus beraubt hat, bei dem die Wähler zwar Fehler machen, einen Populisten oder Kommunisten wählen, dabei aber trotzdem vor allem eine ehrliche Stimmauszählung fordern. Bei dem sich die Opposition zusammentut und sagt: Bevor wir darüber reden, wer hier was möchte, nehmt erstmal die Filter aus dem System, die unfairen medialen Möglichkeiten und überhaupt die Möglichkeit, einfach so irgendetwas „abzuschaffen“. Wie [Alexander] Korshakow seinerzeit vorschlug: Lasst uns die Wahlen abschaffen! Woraufhin es hieß: Aber das Verfassungsgericht wird das anfechten. Und er wiederum sagte: Dann schaffen wir das Verfassungsgericht ab ...

Was sollen die von Ihnen genannten 14 Prozent Protestwähler tun, um ihre Position kundzutun?

Ich würde ihnen natürlich raten, wählen zu gehen, wenn sie eine Entwicklung wollen. Wir alle sind berufstätige Menschen und wollen kein Chaos auf den Straßen, davon hat keiner etwas.

Ich würde zu allen genehmigten Demonstrationen gehen, denn das war das Einzige, worauf die Regierung reagiert hat. Ich würde ihnen raten, selbst als Beobachter zu den Wahlen zu gehen, anstatt zu Hause zu sitzen und davon auszugehen, dass ein anderer alles für sie überprüft. Sie sollten sich vor Augen halten, dass jeder bis zum nächsten Wahlgang ein Dutzend Freunde und Bekannte rekrutieren kann.

Glauben Sie denn, dass die Wirtschaftskrise den Liberalen mehr Anhänger bringen wird?
Menschen, die plötzlich ohne Arbeit oder mit einem verringerten Lohn dastehen, stellen mehr Fragen. Solange alles gut ist, sind alle der Meinung, dass wir den Präsidenten und das Establishment grundlos [mit unserer Kritik – Anm. d. Red. Vedomosti] belästigen. Unter den Wählern gibt es natürlich auch die 30 Prozent, die nichts dagegen hätten, gleich morgen Kiew einzunehmen. Aber 45 Prozent sind ein Sumpf, der brodeln würde, sobald die Probleme größer werden. Dann würden sie höchstwahrscheinlich hinhören, was die Liberalen zu sagen haben. Wenn wir bis dahin allerdings keine Partei oder faire Auszählungen haben und als Konkurrenz Kriminelle und Nationalisten losgelassen werden, sind die gesellschaftlichen Spannungen nicht zu lösen. 

Die Duma spielt ganz offensichtlich keine eigenständige politische Rolle, sondern setzt die Entscheidungen von Administration und Regierung technisch um. Gleichzeitig sehen wir, wie hinter den Kulissen Menschen aus Putins Umfeld zunehmend an Bedeutung gewinnen. Wie kommt das?

Weil davon so wenig an die Öffentlichkeit dringt, tendieren wir dazu, deren Rolle manchmal überzubewerten … Aber hypothetisch sind erst einmal alle Menschen, die an der Macht sind, aus Putins Umfeld. Der Radius ist mal größer mal kleiner.

Zudem wirkt sich die außenpolitische Situation auf die Lage im Inneren aus, genauso wie tausend andere Dinge. Glauben Sie mir, den Einfluss einer einzigen Gruppe gibt es nicht. Es findet vielmehr eine Art Maklergeschäft statt, bei dem die führenden Kräfte schauen und entscheiden – dem Stärksten muss man helfen und Entscheidungen zugunsten einer einflussreichen Gruppe treffen. Manchmal  bringen irgendwelche Gruppen auch Initiativen ein, ohne das Zentrum in Kenntnis gesetzt zu haben – einfach, um die Reaktionen zu sehen: Der eine bekommt eins auf den Deckel, der andere steht plötzlich in der Gunst. Und sie bekommen die Mehrheit, weil die Gesellschaft keine anderen Forderungen stellt. Das Szenario, dass in einer dieser Gruppen unser Lee Kuan Yew heranwächst, ist sogar in der Fantasy-Welt zu gewagt.

PROGNOSE

Was denken Sie über die Losung „Faire Wahlen“ und Ella Pamfilowa in der Zentralen Wahlkommission? Ist das alles nur zum Schein oder steckt dahinter tatsächlich der Wunsch, fair zu spielen?

Das ist Stühlerücken auf der Titanic. Aber immerhin besser als Wahlbetrug.

Glauben Sie, dass die Präsidialadministration bereit ist, ein saubereres Verfahren zuzulassen?

Es sind ja nicht die Leute aus der Präsidialadministration, die die Wahlen fälschen. Das macht irgendeine Person vor Ort. Die regionalen Regierungen kennen sich damit aus.

Was haben sie dann zu befürchten? Sogar wenn man saubere Wahlen zuließe, bestünde doch keine Gefahr für sie, weil das politische Feld geschützt ist.

Im Augenblick schon. Aber wenn man saubere Wahlen zulässt, dann kann schnell eine Gefahr entstehen. Diese Leute lösen immerzu taktische Aufgaben und sind lausige Strategen. Sie arbeiten daran, das Land möglichst lange in einem durch sie lenkbaren Zustand zu halten, weil sie davon ausgehen, dass niemand besser regiert als sie. Ich kann sie verstehen, sie folgen ihrer eigenen Logik, aber mir passt diese Logik nicht. Deswegen muss man einfach schauen, wie viele Anhänger sie haben, wie viele wir, und das Verhältnis langsam zu unseren Gunsten verändern. Unsere 14 Prozent sind in der Regel selbstgenügsame Leute, die Arbeitsplätze schaffen und die Wirtschaft ankurbeln. Ihr Einfluss wird sich jetzt vergrößern, weil die Wirtschaft langsam zum Erliegen kommt.

Das heißt also, Sie halten die Selbstorganisation für eine Aufgabe der Wählerschaft und nicht der Politiker?

Diese Aufgabe wird niemals von Politikern übernommen. Mir sagt folgende Aussage am ehesten zu: Je weniger Bedeutung wir der Rolle einzelner Persönlichkeiten in der Geschichte beimessen, desto näher kommen wir der Wahrheit. Politiker orientieren sich an den Forderungen der Wähler.

Wer wird also in die Duma kommen? Menschen, die in noch größeren Abhängigkeiten stehen? Kann es noch schlimmer werden?

Das kann es immer. Solange eine Gesellschaft ihre Minderheit und deren Standpunkt nicht schützt, wird sich das Parlament mit großer Wahrscheinlichkeit verschlechtern. Es braucht eine starke ökonomische oder irgendeine andere Erschütterung. Etwas muss passieren, damit die Menschen beginnen sich zu fragen: Wir verlassen uns doch immer auf die Regierung, warum ziehen wir dann immer den Kürzeren?


1.Jegor Gaidar in Der Untergang eines Imperiums, 2006: „Die Überzeugung der Staatsmacht und der Gesellschaft davon, dass der Staat fähig ist, in uneingeschränktem Ausmaß Gewalt anzuwenden, um die Äußerung von Unzufriedenheit zu unterbinden, war absolut.“ – Anm. Vedomosti

Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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Staatsduma

Als Staatsduma wird das 450 Abgeordnete umfassende Unterhaus der Föderalen Versammlung Russlands bezeichnet. Im Verhältnis zu Präsident und Regierung nimmt die Duma verfassungsmäßig im internationalen Vergleich eine schwache Stellung ein. Insbesondere das Aufkommen der pro-präsidentiellen Partei Einiges Russland führte dazu, dass die parlamentarische Tätigkeit zunehmend von Präsident und Regierung bestimmt wurde.

Russlands Parlament, die Föderale Versammlung, ist in zwei Kammern organisiert. Als Oberhaus vertritt der Föderationsrat die Regionen. Das Unterhaus wird als Staatsduma (Gosudarstwennaja Duma) bezeichnet. Die Namensgebung weist auf die historische Vorgängerin hin, die von 1905 bis zur Oktoberrevolution 1917 als Staatsduma des Russischen Imperiums tagte.

In drei Schritten zur Dominanz der Exekutive

Am 12. Dezember 1993 fanden die Wahlen zur ersten postsowjetischen Duma und gleichzeitig das Referendum über die Verfassung der Russischen Föderation statt. Dies war die endgültige Abkehr vom Obersten Rat und damit vom Sowjetparlamentarismus, der keine Gewaltenteilung kannte.

Die Beziehungen im Dreieck zwischen Präsident, Regierung und Duma lassen sich in drei Phasen einteilen. Sie unterscheiden sich  im Hinblick darauf, inwieweit der Präsident durch parlamentarische Fraktionen und Gruppen unterstützt wird: 1994 bis 1999 waren die pro-präsidentiellen Parteien in der Minderheit, 2000 bis 2003 konnte Putin eine Koalition aus vier Fraktionen schmieden, seit 2004 dominiert Einiges Russland die Duma.1

Grafik 1: Fraktionen und Gruppen in den Legislaturperioden I bis VI (1994-2016)2

Die gesamte erste Phase, und auch Teile der zweiten, waren durch ein schwach institutionalisiertes Parteiensystem3 gekennzeichnet: Den pro-präsidentiellen Parteien der Macht standen eine Vielzahl anderer Fraktionen und Gruppen gegenüber. In der zweiten Duma stellten die Kommunisten gar die meisten Abgeordneten (s. Grafik 1). Dennoch regierte Jelzin nicht einfach mit Präsidialerlassen am Parlament vorbei, sondern handelte Unterstützung für Gesetzesvorhaben aus, in dem er beispielsweise im Gegenzug bestimmten Interessensgruppen bei der Haushaltsplanung entgegenkam4.

Mit den Parlamentswahlen von 1999 änderte sich das Bild. Die neu kreierte Regierungspartei Einheit erlangte zwar nur knapp 17 Prozent der Mandate, zusammen mit drei weiteren Fraktionen setzte sie jedoch die von Präsident und Regierung eingebrachten Gesetze weitgehend um. Mit den Wahlerfolgen der Einheit-Nachfolgerin Einiges Russland in den Jahren 2003 und 2007 wurde in Phase drei der Übergang zu einem dominanten Parteiensystem mit einem Parlament, das weitgehend von der Exekutive bestimmt wird, vollzogen. Die Politikwissenschaftlerin Petra Stykow spricht daher bei der Staatsduma von einer „institutionalisierten, autoritären Legislative“.5

Auswirkungen auf die Funktionen des Parlaments

Die Ausübung der verfassungsmäßig garantierten Kernfunktionen fällt in den drei Phasen entsprechend unterschiedlich aus.

Erstens: Die Ernennung des Regierungschefs. Im Unterschied zu vergleichbaren politischen Systemen werden in Russland Regierungsposten nicht an parlamentarische Parteien vergeben6, sondern Präsidenten bestellen Technokratenregierungen. Allerdings muss die Duma zustimmen, wenn der neugewählte Präsident den Regierungschef ernennt. Während Jelzin noch zu Eingeständnissen gezwungen war (zur Auflösung der Duma nach der dritten Ablehnung kam es allerdings nie), wurden Putins Ministerpräsidenten ausnahmslos mit deutlichen Mehrheiten bestätigt.

Zweitens: Misstrauensvoten gegen die Regierung. Abstimmungen wurden 1994, 1995, 2001, 2003 und 2005 lanciert. Lediglich 1995 nach der Geiselnahme in Budjonnowsk kam eine Mehrheit von 241 Stimmen zustande – allerdings gestattet es die Verfassung auch hier dem Präsidenten, das Misstrauensvotum zu ignorieren. Die Duma kann außerdem ein komplexes Verfahren zur Amtsenthebung des Präsidenten einleiten, sollte der Verdacht bestehen, dass sich der Präsident einer schweren Straftat schuldig gemacht hat. 1998 lancierte die Fraktion der Kommunisten ein solches Verfahren gegen Jelzin, jedoch fand keiner der fünf zur Abstimmung gebrachten Anklagepunkte die nötige Zweidrittel-Mehrheit für die Weiterleitung an den Föderationsrat und das Verfassungsgericht.

Drittens: Die Gesetzgebung, das Hoheitsrecht der Duma. Grafik 2 veranschaulicht, dass zwischen 1994 und 1999 die Hälfte bis ein Drittel der von Präsident und Regierung initiierten Gesetzesentwürfe nicht die Unterstützung der Duma fanden. Mit dem Siegeszug von Einiges Russland ändert sich das Bild: Exekutive Gesetzesentwürfe scheitern nur noch in Ausnahmefällen. Umgekehrt verhält es sich mit präsidentiellen Vetos: In den 1990er Jahren legte Jelzin durchschnittlich gegen 15 bis 25 Prozent der Gesetze, die von der Staatsduma verabschiedet wurden, Widerspruch ein. Unter Putin starb das Veto im Laufe der Zeit aus.
 

 


Grafik 2: Erfolgsrate von Präsident und Regierung in der Duma, Quelle: Autor

 

 


Grafik 3: Veto russischer Präsidenten, Quelle: Autor

Allgemein lässt sich festhalten, dass sich mit dem Übergang in die Putin-Ära die Abwesenheit von Abgeordneten bei Abstimmungen verringert und die Fraktionsdisziplin erhöht hat. Auch die Anzahl der Gesetze und die Geschwindigkeit, mit der diese verabschiedet werden, hat sich gesteigert.

Die Duma als Faktor der Regimestabilität

In den Medien kursiert der angebliche Ausspruch des ehemaligen Vorsitzenden Boris Gryzlov, dass die Duma „kein Ort für Diskussionen“7 sei. Der Volksmund sieht in ihr gar einen „durchgedrehten Drucker“, der Gesetze am laufenden Band ausspuckt. Als „autoritäre, institutionalisierte Legislative“ kann die Duma nicht mehr ihrer horizontalen Kontrollfunktion8 gegenüber Präsident und Regierung nachkommen. Dies macht die Kammer jedoch nicht bedeutungslos, denn bürokratische Verteilungskämpfe um Ressourcen innerhalb der Exekutive werden auch in und mit der Duma ausgetragen9. Wenn Ministerien etwa um Ressourcen konkurrieren, können diesen loyal gesinnte Abgeordnete Gesetze verzögern oder Änderungen beantragen.

Nach den Protesten 2011/2012 wies die Gesetzgebung vor allem in den Bereichen Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit einen zunehmend repressiven Charakter auf. Ein Beispiel dafür ist das Gesetz über ausländische Agenten10. Mit anhaltender Wirtschaftskrise nehmen außerdem Gesetze überhand, die über Steuern und andere Abgaben Eigentum von Bürgern und Unternehmern „konfiszieren“. Die Politologin Ekaterina Schulmann11 argumentiert, dass es immerhin besser sei, etwas tiefer in die Tasche zu greifen, als ins Gefängnis zu wandern. Sicher ist jedenfalls, dass die Duma auch nach den Wahlen 2016 eine wichtige Rolle dabei spielt, Repression und Konfiskation ins Gleichgewicht zu bringen und somit über Regimestabilität und -wandel mitentscheiden wird.


1.Chaisty, P. (2014): Presidential dynamics and legislative velocity in Russia, 1994–2007, in: East European Politics, 30(4), S. 588-601
2.Interaktive Quelle zum Weiterklicken: Ria Novosti: 20 let Gossudarstvennoj dumy
3.Stykow, P. (2008): Die Transformation des russischen Parteiensystems: Regimestabilisierung durch personalisierte Institutionalisierung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, S. 772-794
4.Remington, T. F. (2007): The Russian Federal Assembly, 1994–2004, in: The Journal of Legislative Studies, 13(1), S. 121-141 und: Troxel, T. A. (2003): Parliamentary Power in Russia, 1994-2001
5.Stykow, P. (2015): Parlamente und Legislativen unter den Bedingungen „patronaler Politik“: Die eurasischen Fälle im Vergleich, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, S. 396 - 425
6.University of Oxford: The Coalitional Presidentialism Project
7.Gryzlov wurde von den Medien nicht korrekt zitiert, allerdings ist die plakative Phrase fester Bestandteil des öffentlichen Diskurses über die Duma geworden. Hier das Originalzitat von Gryzlov
8.Whitmore, S. (2010): Parliamentary oversight in Putin's neo-patrimonial state: Watchdogs or show-dogs?, in: Europe-Asia Studies, 62(6), S. 999-1025
9.ben.noble.com: Rethinking 'rubber stamps': Legislative Subservience, Executive factionalism, and policy-making in the Russian state duma
10.Inzwischen existiert eine Liste mit Gesetzen, die aufgrund ihrer Verfassungswidrigkeit nach Meinung eines Expertenkomitees rückgängig zu machen sind.
11.Vedomosti: Čto lučše: kogda sažajut ili kogda razdevajut?

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Präsidialadministration

Die Präsidialadministration (PA) ist ein Staatsorgan, das die Tätigkeit des Präsidenten sicherstellt und die Implementierung seiner Anweisungen kontrolliert. Sie ist mit beträchtlichen Ressourcen ausgestattet und macht ihren Steuerungs- und Kontrollanspruch in der politischen Praxis geltend.

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Von Paulus zu Saulus? Die Wandlung der liberalen Politikerin Irina Jarowaja zur bekanntesten Hardlinerin der Duma wurde von Vorwürfen der Prinzipienlosigkeit begleitet. Mit dem Beschluss des von ihr initiierten Anti-Terror-Pakets im Juni 2016 wurde die Eiserne Lady der Volkskammer für viele zum Symbol des autoritären politischen Kurses.

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Polittechnologie

Polittechnologija bezeichnet in Russland und anderen postsowjetischen Staaten ein Menü von Strategien und Techniken zur Manipulation des politischen Prozesses. Politik – als Theater verstanden – wird dabei als virtuelle Welt nach einer bestimmten Dramaturgie erschaffen. Politische Opponenten werden mit kompromittierenden Materialien in den Medien bekämpft, falsche Parteien oder Kandidaten lanciert oder ganze Bedrohungsszenarien eigens kreiert.

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Protestbewegung 2011–2013

Nachdem Putin im September 2011 angekündigt hatte, wieder Präsident werden zu wollen, und im Dezember zahllose Wahlbeobachter über massive Wahlfälschungen berichteten, bildete sich in Russland die größte Protestbewegung seit dem Ende der Sowjetunion. Sie bewies erstaunliches Durchhaltevermögen, versiegte jedoch im Jahr 2013 aufgrund von inneren Streitigkeiten und der repressiven Reaktion des Staates.

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