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Fall Nawalny: Was der Kreml nicht sagt

Russische Ärzte hätten keine Hinweise auf eine giftige Substanz bei Nawalny gefunden, heißt es von offizieller russischer Seite stets. Im Inforauschen rund um den Fall Nawalny tauchte irgendwann sogar die Version auf, der Oppositionspolitiker sei womöglich in Berlin vergiftet worden. 

Doch warum das Argument, man habe keine giftige Substanz nachweisen können, gerade dann nicht gelten kann, wenn es um eine Vergiftung durch Nowitschok geht, zeigt eine Recherche von Roman Schleinow für Washnyje istorii und Novaya Gazeta. Warum hätten die russischen Ärzte aufgrund der Symptome Nawalnys sehr wohl auf eine Vergiftung durch Nowitschok kommen können? Es gab schon mal einen ähnlichen – allerdings nicht politischen – Fall: 1995 wurde der Bankier Iwan Kiwelidi durch Nowitschok vergiftet. Da dies allerdings Staatsgeheimnis war, war offiziell stets von einem amerikanisch-britischen Kampfstoff von Typ-V die Rede gewesen.

Im Vergleich der beiden Fälle, den das Medium unternimmt, tun sich erstaunliche Parallelen auf, was die Symptome angeht, und deutliche Unterschiede, was die Ermittlungen betrifft.

dekoder hat eine gekürzte Version der umfangreichen Recherche ins Deutsche übersetzt:

Источник istories

Russische Ärzte hätten keine Hinweise auf eine giftige Substanz bei Nawalny gefunden, heißt es von offizieller russischer Seite stets / Foto © instagram/navalnyDer Kreml sieht keinen Grund, im Fall Nawalny Ermittlungen einzuleiten. Das teilte Dimitri Peskow, der Pressesprecher des russischen Präsidenten, am 25. August 2020 mit – drei Tage, nachdem der Oppositionspolitiker, der zuvor keinerlei gesundheitliche Probleme gehabt hatte, in einem Flugzeug zusammengebrochen und ins Koma gefallen war. 

„Zuerst muss die Substanz gefunden werden, es muss festgestellt werden, was diesen Zustand herbeigeführt hat“, erklärte Peskow.

Diese kategorische Haltung des Kremlsprechers überrascht. So musste im Fall des Giftanschlags auf Kiwelidi 1995 nicht zuerst „die Substanz gefunden werden“. Man fand sie auch nicht sofort, sondern nach drei bis vier Monaten komplexer Untersuchungen an den Oberflächen der Gegenstände aus dem Büro des Bankiers. Dass diese Untersuchungen durchgeführt wurden, war nur durch die Einleitung von Ermittlungen und die schnelle Sicherung der Beweismittel möglich. Benannt wurde die Substanz bis zuletzt nicht. In den Akten heißt es, die Eigenschaften „sind Staatsgeheimnis“.

Fall Kiwelidi: Einleitung von Ermittlungen und schnelle Sicherung der Beweismittel

Am 1. August 1995 war Iwan Kiwelidi in seinem Büro der Rosbisnesbank plötzlich ins Koma gefallen und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Am nächsten Tag folgte die Einlieferung seiner Sekretärin Sara Ismailowa mit denselben Symptomen. Bereits am 6. August leitete die Moskauer Staatsanwaltschaft Ermittlungen ein – wegen Anzeichen einer Intoxikation „durch ein unbekanntes Gift“, „mutmaßlich Cadmiumchlorid“.

Eine Vergiftung durch Cadmiumchlorid vermuteten auch Kiwelidis Angehörige und Kollegen. Doch auch nach dem Tod des Bankiers und seiner Sekretärin konnten bei den Analysen weder Gift noch andere bekannte hochwirksame Substanzen nachgewiesen werden. Die Annahme, es handele sich um Cadmium, bestätigte sich nicht. Nicht einmal das Büro für gerichtsmedizinische Gutachten des Moskauer Gesundheitsministeriums konnte die Todesursache von Ismailowa ermitteln, die offenbar unbeabsichtigt ebenfalls vergiftet worden war. 

Dennoch genügte im August 1995 der von Kiwelidis Angehörigen und Kollegen geäußerte Verdacht, um eine strafrechtliche Untersuchung einzuleiten. Als Nawalnys Angehörige und Kollegen im August 2020 offen erklärten, er sei vergiftet worden, zeigte das keinerlei Wirkung auf die russischen Sicherheitsbehörden. Die Einleitung eines Strafermittlungsverfahrens wurde abgelehnt. 

In Russland ist nicht einmal mehr der rätselhafte Tod eines Politikers Grund genug für ein Verfahren. Im Sommer 2003 starb der Duma-Abgeordnete und stellvertretende Chefredakteur der Novaya Gazeta Juri Schtschekotschichin infolge einer seltenen allergischen Reaktion, obwohl er keine Allergien hatte. Nicht nur seine Angehörigen, sondern auch der Vorsitzende des Sicherheitskomitees der Duma, die Partei Jabloko und die Novaya Gazeta hatten darauf bestanden, dass umgehend ein Ermittlungsverfahren eröffnet wird, weil Schtschekotschichin wegen seiner beruflichen Tätigkeit mehrfach bedroht worden war. Ein Verfahren wurde dreimal abgelehnt. Erst fünf Jahre später wurden Ermittlungen aufgenommen, die ergebnislos blieben: Eine Substanz, die eine solche Reaktion hätte auslösen können, wurde nicht gefunden. 


I. Kein Gift in Nawalnys Organismus nachweisbar – gab es also keine Vergiftung?

Russische Regierungsvertreter betonen immer wieder, dass die russischen Ärzte kein Gift in Nawalnys Organismus gefunden hätten. 

„In dem Moment, als Alexej Nawalny Russland verließ, waren keine toxischen Substanzen in seinem Organismus“, erklärte der Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes Sergej Naryschkin.

Die These, in Nawalnys Organismus sei kein Gift nachgewiesen worden, äußerte als erster Anatoli Kalinitschenko, der stellvertretende Chefarzt der Klinik Nr. 1, bereits einen Tag nach Nawalnys Einlieferung. Er fügte dann vorsichtig hinzu, dass die anfängliche „Diagnose einer Vergiftung wohl noch nicht ganz vergessen ist, aber wir denken nicht, dass der Patient vergiftet wurde“.

All diese Erklärungen muten seltsam an. Denn wie der Fall Kiwelidi gezeigt hat, ist es ausgesprochen schwer, eine Substanz aus der Nowitschok-Gruppe im Organismus des Vergifteten nachzuweisen. Bei Kiwelidi und seiner Sekretärin wurden keine bekannten Gifte festgestellt – weder durch die Ärzte der Zentralklinik der Verwaltung für die Angelegenheiten des Präsidenten noch durch die Ärzte der Moskauer Stadtklinik Nr. 1 und auch nicht durch die Gerichtsmediziner.

Nowitschok ist im Organismus kaum nachweisbar

Als der Rettungswagen Kiwelidi aus seinem Büro abtransportierte, notierten die Ärzte in ihrem Bericht: „Hatte eine Stress-Situation bei der Arbeit“ (der Bankier kam aus einem hitzigen Meeting); außerdem gaben sie an, er hätte sich unwohl gefühlt, sei ohnmächtig geworden und kurz darauf ins Koma gefallen. In den Vernehmungsprotokollen der drei Ärzte, die im Einsatz waren, lautet die „Diagnose: Verdacht auf schwere zerebrale Durchblutungsstörungen“. 

Am nächsten Tag wurde Kiwelidis Sekretärin Sara Ismailowa mit ähnlichen Symptomen aus demselben Büro mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Im Vernehmungsprotokoll des Notarztes heißt es, sie „war nicht bei vollem Bewusstsein, stöhnte“, dann sei sie ins Koma gefallen. Der Notarzt stellte die Diagnose: „epileptischer Anfall“. Es vergingen keine 24 Stunden, bis sie starb. Kurz darauf starb auch Kiwelidi. 

In zwei gerichtsmedizinischen chemikalischen Untersuchungen konnten keine hochwirksamen oder toxischen Substanzen und auch keine Schwermetalle im Blut des Bankiers festgestellt werden. Die Gerichtsmediziner folgerten nur anhand von indirekten Anzeichen, dass eine „unbekannte Substanz“ auf Kiwelidi eingewirkt haben musste. Den Prozessakten zufolge war das erste und wesentliche Anzeichen einer solchen Einwirkung „eine Abnahme der Konzentration von Cholinesterase im Blut“. Cholinesterase ist ein lebenswichtiges Enzym bei der Neurotransmission. „Wird die Cholinesterase gehemmt, kommt es zu einem fast vollständigen Versagen aller lebenswichtigen Funktionen“, heißt es im Abschlussbericht der Gerichtsmediziner. 

Die Cholinesterase als Marker

Auch bei Alexej Nawalny stellten die deutschen Ärzte niedrige Cholinesterase-Werte fest, als er im Koma in die Berliner Universitätsklinik Charité eingeliefert wurde. 

Nawalnys Angehörige hatten seine Verlegung gefordert, mehrere europäische Staats- und Regierungschefs hatten mit Wladimir Putin gesprochen. Schließlich änderten die Gesundheitsbeamten in Omsk, die zuvor erklärt hatten, Nawalny sei „nicht transportfähig“, innerhalb weniger Stunden ihre Meinung. Nach einer Untersuchung des Oppositionspolitikers gab die Charité in einer Pressemitteilung bekannt: „Die klinischen Befunde weisen auf eine Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin. […] Die Wirkung des Giftstoffes, d. h. die Cholinesterase-Hemmung im Organismus, ist mehrfach in unabhängigen Laboren nachgewiesen.“

„Es ist wichtig herauszufinden, warum der Cholinesterase-Wert gesunken ist. Bisher konnten weder unsere noch die deutschen Ärzte diesen Grund feststellen“, entrüstete sich Putins Pressesprecher. „Wir verstehen nicht, warum die deutschen Kollegen so voreilig von einer Vergiftung sprechen. Diese Version war unter den ersten, die unsere Ärzte in Betracht gezogen hatten. Aber es wurde keine Substanz ermittelt.“ 

Die Empörung des Kremlsprechers ist wenig plausibel. So wird in den russischen Prozessakten im Mordfall Kiwelidi die Vergiftung durch „rapide gesunkene Cholinesterase-Werte im Blut“, „plötzliche Ohnmacht mit darauffolgendem Koma“ und eine Reihe weiterer Symptome belegt. 

„Ein überzeugender Beleg für eine Vergiftung durch Cholinesterase-Hemmer war die biochemische Analyse von Kiwelidis Blut, […] bei der sehr niedrige Cholinesterase-Werte festgestellt wurden“, heißt es im gerichtsmedizinischen toxikologischen Befund.

In den Prozessakten sind außerdem folgende äußerliche Anzeichen der Vergiftung aufgelistet: Blässe, kalte Hände, kalter, klebriger Schweiß, Flimmern vor den Augen, Stöhnen während des Bewusstseinsverlusts, Krämpfe. Den Menschen ergreife Todesangst, er rede konfus, erkenne Angehörige nicht wieder und habe Atemnot. Dies geht aus den Zeugenaussagen im Fall Kiwelidi, der Anklageschrift und dem toxikologischen Befund der Gerichtsmedizin hervor.  

Alexej Nawalny erzählte Washnyje istorii, was er gespürt hat, als ihm im Flugzeug übel wurde. Mindestens zehn seiner Symptome und Reaktionen entsprechen dem, was Kiwelidi und seine Sekretärin durchgemacht hatten.

Die Plastikflasche als Träger

Als Nawalnys Kollegen erfuhren, dass er während des Flugs ins Koma gefallen war, schöpften sie sofort Verdacht. Sie engagierten einen Anwalt und nahmen in dessen Anwesenheit einige Gegenstände aus Nawalnys Hotelzimmer in Tomsk mit. Darunter auch eine Wasserflasche aus Plastik, die Nawalny berührt hatte. 

Nawalnys Angehörige übergaben diese Flasche und weitere Dinge den Ärzten aus der Charité. Diese zogen ein Speziallabor der Bundeswehr hinzu, das minimale Spuren einer Substanz aus der Nowitschok-Gruppe auf der Flasche feststellte. 

„Diese Flasche möchte man ja gar nicht erwähnen, so ein Unsinn ist das!“, sagte der Experte des Duma-Verteidigungsausschusses Leonid Rink gegenüber RIA Nowosti. Rink ist ein ehemaliger Mitarbeiter des staatlichen Instituts für organische Chemie und Technologie, an dem die Gifte der Nowitschok-Gruppe entwickelt wurden. 

Bevor Rink zum Experten der Duma und einem der größten Kritiker der Version wurde, dass Nawalny vergiftet worden sei, war er in den 1990ern in einem geheimen Gerichtsverfahren wegen Handels mit einer toxischen Substanz angeklagt. Die Ermittler vermuteten, dass eben diese Substanz beim Mord an Kiwelidi zum Einsatz kam. Obwohl Rink eine ausführliche Aussage dazu gemacht hatte, wie er das Gift an verschiedene Leute verkauft oder schlicht weitergegeben hat, wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt. Beim Prozess im Fall Kiwelidi tauchte er plötzlich als Zeuge auf. Später behauptete Rink in einem Interview für The Bell, er hätte Gift für Nagetiere verkauft und sei an Kontrollkäufen beteiligt gewesen, die von den Geheimdiensten initiiert worden wären.

Mithilfe der Prozessakten im Fall Kiwelidi lässt sich auch erklären, warum die minimalen Giftspuren auf der Plastikflasche erhalten geblieben sind, die Nawalny kurz angefasst hatte. In den Gutachten heißt es, die Substanz habe die Konsistenz von Wasser oder sei nur geringfügig dickflüssiger, sie könne in Plastik eindringen, in Gummi hingegen nicht. Deswegen fanden sich auch Giftspuren auf dem Telefonhörer im Büro des Bankiers, die sich noch nicht vollständig zersetzt hatten und verdampft waren.


II. Warum wurden im Fall Nawalny keine Ermittlungen eingeleitet?

Nawalnys Kollegen taten das, was die russischen Sicherheitsbehörden hätten tun sollen. Und was die Ermittler im Fall Kiwelidi 1995 getan haben. Nach den gerichtsmedizinischen Untersuchungen, in denen niedrige Cholinesterase-Werte bei Kiwelidi und seiner Sekretärin festgestellt worden waren, schlussfolgerten die Ermittler, dass in ihren Getränken, Nahrungsmitteln oder auf den Oberflächen, die die beiden angefasst hatten, Cholinesterase-Hemmer sein mussten. Drei Tage nach dem plötzlichen Koma des Bankiers, wurden Proben von den Oberflächen der Gegenstände in seinem Büro genommen, um sie auf Spuren von toxischen Substanzen zu untersuchen. Man nahm Proben vom Schreibtisch, von den Telefonen und den persönlichen Gegenständen.

Nach wenigen Tagen waren Kiwelidis Büro und die Nachbarzimmer leergeräumt – man untersuchte alles: von den Tellern bis zu den Putzlappen, nahm Proben von Lebensmitteln, Medikamenten, vom Staub auf den Schränken und der Raumluft. Diese Proben gingen an die fünf höchstrangigen Einrichtungen auf dem Forschungsgebiet.

Schließlich fand man auf einem Telefonhörer in Kiwelidis Büro Spuren einer stickstoffhaltigen phosphororganischen Substanz, die eine starke cholinesterasehemmende Wirkung haben kann. Die genaue Bestimmung stellte ein Problem dar, weil über solche Substanzen keine Daten vorlagen.    

Während die Ermittler vor 25 Jahren also ein Verfahren einleiten und die Vergiftung durch eine unbekannte Substanz feststellen konnten, die bis zuletzt nicht benannt wurde, weigert sich die heutige Regierung auch nur Ermittlungen im Fall Nawalny aufzunehmen, obwohl ihr modernere Verfahren und besser qualifizierte Experten zur Verfügung stehen.

Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Substanz

Warum betonen die Beamten im Fall Alexej Nawalny, dass in Russland keine giftige Substanz nachgewiesen werden konnte? Die Prozessakten im Mordfall Kiwelidi zeigen, dass sogar in diesem politisch neutralen Fall, in dem zu einer ganz anderen Zeit ermittelt wurde, die führenden russischen Labore nicht dahintergekommen sind, welches Gift konkret eingesetzt worden war.

„Wegen der extrem geringen Mengen, in der der nachgewiesene Stoff vorliegt, ist es nicht möglich, seine physikalischen und chemischen Eigenschaften zu bestimmen“, hieß es im Befund des Zentrums für kriminalistische Gutachten des Innenministeriums. 

Die Militärakademie für chemische Waffen entdeckte ebenfalls Spuren „einer hochwirksamen giftigen Substanz mit signifikanter cholinesterasehemmender Wirkung“. Doch welcher Substanz genau, konnte sie nicht bekanntgeben.

Am umfassendsten waren die Untersuchungen des Staatlichen Instituts für organische Chemie und Technologie (GosNIIOChT), wo das System Nowitschok entwickelt worden war. Hieraus ging hervor, dass auf dem Telefonhörer „Spuren einer giftigen Substanz nachweisbar sind, die dem Schädigungsmuster und der cholinesterasehemmenden Wirkung nach den festen, hochtoxischen, phosphororganischen Verbindungen mit signifikanter hautresorptiver Komponente [dringen durch Berührung in den Organismus ein] auf Niveau eines Kampfgifts von Typ V zuzuordnen ist“. 

Die gerichts-chemische Untersuchung des GosNIIOchT wies Fluor in jenem Giftstoff nach, mit dem Kiwelidi ermordet wurde. Doch eine endgültige Formel nannte auch das GosNIIOChT nicht. Letztlich lief das Gift in den Prozessakten unter dem Titel „unbekannte giftige Substanz“, als „giftige Substanz mit enormer cholinesterasehemmender Wirkung auf Niveau von Kampfgiften des Typs V“. Diese Benennung war noch dazu insofern absurd, als das britisch-amerikanische Kampfgift V gar kein Fluor enthält. Dieses findet man jedoch in Substanzen der Gruppe Nowitschok.  

Warum im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens niemand das konkrete Gift nannte, ist nachvollziehbar. Ein Experte für Chemie und führender Mitarbeiter des GosNIIOChT, der als Gutachter befragt wurde, sagte im Fall Kiwelidi aus, dass die Eigenschaften dieser Substanz ein Staatsgeheimnis sind. Dass die Substanz der Geheimhaltung unterliege, bestätigte in seinem Verhör auch Leonid Rink, gegen den wegen Handels mit giftigen Substanzen ein Strafverfahren mit dem Vermerk „streng geheim“ eingeleitet, aber dann eingestellt wurde. Heute erzählt Rink den staatlichen Medienagenturen, dass der Fall Nawalny eine westliche Provokation sei.


III. Symptome einer Nowitschok-Vergiftung

Wirkungsdauer

„Im Fall einer Vergiftung mit Nowitschok […] hätte es Nawalny zu keinem Flugzeug geschafft“, erklärte Leonid Rink in einem Interview für RIA Nowosti. „Die ersten Symptome zeigen sich innerhalb weniger Minuten. Nach zehn Minuten tritt der Tod ein“, so Rink.

In den Prozessakten zum Giftanschlag auf Kiwelidi dagegen, in denen Rink als Zeuge geführt ist, heißt es im gerichtstoxikologischen Gutachten: Bei Aufnahme über die Haut werde eine Inkubationszeit beobachtet, die in der Regel eineinhalb bis fünf Stunden betrage.

Stoffwechselchaos und Zuckerschock

Anfang Oktober wurde Alexander Sabajew, Cheftoxikologe des Föderationskreises Sibirien und der Oblast Omsk, zum Interview gebeten. Er erklärte RIA Nowosti, bei Alexej Nawalny sei eine Störung des Kohlehydratstoffwechsels diagnostiziert worden. Diese sei ausgelöst worden durch eine Dysfunktion der Bauchspeicheldrüse, die wiederum zu plötzlichen und extremen Schwankungen des Blutzuckers führe.    

„Die ersten 12 Stunden, ja, da gab es so ein Zuckerchaos, der Blutzuckerspiegel war hoch – und er ließ sich nicht durch eine Insulintherapie korrigieren“, sagte Sabajew. Er verplapperte sich aber, indem er angab, Nawalny habe keine „offensichtlichen, chronischen, verschleppten Krankheiten“.

Sabajew sagte zudem, die Krisis sei in der Nacht vom 20. auf den 21. August eingetreten, als Nawalnys Laktatwerte einen gefährlich hohen Wert erreicht hätten. „Zu diesem Zeitpunkt hätte ein Multiorganversagen eintreten können, das zum Tod des Patienten geführt hätte“, betonte Sabajew. 

Die Erklärung des andauernden Komas mit Hypoglykämie (eines verringerten Blutzuckerspiegels) hält einer Kritik nicht stand, wie die Endokrinologin Olga Demitschewa, Mitglied der European Association for the Study of Diabetes (EASD), dem Magazin Forbes erklärte. „Eine Verabreichung von Präparaten zur Erhöhung des Blutzuckerspiegels hätte das Problem schnell gelöst, und der Patient wäre innerhalb weniger Minuten wieder bei Bewusstsein gewesen“, sagte sie. Außerdem litt Nawalny nicht unter Diabetes.  

Der israelische Intensivmediziner Michail Fremderman sagte in einem Kommentar für die BBC, nach Angaben der Omsker Ärzte sei Nawalny wie ein Patient in einem Koma unklarer Genese behandelt worden, eine richtige Diagnose hätten ihm die russischen Ärzte nach wie vor nicht gestellt. Fremderman merkte an, die Laktatazidose, von der die Omsker Ärzte sprechen, komme sowohl bei akuten Schüben chronischer Stoffwechselstörungen bei Diabetikern vor – als auch bei Vergiftungen. Bei Nawalny (der kein Diabetiker ist) könne nur eine Vergiftung der Grund für einen solchen Zustand sein . 

Die Prozessakten im Mordfall Kiwelidi zeigen, dass bei dem Bankier bei seiner Hospitalisierung nach Vergiftung mit einer unbekannten Substanz ebenfalls vor allem erhebliche Zuckerschwankungen aufgetreten sind. Und die Vergiftung hat zu Stoffwechselstörungen und Multiorganversagen geführt. 

Mit anderen Worten, wenn der Toxikologe Sabajew Nawalnys Blutzuckerschwankungen beschreibt, dann beschreibt er einen Zustand, den auch Kiwelidi nach seiner Vergiftung mit einer Substanz aus der Nowitschok-Gruppe durchlaufen hat.

Es ist wichtig zu wissen, dass ein phosphororganischer Giftstoff auf besondere Weise wirkt. Wenn die Dosis gering war und der Mensch überlebt, kann der weitere Verlauf auch ganz anders sein als bei einer Vergiftung. Und je mehr Zeit vergeht, desto schlechter stehen die Chancen, eine Vergiftung mit einer phosphororganischen Substanz zu beweisen. 

Je mehr Zeit vergeht, desto schlechter stehen die Chancen, eine Vergiftung mit einer phosphororganischen Substanz zu beweisen

Dies erklärte Viktor Schulga bei seiner Befragung zu Kiwelidis Vergiftung. Schulga ist Toxikologe mit 40-jähriger Berufserfahrung und war damals Laborleiter am staatlichen Institut für organische Chemie und Technologie (in einer Außenstelle dieses Instituts wurde das System Nowitschok entwickelt). Im Protokoll gab er an, dass die Symptome einer Vergiftung mit einem phosphororganischen Kampfgift mit der Zeit sowohl auf altersbedingte Veränderungen als auch auf diverse Erkrankungen und so weiter zurückgeführt werden können.   

Innenministerium, Ermittlungskomitee, Gesundheitsministerium und das Städtische Krankenhaus für Notfallmedizin Nr. 1 in Omsk haben auf unsere Anfragen bezüglich Alexej Nawalnys Situation nicht reagiert.

Auf die Fragen von Novaya Gazeta und Washnyje istorii, was der Grund für die ungewöhnlichen gesundheitlichen Probleme und die Ermordung von Oppositionellen in Russland sei und ob sich der russische Präsident für das verantwortlich fühle, was mit Oppositionsführern und seinen Kritikern geschehe, antwortete Dimitri Peskow, Pressesprecher des Präsidenten. Er sagt, er lehne „diese Versuche ab, in dem verschlechterten Gesundheitszustand und in der Ermordung von Oppositionsführern irgendwelche allgemeinen Tendenzen zu sehen“.

Und er fasst zusammen: „Jeder Fall ist strikt als Einzelfall zu beurteilen, und so wird das auch gehandhabt.“ 

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„Herr Nawalny, Sie haben das Wort.“ Ein großgewachsener Mann mit kräftigem Nacken erhebt sich, denn das letzte Wort gehört ihm, dem Angeklagten. Alexej Nawalny, der kurz zuvor seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen angekündigt hat, macht die Anklagebank zu einer politischen Bühne. Seine Rede umfasst alle zentralen Punkte der Kampagne: Die allgegenwärtige Korruption, die politische Abhängigkeit der Gerichte, die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes, die so leicht zu beenden wäre. Er teilt in diesem Schlusswort die russische Gesellschaft in drei Gruppen und zeichnet damit ein scharfes Bild seiner Weltsicht. Da sind zuerst die „wenigen Tausend“ an der Spitze der politischen Hierarchie, die den Reichtum des Landes unter sich aufgeteilt haben. Zweitens ist da die kleine Gruppe von Nawalnys treuen Unterstützern und Mitstreitern. Die dritte schließlich ist die größte Gruppe. Die stillen Stützen der Macht: die niedrigen Ränge im Staatsdienst, die regierungstreuen Bürger. „Sie alle könnten viel besser leben“, ruft er und wendet sich persönlich an den Richter, den Staatsanwalt, den Wachmann im Saal, „wenn Sie sich nicht fürchten würden vor denen, die unser Land ausplündern!“1 Wahlkampf inmitten eines Prozesses, in dem er schließlich zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. 

Vier Jahre später, fast auf den Tag genau, hält der wieder angeklagte Oppositionelle eine Rede vor Gericht, in der er dem Kreml vorwirft, er wolle „einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern“. Vorangegangen war eine Nowitschok-Vergiftung, Behandlung in der Berliner Charité und eine Rückkehr, die Beobachter zu Vergleichen mit Nelson Mandela hinriss: Schon vor der Verurteilung von Nawalny war vielen klar, dass der Oppositionspolitiker hinter Gitter kommt, einige prophezeiten ihm gar den Tod, sei er doch der größte Feind des Regimes. Wie der russische Strafvollzugsdienst FSIN am 16. Februar 2024 mitteilte, ist Nawalny in seiner Haft gestorben. 

Auch wenn die angriffslustig gesenkte Stirn, die aufgerissenen blauen Augen während seiner Reden zuweilen einen anderen Eindruck vermitteln mochten: Alexej Nawalny kannte die Regeln und er bediente sie virtuos. Ein Jura-Abschluss im Jahr 1997, im Anschluss ein Studium der Finanzwirtschaft und ein halbes Jahr in Yale – das waren seine formalen Qualifikationen. Dazu kamen einige Jahre Arbeit in der sozialliberalen Partei Jabloko, die ihm allerdings zu vorsichtig im Umgang mit der Regierung wurde und die ihn wegen nationalistischer Parolen im Jahr 2007 rauswarf.2

Mindestens ebenso wichtig für Nawalnys Werdegang aber war seine langjährige Erfahrung mit eigenen Unternehmen und mit den Behörden des Landes. Als Minderheitsaktionär mehrerer Staatskonzerne hatte er das Recht, interne Dokumente einzufordern. Darauf baute er seine Korruptionsbeschuldigungen auf. Doch auch die Bürger des Landes hat er in die Aufdeckungskampagnen einbezogen. Im Jahr 2011 gründete Nawalny den Fond borby s korrupziei (dt. Fonds für Korruptionsbekämpfung, FBK)3, der frühere Onlineprojekte zu Wohnungsbau, Straßen und Staatsaufträgen unter einem Dach verbindet. Sein Team spürt eingesandten Hinweisen nach und klagt – oft sogar gegen hohe Staatsbeamte, sogar gegen Wladimir Putin selbst.4 Auf diese Weise hat er nicht nur ein beachtliches Netzwerk an internetaffinen Unterstützern aufgebaut, sondern auch viel Erfahrung im Umgang mit Gerichten gesammelt. 

Gerichtsverfahren und politische Ambitionen

Im Sommer 2013 lautete das Urteil im berüchtigten Kirowles-Prozess auf fünf Jahre Haft, die Strafe wurde später überraschend zur Bewährung ausgesetzt. Ein Jahr später kam eine weitere Bewährungsstrafe hinzu. Sein mitangeklagter jüngerer Bruder Oleg wurde erst im Juli 2018 nach Verbüßung des vollen Strafmaßes aus der Haft entlassen. Zahlreiche Beobachter und Analysten halten die Prozesse für politisch motiviert.5 Und tatsächlich spricht einiges dafür – so zum Beispiel die Tatsache, dass es Putins Vertrauter Alexander Bastrykin war, der 2012 persönlich die Wiederaufnahme des Kirowles-Prozesses in Gang brachte, obgleich das Ermittlungskomitee den Fall zu den Akten gelegt hatte.6 Und auch abseits von Gerichtsprozessen war Nawalny beständigem Druck ausgesetzt, der die Staatskasse übrigens einiges gekostet hat: In einer investigativen Reportage deckte das Medium Projekt im August 2020 auf, dass der Kreml über Blogger und Social-Media-Influencer eine dauerhafte mediale Kampagne gegen Nawalny führt und dass der FSB ihn zu jeder Zeit und an jedem Ort überwacht. 

Doch hätte Putin von Nawalny wirklich etwas zu befürchten? Zumindest stand er im Zentrum mehrerer öffentlichkeitswirksamer Konfrontationen der letzten Jahre. Es war nicht Nawalny, der die Menschen im Jahr 2011 auf die Straße brachte – aber seine Losung von der „Partei der Gauner und Diebe“ gehörte zu den prominentesten Slogans. Und er kam als Kandidat der Partei PRP-PARNAS 2013 bei der Moskauer Bürgermeisterwahl – ohne jegliche Aufmerksamkeit vieler großer Medien – auf 27 Prozent der Stimmen. Diese Teilerfolge und seine immense Gefolgschaft im Netz ermutigten ihn zum nächsten Schritt: die Präsidentschaftswahl 2018.

Schon das Urteil vom 08. Februar 2017 verhinderte formal eine offizielle Kandidatur. Doch Nawalnys Kampagne ging weiter, sein Team hoffte auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, oder doch noch eine politische Intervention. Doch am 25. Dezember schloss die Zentrale Wahlkommission Nawalny von der Präsidentschaftswahl aus. Der reagierte darauf mit einem Boykottaufruf für die Wahl, russische Behörden überprüfen derzeit wiederum, ob dies gegen das Gesetz verstoße.

Soviel Aufregung um den potentiellen Kandidaten war Grund genug, sich zu fragen, was Nawalny außer seinen berüchtigten, detailreichen Recherchen zu komplexen Korruptionsnetzwerken anzubieten hatte.

Korruption als die Wurzel allen Übels?

Sein politisches Programm7 bestand aus sorgfältig austarierten, oft nicht allzu konkreten Statements. Befürworter eines starken, aktiven Staates fanden Anschluss in seinen Forderungen nach Mehrausgaben für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur, einem deutlich höheren Spitzensteuersatz, einem Mindestlohn in Höhe von 25.000 Rubel und einer Subventionierung von Hauskrediten für Familien. Anhänger eines zurückhaltenden Staates hat er dagegen mit der Abschaffung jeglicher Steuern für Kleinunternehmer gelockt, mit einer zurückhaltenden Geldpolitik, Dezentralisierung und der Deregulierung des Wohnungsbaus.

Sucht man nach früheren Positionen, die keinen Eingang in sein Wahlprogramm gefunden haben, so findet man sein Bekenntnis zum orthodoxen Glauben – und seinen Hang zum Nationalismus: Er war bereits als Organisator und Redner beim Russischen Marsch in Erscheinung getreten8 und vertrat in seinem Blog eine „demokratisch“-ethnonationalistische Linie, die sich um Abgrenzung von Extremen bemüht. In einem YouTube-Clip (den er später als Witz bezeichnete) setzte er kaukasische Terroristen mit Kakerlaken gleich.9 Von solchen Botschaften hat er sich später distanziert, auch der Parole „Russland den Russen“ hat er ausdrücklich widersprochen.10

Seine Fixierung auf Korruption als die Wurzel allen Übels, seine nationalistischen Anklänge und auch seine Teilnahme an Wahlen, die dem politischen System Funktionsfähigkeit und damit Legitimität bescheinigt, haben dabei durchaus Anstoß in oppositionellen Milieus erregt. Keinesfalls war Nawalny daher der „Oppositionsführer“, als den deutsche und selbst einige russische Medien ihn zuweilen präsentieren. Aufregung im liberalen Lager erregte beispielsweise Nawalnys Aussage, die Krim sei kein Butterbrot, das man hin- und herreichen könne: Als Präsident würde er sie nicht an die Ukraine zurückgeben, sondern ein „normales“ Referendum über den Status der Halbinsel abhalten.11 Das klang nach einem wahlstrategischen Drahtseilakt. Wie auch bei seinen nationalistischen Tönen und seinen linken Forderungen zeigte sich hier, dass Nawalny auf Mehrheiten aus war – und auch, dass er bereit war, dem Publikum das zu sagen, was er für mehrheitsfähig hielt.

Gleichwohl hat Nawalny für viele auch eine Hoffnung symbolisiert – unabhängig davon, dass sein politischer Handlungsspielraum bis zu seiner Verurteilung im Februar 2021 sukzessive eingeschränkt wurde. Was ihn von anderen Politikern abgehoben hat, war aber nicht so sehr sein Programm, sondern vielmehr sein rhetorisches Talent und seine kompromisslose Gegnerschaft zur herrschenden Elite. Vereinfacht gesprochen sah Nawalny die Lösung von Russlands Problemen in der Formel Elitenwechsel plus Justizreform.12

Nawalny gleich Putin minus Korruption?

Tatsächlich war Nawalny seinem ärgsten Gegner, Präsident Putin, in mancher Hinsicht nicht unähnlich. Wie Putin zu seinem Amtsantritt im Jahr 2000, erschien er als eine charismatische und entschlossene Führungsfigur; mit seinem zentristischen Pragmatismus konnte sich theoretisch ein breites Spektrum von Bürgern identifizieren. Und Nawalny erklärte selbst: „Ein Großteil der Dinge, die ich vorhabe, formuliert Putin auch – nur setzt er sie nicht um.“13 Es fällt daher auch der regierungsnahen Presse schwer, ihn den verhassten Liberalen der 1990er zuzurechnen – vor Schmähkampagnen14 ist er trotzdem nicht sicher.

Nawalny hat mit den klassischen Instrumenten populistischer Rhetorik operiert – für ihn gab es keine horizontalen, politischen Grundsatzkonflikte, sondern nur unten gegen oben, Volk gegen Elite. In Kombination mit seinem zentristischen Programm hätte das eine erfolgreiche Strategie im Kampf gegen ein Regime sein können, das alles für alle zu sein vorgibt und daher ideologisch kaum zu greifen ist. Nawalny setzte dem allumfassenden Putin dasselbe allumfassende Bild entgegen. Der Unterschied: Unter Nawalny, so seine wichtigste Botschaft, würde die Staatsmacht ehrlich sein, transparent und effizient.

Gefahr für den Kreml?

Mit diesem Programm hatte Nawalny das Potential, der Macht auf lange Sicht gefährlich zu werden. Vielleicht war das der Grund, warum für politische Reden so oft die Anklagebank herhalten musste, warum er letztendlich in der Strafkolonie gestorben ist.

Als Nawalny am Morgen des 20. August 2020 in ein Krankenhaus in Omsk eingeliefert wurde, nachdem er auf dem Rückflug von Sibirien nach Moskau das Bewusstsein verloren hatte, stand vor diesem Hintergrund schnell der Verdacht einer Vergiftung durch den Kreml im Raum. Erhärtet wurde dieser Verdacht für viele dadurch, dass der Fall sich in eine reiche Vergiftungs-Geschichte missliebiger Personen einreiht. Auch dass die russischen Ärzte zunächst die Diagnose einer Stoffwechselstörung stellten und die Vermutung einer Vergiftung zurückwiesen, erschien vielen als typisch für die Verschleierungstaktik des Kreml. 

Nawalny wurde jedenfalls am 22. August durch die Vermittlung der Organisation Cinema for Peace15 und die anschließende diplomatische Unterstützung der Bundesregierung nach Deutschland ausgeflogen. Während seiner Behandlung in der Berliner Charité erklärten die Ärzte am 24. August, man habe Hinweise auf eine Vergiftung mit Cholinesterase-Hemmern gefunden. Am 3. September 2020 äußerte sich die damalige Bundeskanzlerin Merkel schließlich in einem öffentlichen Statement dahingehend, dass Nawalny „Opfer eines Verbrechens“ geworden war: Ein Speziallabor der Bundeswehr hatte nachgewiesen, dass der Oppositionspolitiker mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden war.

Am 13. Januar 2021 kündigte Nawalny an, schon am nächsten Sonntag nach Moskau zurückzukehren. Da ihm eine Verhaftung wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen drohte, lobten viele in Russland Nawalnys „mutigen“ Schritt  und verglichen den Politiker mit Nelson Mandela.

Noch bei seiner Ankunft am Flughafen in Moskau wurde Nawalny festgenommen. In einem Gerichtsprozess, abgehalten auf einem Moskauer Polizeirevier, wurde er am Montag, 18. Januar, zu 30 Tagen U-Haft verurteilt, wie seine Sprecherin Kira Jarmysch auf Twitter mitteilte. Im anschließenden Verfahren am 2. Februar 2021 wurde seine Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Er musste damit bis Oktober 2023 in eine Strafkolonie. Vorläufig bis 2023, so schien es schon damals einigen Beobachtern.

Diese Ereignisse zogen im Januar 2021 große Proteste nach sich. Die Demonstrationen waren wegen Corona-Beschränkungen an keinem Ort von den Behörden genehmigt. Gleichwohl gingen innerhalb einer Woche im ganzen Land zweimal zehntausende Menschen auf die Straße. Der Kreml warf Nawalnys Team wie auch zuvor schon vor, Minderjährige für politische Zwecke zu missbrauchen. Gleichzeitig ging die Polizei hart, mitunter brutal gegen die Protestierenden vor und unterstrich damit die Botschaft, die sie auch schon von Nawalnys Verurteilung verbreitete: Wer sich hartnäckig weigert, die Autorität der politischen Führung anzuerkennen, muss mit immer härterer Repression rechnen.

Nawalnys Haft, die in anschließenden Scheinprozessen immer wieder verlängert wurde, war von menschenunwürdigen Bedingungen geprägt. Das Wenige, was aus der Strafkolonie von ihm nach außen drang, klang nach Zweckoptimismus. Manchmal schien es, dass er gar darüber witzelt, immer noch am Leben zu sein. Am 16. Februar 2024 gab der russische Strafvollzugsdienst FSIN bekannt, dass Nawalny gestorben ist. 

Aktualisiert am 16.02.2024


1.youtube.com: Poslednee slovo Alekseja Navalnogo na povtornom processe po delu «Kirovlesa“ ↑​
2.shuum.ru: Aleksej Navalnyj: A ty, černožopaja, voobšče molči! 
3.Fond borby s korrupciej 
4.RBK: Navalnyj podal isk k Putinu 
5.Lexikon der Politischen Strafprozesse: Nawalny, Alexei Anatoljewitsch 
6.Nawalnys Unterstützer bezeichneten die Intervention als persönlichen Rachefeldzug Bastrykins, mit der Begründung, dass Nawalny einige Wochen zuvor Bastrykin vorgeworfen hatte, mit seinem Posten unvereinbare Geschäfte in Tschechien zu unterhalten, siehe vesti.ru: Politologi o Navalnom – realnom i virtualnom. Details zum Vorwurf hier: Livejournal Navalny: O nastojaščich inostrannych agentach 
7.vgl. 2018.navalny.com 
8.snob.ru: Navalnyj i nacionalizm 
9.youtube.com: Navalnyj za legalizaciju oružija 
10.Gleichwohl bringt er sich aber immer noch über ethnisch-religiöse Themen ins Gespräch, wie im Frühjahr 2016: Als in Moskau eine psychisch gestörte usbekische Muslima einem Kind den Kopf abschnitt, beklagte er lautstark die vermeintlich unzureichende Berichterstattung und sprach von Zensur aus politischer Korrektheit, siehe youtube.com: Debaty. Naval’nyj vs. Pozner: Polnaja versija 
11.RBK: Aleksej Naval’nyj – RBK: «Naša glavnaja zadača – izmenit’ sejčas vse» 
12.Zwar beklagt er auch institutionelle Schwächen des Systems, insbesondere die von der Exekutive dominierte Verfassung. Im Zentrum seiner Kritik stehen aber keine systemischen Eigenschaften, keine Anreize, denen Individuen folgen, keine Fragen der politischen Kultur. Nicht einmal die übermäßigen Befugnisse des staatlichen Gewaltapparates unterzieht er besonderer Kritik – es seien die Personen selbst, die jeglichen Sinn für Moral und ihren gesunden Menschenverstand verloren haben und in ihrer hemmungslosen Selbstbereicherung von niemandem effektiv kontrolliert werden können. 
13.Echo Moskvy: Osoboe Mnenie: Aleksej Naval’nyj 
14.Der regierungstreue Fernsehsender NTV lancierte bereits mehrere Sujets, die angeblich Nawalnys „versteckte Millionen“ dokumentieren sollen. 
15.Bezahlt wurde der Transport von dem russischen Unternehmer und Philanthropen Boris Simin 
 
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