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Die unzivile Gesellschaft und ihre Rolle im Krieg

Googelt man „Putins Krieg“, dann bekommt man zehntausende Ergebnisse. Dabei sagen rund 70 Prozent der Menschen in Russland bei Meinungsumfragen, dass sie die „Spezialoperation“ unterstützen. Demnach ist die russische Aggression gegen die Ukraine also nicht das Werk eines einzelnen Mannes, auch der überwiegende Großteil der Russen trägt ihn mit. „Das einfache Volk ist dumm“ heißt es da nicht selten in staatlichen und auch in unabhängigen russischen Diskursen: Von der Propaganda gehirngewaschen, obrigkeitshörig, kollektivistisch, konformistisch – die Liste der Zuschreibungen ist lang, oft kommt man überein, dass der sogenannte Sowjetmensch einfach nie überwunden wurde, und dieser sei nunmal kaum ohne den Krieg denkbar. Dies bildet für viele die gesellschaftliche Stütze des Kriegs. 

Die russische Propagandamaschinerie läuft tatsächlich auf Hochtouren. Was sie in den Köpfen ihrer Adressaten anstellt, ist ein intensiv diskutiertes Thema. Für einen Moskauer Soziologen, der aus Sicherheitserwägungen anonym bleiben will, verdeckt diese Intensität aber ein anderes Problem: Auf Meduza argumentiert er, dass nicht so sehr der „einfache Russe“ den Krieg unterstützt, sondern die informierten und globalisierten Eliten – reiche Russen, deren Aufstieg noch während der Sowjetunion begann. 

Источник Meduza

„Wie kann das verfickt nochmal sein?“, wiederholt Rapper Vladi immer wieder in seinem gleichnamigen Song, geschrieben 2022, nach Kriegsbeginn. Und der Fußball-Shootingstar Alexander Kershakow sagt in einem Interview: „Ich verstehe nicht, wie das sein kann. Wie so etwas in einer modernen und progressiven Gesellschaft möglich ist. Es will mir einfach nicht in den Kopf. Ich habe versucht, mir das alles irgendwie zu erklären, aber ich finde keine Antworten.“ Selbst anderthalb Jahre nach dem 24. Februar [2022] entziehen sich die Ereignisse unserem Begreifen, wirken surreal wie ein schlimmer Traum. Aber was genau begreifen wir nicht, und woher kommt das Gefühl, als würden wir träumen?

Auch wenn der blutige Krieg gegen die Ukraine weder Grund noch Ziel hat, folgt er einer eigenen historischen und sozialen Logik. Erstens lässt sich der Krieg aus dem Weltbild Wladimir Putins und seiner Umgebung heraus erklären – diesem eigentümlichen historischen Messianismus der politischen Diktatur, die auf dem Nährboden von Geopolitik und Verschwörungen gewachsen ist. Weitere Erklärungen finden sich in den gesellschaftlichen Vorstellungen und Praktiken der russischen Bevölkerung, die, wie wir landläufig annehmen, in Ressentiment, Imperialismus und antiwestlichen Stimmungen gefangen ist und zu Gewalt neigt. Genau diese Einheit von Staatsmacht und „Volk“ wirkt über die Köpfe der prowestlichen Minderheit hinweg und lässt die irrationale russische Aggression in der Ukraine möglich (manche denken sogar folgerichtig) erscheinen. Mit diesen oder jenen Ausflüchten oder Details erklären wir uns diesen Krieg.

Aber irgendetwas passt hier nicht zusammen. Der unaufgeregt alltägliche Grundton des gesellschaftlichen Lebens in Russland nach dem 24. Februar entspricht so gar nicht jenem Bild von Mobilisierung und Einheit, das wir mit einer Nation assoziieren, die einen totalen Krieg wie Mitte des letzten Jahrhunderts führt. Die Diskussion über die Faschisierung der russischen Gesellschaft, mit der im Frühjahr 2022 die Einordnung des russischen Einmarsches in die Ukraine begonnen hatte, ist schnell und unbemerkt verebbt. Wenn man nicht gerade in Frontnähe lebt, findet man auf den Straßen Russlands – von den Werbebannern für den Eintritt in die Armee abgesehen – kaum Spuren des Krieges.

Das Z ist vor allem ein Symbol für sozialen Revanchismus

Wenn Sie jemanden mit einem Z auf dem T-Shirt oder der Heckscheibe seines Autos sehen – also einen aktiven Unterstützer des Einmarsches in die Ukraine und des Kampfs gegen den Westen – und es handelt sich dabei nicht um einen hohen Beamten, einen Mitarbeiter der Propagandaorgane oder den Schauspieler Wladimir Maschkow, dann haben Sie es aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem gesellschaftlichen Verlierer zu tun. Einem Nationalgardisten, der einen LADA Granta fährt, einem Z-Poeten, der über die mangelnde Unterstützung des Staates und den fehlenden Zugang zum Druckwesen und Fernsehen klagt, oder einem patriotischen Blogger beziehungsweise seinem Follower, die sich gegenseitig bemitleiden, dass der Staat von ihrem Patriotismus nicht endlich Gebrauch machen will. Das Z ist vor allem ein Symbol für sozialen Revanchismus.

Die breite russische Gesellschaft zeigt keine klare Unterstützung für den Krieg, sondern versteht ihn als Teil einer natürlichen sozialen Ordnung. Soziologen sprechen von einer „Mehrheit der Nicht-Ablehnung des Kriegs“.

Aber wer steht für diese Ordnung, ihre Reproduktion und ihre Legitimierung? Das sind die Eliten, die Schicht der gesellschaftlich Erfolgreichen. Und was sind die Eliten? Diese Schicht ist besser ins System integriert als der Durchschnitt. Ihr Kapital, sei es sozial, finanziell, administrativ oder ein Kapital von Symbolen, besitzt einen hohen Grad an Liquidität, ist also frei konvertierbar. 

Nach dem 24. Februar hat ein Teil der russischen Elite das Land verlassen, aber der Großteil ist geblieben. Mittlere und kleinere Beamte, die die politisch-militärische Maschine des Kreml am Laufen halten; staatsnahe Unternehmen, die jetzt mit Importsubstitution und dem Umgehen von Sanktionen beschäftigt sind; die obere Mittelschicht und die Leitungsebene der aus dem Staatshaushalt bezahlten Institutionen, die der Staatsmacht gegenüber auf die eine oder andere Weise Loyalität demonstrieren müssen – das sind mehrere Millionen Menschen, die sich ohne erkennbaren Willen, aber auch ohne erkennbaren Widerstand in die moralische Ökonomie der militärischen Aggression einfügen. Das Leben ist nicht stehen geblieben, es gab kaum Rücktritte von Vorstandsposten, der Optimismus der Unternehmer ist ungebrochen.

Aber wie kann das verfickt noch mal sein? Die Leichtigkeit, mit der der Großteil der russischen Eliten den Krieg akzeptiert hat – eben darin scheint das Rätsel zu liegen, von dem Rapper Vladi und Fußballer Kershakow sprechen.

Die unsichtbaren Eliten und die Ethik der Bereicherung

Über die postsowjetischen Eliten wissen wir erstaunlich wenig – aus unserem soziologischen Blickfeld wurden sie völlig verdrängt durch die Gestalt des einfachen Bürgers, jenes „Volks“, mit dessen Hilfe sich die russische gebildete Klasse seit Jahrhunderten das Auf und Ab der Geschichte erklärt. Die Tendenz zu solch groben soziologischen Verallgemeinerungen wird heute auch durch Umfrageergebnisse genährt. So scheint beispielsweise die Feststellung, die Mehrheit der Russen (70 bis 80 Prozent) würde den Krieg unterstützen, die Frage nach den Gründen dafür zu erübrigen. Man nimmt einfach als gegeben hin, dass es sich wohl um eine Manifestation des nationalen Charakters handeln muss.

Doch die Fixierung auf das große Ganze verstellt den Blick auf die Details. So weisen die Ergebnisse derselben Umfragen darauf hin, dass in der Gruppe der Unterstützer die Hauptrolle nicht, wie man vielleicht vermuten würde, die Armen spielen, sondern die Reichen. Laut dem unabhängigen soziologischen Projekt Russian Field, das die Ergebnisse seiner Umfragen systematisch in Bezug auf die finanzielle Situation der Befragten veröffentlicht, korrelieren die erklärte Unterstützung für Wladimir Putin, die „militärische Spezialoperation“ und die „Teilmobilmachung“, das Vertrauen in offizielle Erklärungen und sogar die Bereitschaft, persönlich in den Krieg zu ziehen, direkt mit dem Wohlstand der Befragten: Die Loyalität derjenigen, die ihre finanzielle Situation als „gut“ einschätzen, liegt seit Kriegsbeginn unverändert im Durchschnitt 15 bis 25 Prozentpunkte höher als die derjenigen, die ihre finanzielle Situation als „schlecht“ oder „sehr schlecht“ einschätzen.

Wir können insgesamt annehmen, dass das Einkommensniveau, unabhängig von den politischen Einstellungen, mehr oder weniger dem Grad an sozialer Integration und dem Eingebundensein ins große Ganze entspricht. Und obwohl die Wohlhabenden besser vor wirtschaftlichen Erschütterungen geschützt sind als die, die weniger besitzen, sollte man annehmen, dass sie die Ereignisse gleichzeitig pragmatischer betrachten und die Auswirkungen der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Situation auf die eigenen Perspektiven deutlicher spüren. Doch den Umfrageergebnissen nach zu urteilen, scheint genau dies nicht der Fall zu sein. Die wichtigsten Befürworter und Förderer des Kriegs in Wort und Tat sind nicht, wie es sich die gebildete Klasse gewöhnlich ausmalt, die von der Propaganda korrumpierten Vertreter des „gemeines Volkes“, die nie einen Reisepass besessen haben – sondern die informierten und globalisierten Eliten.

Wer sind die Wohlhabenden in der postsowjetischen Gesellschaft?

Aber was für Menschen sind das? Wie gestaltet sich ihr Erfolg in der postsowjetischen Gesellschaft? Paradoxerweise ist die markanteste Eigenschaft der postsowjetischen Eliten gerade ihre Unsichtbarkeit, ihre Unterrepräsentiertheit im öffentlichen Leben (abgesehen von der obersten Führung). Die russischen Eliten sind zunächst einmal keine verdienstvollen, keine gesellschaftlich anerkannten Eliten – sie sind Eliten der Korruption, also der heimlichen Errungenschaften, der Vermögen unklarer Herkunft und der hohen Zäune, die sie vor der Öffentlichkeit abschirmen. Diese Eliten existieren in einer patronal-bürokratischen Logik, selbst wenn sie nicht unmittelbar in die Staatsbürokratie eingebunden sind: Die obere Spitze der russischen Gesellschaft ist von einem dichten Netz des Bürokratie- und Silowiki-Klientel durchzogen, wobei sich die bürokratischen Muster längst über den eigentlichen Bürokratieapparat hinaus verbreitet haben. Die russischen Eliten erhalten ihren Status in der Regel von einem Gönner oder einem Vorgesetzten, und daher ist ihr Ruf nicht öffentlich; es existiert schlichtweg keine soziale Mythologie, die ihre Erfolge in den Augen der Gesellschaft, ja sogar in den eigenen Augen legitimieren würde. Die postsowjetischen Eliten sind eine Klasse der Unsichtbaren.
 

„Ein Merkmal der postsowjetischen Eliten ist ihre totale ideelle Prinzipienlosigkeit, die ausschließlich das Recht des Stärkeren und die Macht des Geldes akzeptiert“ / Foto © UPI Foto/imago images

Ein weiteres Merkmal dieser Eliten ist ihre totale ideelle Prinzipienlosigkeit, die ausschließlich das Recht des Stärkeren und die Macht des Geldes akzeptiert. Die russischen Eliten sind Eliten der Bereicherung und des Konsumismus, die zu einer Weltanschauung wurden. Der persönliche materielle Wohlstand ist hier der Idee des Gemeinwohls und jeglichem Idealismus demonstrativ entgegengesetzt. Dass solche Werte für die russischen Eliten absolut keine Rolle spielen, erkennt man leicht an der Qualität der sozialen Infrastruktur in Russland, angefangen bei Wohnungs- und Kommunaldienstleistungen bis hin zu den Bestattungen.

Das Fehlen von Idealen kombinieren sie mit Hyperloyalität: Die russischen Eliten bestehen aus überzeugten Anhängern des Regimes. Nur dass sie nicht etwa deshalb loyal sind, weil sie den ideologischen Pathos des bestehenden Regimes teilen, sondern weil es die Stabilität der sozialen Ordnung gewährleistet, deren Nutznießer sie sind. Die unverhüllte und kulturell legitimierte Praxis dieser Eliten besteht in ihrer Heuchelei, die an das Orwellsche Doppeldenk erinnert: Erklärte Antiwestler investieren in die Ausbildung ihrer Sprösslinge im Ausland und Immobilien in eben jenem Westen, das Rechtswesen ist mit Schutzgelderpressung und Terror beschäftigt, und die Zahlen in den Steuererklärungen bilden nur einen Bruchteil des realen Kapitals ab. Worte und Taten klaffen radikal auseinander, und das ist die soziale Norm.

In gleichem Maße trifft [die Heuchelei] auch auf die Staatsideologie selbst zu. Wie auch immer die Ideologie lautet, ihr Inhalt tritt für die Eliten hinter ihre soziale Funktion zurück: Der Eid auf die „offiziellen Werte“ ist lediglich ein Loyalitätsritual, der Preis für den Wohlstand.

Die unzivile Gesellschaft und der nicht-einfache sowjetische Mensch

Der Gedanke liegt nahe, dass diese „unsichtbaren Eliten der Bereicherung und Heuchelei“ aus den sogenannten wilden Neunzigern emporgekommen sind – der Epoche des frühen russischen Kapitalismus, der seinerzeit den sozialistischen Idealismus von der Bildfläche verdrängt hat. So sieht es zum Beispiel der vielleicht beste Kenner der postsowjetischen Bürokratie, Alexej Nawalny („Putin ist die Neunziger“). Und die heutigen Linken würden diese Eliten als Eliten des globalen Neoliberalismus bezeichnen (so beschrieb es unlängst der Soziologe Grigori Judin in einem Beitrag für Meduza). Beide Hypothesen sind jedoch falsch: Die postsowjetischen Eliten sind das spezifische Erbe einer spätsowjetischen Gesellschaftsordnung.

Vor zehn Jahren haben der US-Historiker Stephen Kotkin und der berühmte polnisch-amerikanische Holocaust-Forscher Jan Gross das Buch Uncivil Society: 1989 and the Implosion of the Communist Establishment über den Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa geschrieben. Die „uncivil society“ – das ist die sowjetische Nomenklatura: der obere Teil des Staatsapparats, die Partei- und Militärspitze und das offiziöse Kulturestablishment, die einen geschlossenen sozialen Organismus mit gemeinsamen Werten und sozialen Strategien herausgebildet hatten. Die plötzliche Abkehr der „uncivil society“ von der Loyalität gegenüber der sowjetischen Ideologie Ende der 1980er Jahre habe die kommunistischen Regime in Osteuropa genauso zerstört, wie die Bankenpanik, der „bank run“, das Bankensystem zerstört, schreiben Kotkin und Gross. Sie stellen den Opportunismus der sozialistischen Eliten 1989 dem gewohnten Bild des Triumphs der antikommunistischen Opposition auf den Überresten der Berliner Mauer gegenüber.

Die postsowjetischen Eliten als spezifisches Erbe einer spätsowjetischen Gesellschaftsordnung.

Wir sollten den so treffenden Terminus „unzivile Gesellschaft“ weiter fassen und nicht nur auf die sowjetische Nomenklatura beziehen, sondern auch auf die Eliten der spätsowjetischen Gesellschaft insgesamt: die sozial fortgeschrittene urbane Klasse, die großen und kleinen Manager, die in den Kreislauf des administrativen, finanziellen und des Austauschs von Symbolen eingebunden sind. Diese Eliten formieren sich quasi in der Gegenphase zum erlöschenden sowjetischen Projekt, ihr Auftreten selbst ist eine Form des Erlöschens: Die Abneigung gegen die rhetorische Exaltiertheit und ideologische Ritualisiertheit des Sowjetischen brachte in den 1970er Jahren eine neue, anti-idealistische soziale Ethik hervor, einen eigentümlichen sowjetischen Utilitarismus. Befeuert wurde er durch den Erdöl-Boom, der Geld in die sowjetische Wirtschaft pumpte, sowie die Entspannungspolitik, die den Eisernen Vorhang, der das rasante Wachstum der Konsumwirtschaft im Westen vor den Augen der Bevölkerung der UdSSR verborgen hatte, durchlässig machte. In der Folge wurde dieser Utilitarismus zu einer Art Parallel- beziehungsweise Schattenethik der spätsowjetischen Gesellschaft und ihrer Eliten – eine Ethik des Konsumismus, die in der Welt des sozialistischen Defizits eine besondere symbolische Aufladung erfuhr.

Aber die öffentliche Bühne der UdSSR war komplett von der sowjetischen Ideologie und dem Kampf gegen sie besetzt, weshalb es nie zu einer sozialen Mythologisierung des Kults um den persönlichen sozialen und wirtschaftlichen Erfolg kam, die ihn legitimiert hätte. Während sie nach außen hin weiter brav die Rituale der Sowjetideologie ausführte, erlebte die „uncivil society“ des späten Sozialismus im Schatten des öffentlich sanktionierten sozialen Handelns ihre Evolution.

Eliten des spätsowjetischen Konsumismus und die postsowjetischen „Eliten der Bereicherung“ sind so ähnlich, weil sie ein und dasselbe sind

Dass sich die Eliten des spätsowjetischen Konsumismus und die postsowjetischen „Eliten der Bereicherung“ bis zur Ununterscheidbarkeit ähneln, hat eine einfache Erklärung: Es handelt sich um dieselben Eliten und dieselbe Ethik. Ihre Apostel sind die Emporkömmlinge der 1970er Jahre, die mit dem Aufblühen der Ethik der Bereicherung groß geworden sind und in den 2000er Jahren auf die historische Bühne traten, als sie die idealistische Generation der Tauwetterperiode endgültig verlassen hatte. Einer Studie von Maria Snegowaja und Kirill Petrow zufolge sind etwa 60 Prozent der heutigen politischen Elite in Russland unmittelbar aus der spätsowjetischen Nomenklatura hervorgegangen, und einer ihrer typischen Vertreter ist ihr Präsident geworden.

Einer ihrer typischen Vertreter ist Präsident geworden

Dabei dominiert in unserer Gesellschaft eine ganz andere Vorstellung vom sowjetischen Erbe. Diese Vorstellung hängt mit der vorherrschenden und längst zum Allgemeinplatz gewordenen soziologischen Hypothese von der Existenz eines speziellen und dominierenden Homo sovieticus zusammen. Sie wurde ausführlich in dem Buch Die Sowjetmenschen 1989–1991. Soziogramm eines Zerfalls (der russische Titel lautet wörtlich: Der einfache sowjetische Mensch) beschrieben, das 1993 von Juri Lewada und seinen Kollegen aus dem damals gerade gegründeten WZIOM, dem Vorgänger des heutigen Lewada-Zentrums, herausgegeben wurde. 

„Der einfache sowjetische Mensch“, wie ihn die Soziologen Anfang der 1990er Jahre sahen, ist ein beschränkter, infantiler und neidischer Mensch, der sein Schicksal dem Staat überlassen hat, nicht auffallen will, biegsam und hinterlistig ist, Angst vor Verantwortung hat und allzeit damit beschäftigt ist, irgendwie zu überleben. 1993 schien es, als würde er die gesellschaftliche Bühne verlassen, aber die weiteren Beobachtungen zwangen Lewada und seine Ko-Autoren dazu, diesen Schluss radikal zu überdenken: Sie kamen zu der Erkenntnis, dass die Anpassungsfähigkeit und Zähigkeit des Homo sovieticus sich als so hoch erwiesen hatten, dass sie ihn ins Zentrum nun auch der postsowjetischen Gesellschaftsordnung stellten. Dies wiederum habe den Weg geebnet für die Hemmung des Demokratisierungsimpulses während der Perestroika und das spätere Abgleiten Russlands in den Autoritarismus. 

Später fügten die Soziologen den Hauptmerkmalen des „einfachen sowjetischen Menschen“ das einst von Nietzsche erfundene Ressentiment hinzu – eine Art sozialer Minderwertigkeitskomplex, der sich selbst kompensiert, indem er erfolgreichere Gesellschaftsmodelle (den „Westen“) aktiv ablehnt oder ihnen gegenüber sogar aggressiv auftritt. Das ist es, woraus die berüchtigte „Putin-Mehrheit“ besteht, die zu dem Meme „86 %“ wurde.

Die Frage nach der realen Existenz des Homo sovieticus ist, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt, eine Geschichte für sich, die längst zum Thema einer wissenschaftlichen und publizistischen Diskussion geworden ist. Und dennoch, es ist erstaunlich, wie unähnlich sie sich sind: dieser „einfache sowjetische Mensch“ der russischen Soziologie, eine Geisel des Paternalismus und Ressentiments, und der „nicht-einfache sowjetische Mensch“ der spät- und postsowjetischen Eliten. Anstelle des Paternalismus steht bei diesem das administrative Unternehmertum, Geschäfte mit Hilfe und im Umfeld des Staates, und anstelle des Ressentiments die Defizite von Symbolen, das heißt die fehlende Möglichkeit, die eigenen sozialen Erfolge zu legalisieren (hieraus erklärt sich auch die Neigung der Führungsspitzen zu wissenschaftlichen Titeln, die ebenfalls auf die spätsowjetischen sozialen Moden und ihre Denkmalwut zurückgeht).

Man muss jedenfalls klar sehen, dass hinter den heutigen Eliten Russlands eine starke, tief verwurzelte spät- und postsowjetische soziale Moral steht, die eine beständige soziale Ordnung formiert hat, welche sich seit nunmehr einem halben Jahrhundert erfolgreich evolutioniert. Im Grunde ist die postsowjetische Epoche die Epoche des „nicht-einfachen sowjetischen Menschen“: Die Korruption wurde zur faktisch legitimierten Basis des polit-ökonomischen Systems, während die Ethik der Bereicherung die Werte des sozialen und politischen Idealismus verdrängt hat, den die Generation der 1960er gepredigt hat (und dessen Sternstunde die Perestroika war).

Trotz aller Probleme um die Anerkennung und die Öffentlichkeit besetzen heute der „nicht-einfache sowjetische Mensch“ und die „unzivile Gesellschaft“ praktisch die komplette soziale Bühne in Russland. Folglich ist das Wichtigste, das die postsowjetische Gesellschaft von der sowjetischen geerbt hat, nicht Ressentiment und Paternalismus, ja nicht einmal das imperiale Denken, sondern die spezifische Verbindung von einem sozial-bürokratischen Unternehmertum mit politischem Konformismus, also mit einer Depolitisierung.

Die Folgen der Depolitisierung und die moralische Katastrophe

Das Weltbild des „nicht-einfachen sowjetischen Menschen“ negiert den Wert der politischen Teilhabe. Die demokratische Maschinerie ist für ihn kein Mechanismus, sondern reine Dekoration. Die fehlende Nachfrage der postsowjetischen Eliten nach Demokratie hat dazu geführt, dass die demokratischen Institutionen im neuen Russland schnell zu einer Imitation verkommen sind und die Fälschung der Wahlergebnisse zu einer sozialen Massenpraxis, in der die Hauptrolle wiederum jene „unzivile Gesellschaft“ spielt: kleinere Führungskräfte, Schuldirektoren und Leiter anderer staatlicher Unternehmen und so weiter. So kam es, dass die Basis der postsowjetischen sozialen Ordnung nicht die öffentliche, sondern eine bürokratische Konkurrenz wurde und der zentrale Hebel nicht die öffentliche Anerkennung, sondern die Loyalität gegenüber der Obrigkeit.

Die apolitischen Einstellungen der spät- und postsowjetischen Eliten sind das Misstrauen in die Politik als solche oder ihre Verwandlung in ein Mittel der Bereicherung. Diese Einstellungen haben das politische Regime in Russland von den Systemen der Kontrolle und Gegengewichte befreit. Das Vakuum an Symbolen, in dem diese Eliten existieren, wurde gefüllt mit Verschwörungen und antiwestlichen Stimmungen, die so ungehindert zur Staatsideologie werden konnten.

Die Abkehr der „Eliten der Bereicherung“ von jeglichen politischen und intellektuellen Ansprüchen machte es möglich, dass sich das politische Regime in Russland in eine personalisierte Diktatur verwandeln konnte, die sich schließlich von der Realität lossagte und einen blutigen Krieg gegen die Ukraine entfesselte. Genau das ist die Formel, die die Kontinuität zwischen der postsowjetischen Welt und unserem tragischen Heute erklärt – das Bindeglied ist die gemeinsame soziale Moral: die Moral der Bereicherung und der Teilnahmslosigkeit. Der Begriff „moralische Katastrophe“ scheint auf den ersten Blick eine ausgelutschte publizistische Plattitüde, aber im Fall Russlands im Jahr 2023 besitzt sie einen konkreten soziologischen Inhalt: Die Gründe für den Krieg in der Ukraine liegen in der sozialen Ethik.

Die Grenzen der Loyalität und die Stabilität des Regimes

Die Loyalität der „unzivilen Gesellschaft“ gegenüber dem Regime ist begrenzt: Genau wie in der postsowjetischen Zeit ist der „nicht-einfache sowjetische Mensch“ und die aus solchen wie ihm bestehende „unzivile Gesellschaft“ völlig befreit von jedem ideologischen Pathos; hinter vorgefertigten Formeln verbirgt sie ihre Korruptions- und Bürokratie-Erfolge. Zehntausende große und kleine Führungskräfte, Beamte, Manager, Staatsunternehmer, die in das bürokratische Milieu eingebunden sind, ökonomisch erfolgreiche, „respektable“ Leute, die ihre Erfolge nicht legalisieren und der Öffentlichkeit präsentieren können – sie alle sind bereit, ihren Eid auf einen noch so menschenfressenden „nationalen Führer“, jede „militärische Spezialoperation“ und weiß der Teufel was zu schwören, solange diese ihre gesellschaftliche Stellung sicherstellen und sie mit immer neuen administrativen und wirtschaftlichen Möglichkeiten ausstatten.

Es wird zu einer Abwendung kommen von dem radikalisierten Regime, das den Wohlstand in Gefahr bringt

Das bedeutet wiederum, dass hinter dem hohen Grad der Unterstützung des Krieges unter den russischen Eliten, von dem die Umfragen zeugen, keine ideologische Mobilisierung steht, sondern ein Loyalitätsreflex. Noch ist sich der „nicht-einfache sowjetische Mensch“ sicher, dass die Macht Wladimir Putins seine „unzivile Gesellschaft“ schützt und als Garant für seine Prosperität fungiert. Aber irgendwann kommt es zu einem Umbruchmoment, in dem er sich, wie immer schweigend, von dem radikalisierten Regime abwendet, das seinen Wohlstand in Gefahr bringt, und dann bringt ein neuer Anfall von „Bankenpanik“ das scheinbar unerschütterliche politische System zu Fall.

Das Regime scheint allerdings selbst sehr wohl zu verstehen, worauf seine Unterstützung beruht, und versucht, seine wahnwitzigen Ambitionen mit den Interessen des „nicht-einfachen sowjetischen Menschen“ ins Gleichgewicht zu bringen. Die Metropolen und Großstädte, die seinen hauptsächlichen Lebensraum darstellen, bleiben von der „Teilmobilmachung“ (und der Kriegspropaganda insgesamt) weitgehend verschont. Seit Kriegsbeginn werden verstärkt Antikorruptionsgesetze abgeschafft, sogar eine Aufhebung des Vergaberechts wird diskutiert. Eine Umweltschutzorganisation nach der anderen wird kriminalisiert, weil sie Unternehmern und Beamten ein Dorn im Auge sind.

Die Frage, ob Putin in der Lage sein wird, dieses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, ist nicht leichter zu beantworten als jede andere Frage bezüglich unserer Zukunft. Noch schwieriger ist es jedoch, sich vorzustellen, wie das Schicksal der russischen Gesellschaftsordnung und ihres Herrschers, eines „nicht-einfachen Sowjetmenschen“, auf der nächsten Windung der Geschichte aussehen wird, der wir uns im Eiltempo nähern.


Leseempfehlungen

Projekt: Die Hunde des Krieges. Russische Oligarchen der Kriegszeit.

Die russischen Geldeliten unterstützen den Krieg nicht nur, sie verdienen auch daran, wie eine Recherche des gemeinnützigen Investigativ-Onlineportals Projekt zeigt. 

„Mindestens 83 Personen aus dem letzten Forbes-Vorkriegs-Ranking der 200 reichsten Russen waren offen an der Versorgung der russischen Armee und der Rüstungsindustrie beteiligt.

Gegen 82 von ihnen sind Sanktionen verhängt worden, aber nur 14 dieser 82 sind in allen Gerichtsbarkeiten der pro-ukrainischen Koalition sanktioniert. Und 34 überhaupt nur in der Ukraine. Die Gesamtsumme der offen zugänglichen Verträge, die die Unternehmen dieser Geschäftsleute während des Kriegs in der Ukraine (seit 2014) mit der russischen Rüstungsindustrie abgeschlossen haben, ist riesig – nicht weniger als 220 Milliarden Rubel, also fast drei Milliarden US-Dollar (im Durchschnittskurs von 2021).“

russisches Original (vom 31.07.2023) / englisches Original (vom 31.07.2023) / Übersetzung aus Google Translate


iStories: Wie russische Milliardäre die Armee mit Söldnern versorgen

Die russischen Oligarchen gehören zu den größten Unterstützern des Angriffskriegs gegen die Ukraine. Laut einer Recherche des gemeinnützigen Investigativ-Onlineportals Projekt gehören sie auch zu den größten Profiteuren. iStories hat zudem herausgefunden, dass viele ihrer Unternehmen auch ziemlich direkt an dem Krieg teilnehmen: Die Firmen von Oleg Deripaska, Leonid Mikhelson und anderen Geschäftsleuten heuern Söldner an, setzen sie auf ihre Gehaltslisten – und entgehen trotzdem teilweise den westlichen Sanktionen. 

russisches Original (vom 01.08.2023) / englisches Original (vom 01.08.2023) / Übersetzung aus Google Translate

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Der Sowjetmensch

„… die hohen Berge versetzt er, / der einfache sowjetische Mensch“ – so ehrt ein berühmtes Lied aus dem Jahr 1937 den Sowjetmenschen. Dieser war in der utopischen Vorstellungswelt der sowjetischen Ideologie ein Idealtyp und fast ein Übermensch. In diesem Sinne wurde der Ausdruck lange verwendet und war fest in der offiziellen Kultur der UdSSR verankert. Doch im Zuge der Perestroika hat die Wissenschaft eine andere Begriffsbedeutung konstatiert, die der ersten genau entgegenläuft: Der einst heldenhafte Sowjetmensch wurde zur Karikatur seiner selbst, dem opportunistischem und untertänigen homo sovieticus.

Das soziologische Phänomen des Sowjetmenschen jedoch machen Wissenschaftler auch im Russland von heute noch aus.

Das bolschewistische Konstrukt des Sowjetmenschen geht auf die vielfältigen Ideen-Strömungen in der christlichen Tradition wie auch in der Moderne zurück, die sich mit dem Thema des Neuen Menschen befassten.1 In der frühen Sowjetunion war dieses Konzept in den Reihen der künstlerischen Avantgarde allgegenwärtig und genoss zeitweise den Status einer offiziösen Doktrin der herrschenden Kulturpolitik: Der Sowjetmensch als Prototyp war ganz vom Verstand geleitet, der Sache des Kommunismus ergeben. Er lebte und arbeitete mit höchster Disziplin und Kultur, war fest mit dem Kollektiv verbunden und besaß einen heroischen Willen, fähig, gänzlich die Natur zu beherrschen und alle dem Kommunismus entgegenstehenden Schwierigkeiten und Klassenfeinde zu überwinden.

Die weitere Entwicklung der Idee fiel in die Zeit der Industrialisierung und der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft seit Ende der 1920er Jahre: Das Stalinsche Programm enthielt sowohl den Aufbau einer neuen Gesellschaft des Sozialismus als auch die Transformation des Menschen zum Sowjetmenschen. Die gesamte Kultur hatte diesem Ziel zu dienen. Eine zentrale Rolle erhielten dabei die Schriftsteller als „Ingenieure der menschlichen Seele“, unter der ideellen Führung von Maxim Gorki. Alle Medien der sowjetischen Massenkultur wurden in den Dienst der psychologischen Umgestaltung des Einzelnen genommen.2

Dieser hehre Mythos rund um den Sowjetmenschen faszinierte nicht wenige der – vor allem jungen – Leute, die oft aus einfachsten bäuerlichen Verhältnissen in diese „neue Gesellschaft“ geworfen wurden und dort soziale Aufstiegschancen fanden.

In der Realität stießen die idealen Züge des Sowjetmenschen mit den Widersprüchen des sowjetischen Alltagslebens der 1920er und 1930er Jahre zusammen. Dies waren beispielsweise die anhaltende materielle Not der sozialen Versorgung und der Wohnverhältnisse, der Zwang zu autoritärer Anpassung an Partei-Instanzen, sowie der Forderung, im „Dienst an der Sache“ allenthalben „Feinde des Sozialismus“ zu suchen und zu denunzieren.3 Faktisch lebte der Sowjetmensch also in zwei Welten, die er durch Double Thinking zusammenhielt: der Fähigkeit, in seiner Lebenswelt zwei entgegengesetzte Erfahrungen und Überzeugungen – Mythos und Realität – miteinander zu vereinbaren.4

Sowjetmensch vs. homo sovieticus (Alexander Sinowjew)

1981 veröffentlichte der Satiriker und Soziologe Alexander Sinowjew in München den Roman Homo Sovieticus, in dem er Aspekte des politischen und alltäglichen Lebens in der Sowjetunion satirisch beleuchtete: Der Sowjetmensch bei Sinowjew ist im Wesentlichen ein willenloser Opportunist. Mit seinem Sarkasmus legte Sinowjew einen Grundstein für den oft anzutreffenden Spott über die Idee des Sowjetmenschen. 

Der Sowjetmensch als Prototyp war ganz der Sache des Kommunismus ergeben – Foto © Kommersant

Diese Deutung drang im Zuge der Perestroika auch in die Sowjetunion. Nahezu gleichzeitig begann die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen. Vor allem Juri Lewada (1930–2006), damaliger Leiter des Umfrageinstituts WZIOM, trieb die Forschungen über den „anthropologischen Idealtypus“ zwischen 1989 und 1991 maßgeblich voran.5

Soziologische Einordnung

Lewada zählte zu den Persönlichkeitsmerkmalen des Sowjetmenschen unter anderem die Vorstellung von eigener Überlegenheit und Einzigartigkeit,6 gesellschaftlicher Gleichheit, Völkerfreundschaft und vom Staat als fürsorglichen Vater. Angesichts des gemeinsamen hehren Ziels – Aufbau des Kommunismus – garantierte der starke Staat die Richtigkeit der Auserwähltheit, er sorgte sich um seine Bürger und vereinte sie zu einer imperialen Ganzheit, die die Grenzen des Ethnischen wegzuwischen suchte.

In diesem idealen Modell waren alle Menschen gleich, alle Ethnien waren Bruder-Völker. Das Propaganda-Bild des kapitalistischen Feindes und die schroffe Ablehnung dieses Feindes hielten das Sowjetvolk nach innen zusammen – und halfen so auch, interethnische Spannungen zu unterbinden.

Um dieses Bild aufrecht zu erhalten, musste der Staat allerdings alle Impulse von außen unterbinden, das Sowjetvolk musste sich selbst isolieren und konnte erst in dieser „erzwungenen Selbstisolation“7 als einzigartig und überlegen aufgehen.

Abgesehen von dieser abstrakten, feindlichen Außenwelt gab es nur den Staat, außerhalb dessen sich der Sowjetmensch nichts vorstellen konnte.

Werteverfall und Identitätskrise

Da die kollektive Identität also aufs Engste mit dem Staat verbunden war, sollte der Zerfall der Sowjetunion auch das Ende des Sowjetmenschen bedeuten. Die Öffnung nach außen mündete in den Verlust des gemeinsamen Feindes, das Innen bröckelte so, dass Wissenschaft und Politik alsbald nahezu einstimmig ein „ideologisches Vakuum“, eine „Identitätskrise“ oder einen „Werteverfall“ konstatierten.

All das, was zuvor Alles bedeutet hatte, wurde ins Gegenteil verkehrt: Aus dem Glauben an den Vater Staat wurde ein Gefühl der sozialen Schutzlosigkeit, aus der Überlegenheit – ein Gefühl des Abgehängtseins, aus der Fiktion der Gleichheit – eine tiefgreifende Fragmentierung der Gesellschaft. Das Brudervolk zerfiel in Ethnien, und mit dem überall erwachenden Nationalismus bezeichneten sich Ende 1989 nur noch knapp ein Viertel der in einer WZIOM-Studie Befragten mit Stolz als Sowjetmensch.8

Der Sowjetmensch der post-sowjetischen Zeit

Folgestudien, die von 1994 bis 2012 durchgeführt wurden, zeigten allerdings, dass das gesellschaftliche Phänomen Sowjetmensch lebendiger ist, als der Staat, der es ins Leben gerufen hatte:9 Sie führten zu dem Ergebnis, dass im neuen Jahrhundert eine neue Generation diesen anthropologischen Idealtypus reproduziert habe. Vor allem solche staatlichen Institutionen wie Armee, Polizei und Geheimdienste, die keiner öffentlichen Kontrolle unterliegen, können sich demnach in großen Teilen der Bevölkerung auf Stereotype und Überzeugungen stützen, die auch schon dem Sowjetmenschen inne waren: autoritärer Staats-Paternalismus, Militarismus und Identifizierung mit dem Großmacht-Status.

So sei der Sowjetmensch auch heute noch höchst lebendig und präge nach wie vor die politische Kultur Russlands,10 meint Lew Gudkow, der als Direktor des 2003 gegründeten Lewada-Zentrums Juri Lewada nachgefolgt ist.


1.Küenzlen, Gottfried (1997): Der Neue Mensch: Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Frankfurt am Main
2.Günter, Hans (1993): Der sozialistische Übermensch: Maksim Gor’kij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart/Weimar
3.Fitzpatrick, Sheila (1999): Everyday Stalinism: Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, New York/Oxford
4.Fitzpatrick, Sheila (2005): Tear off the Masks: Identity and Imposture in Twentieth-Century Russia, Princeton
5.Juri Lewada (1993): Die Sowjetmenschen: 1989 - 1991: Soziogramm eines Zerfalls, München
6.Gudkov, L. D. (2007): „Sovetskij Čelovek“ v sociologii Jurija Levady, in: Obščestvennye nauki i sovremennost' № 6/2007, S. 16-30
7.ebd.
8.Gestwa, Klaus (2013): Der Homo Sovieticus und der Zerfall des Sowjetimperium: Jurij Levadas unliebsame Sozialdiagnosen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10/2013, S. 331-341
9.Gudkov, Lev (2010): Conditions Necessary for the Reproduction of "Soviet Man", in: Sociological Research, Nov-Dez., Bd. 49, 6/2010, S. 50-99
10.Forbes.ru: Lev Gudkov: nadeždy na to, čto s molodym pokoleniem vse izmenitsja, okazalis' našimi illjuzijami

 

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Perestroika

Im engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion.

Gnose

Perestroika: Wirtschaft im Umbruch

In den 1980ern verschlechterte sich die Lage der sowjetischen Planwirtschaft Jahr für Jahr. Als Gorbatschow die Krise ab 1985 durch punktuelle marktwirtschaftliche Reformen überwinden wollte, kam die sozialistische Ökonomie erst recht ins Straucheln.

Gnose

Pionierlager Artek

Das Pionierlager Artek auf der Krim war der Inbegriff der glücklichen sowjetischen Kindheit. 1925 erst als Sanatorium für Tuberkulosevorsorge eröffnet, bestand das Lager nur aus einigen Zelten am Strand, einer Fahnenstange und einem Appellplatz. Bereits in den 30er Jahren wurde es ausgebaut und ist zum Traumland und Wunschziel vieler Generationen von Pionieren geworden. Nach dem Zerfall der UdSSR wurde Artek zum heiligen Gral der Sowjetnostalgie.

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Kommunalka

Eine Kommunalka ist eine Wohnung, die gleichzeitig von mehreren Familien bewohnt wird. Die Wohnform nahm ihren Anfang nach der Revolution von 1917, als große Wohneinheiten wohlhabender Familien auf mehrere Familien aufgeteilt wurden. Anfänglich als Not- und Übergangslösung gedacht, etablierte sich die Kommunalka bald als permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand und soziale Instanz. Seit der Perestroika ist es das große Ziel eines Jeden, diese Wohnform gegen eine Einzelwohnung einzutauschen.

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Tauwetter

Befreiung vom Despoten, zarte Protestkultur und Poeten als Volkshelden: Die Zeit des Tauwetters in den Jahren nach Stalins Tod brachte eine Neudefinition des sowjetischen Lebens. Kultur und Politik erfuhren eine euphorische Phase der Liberalisierung. Doch schon mit der Entmachtung Nikita Chruschtschows setzte eine politische Restaurationsphase ein, die bis zur Perestroika andauern sollte. Heutzutage wird das Tauwetter oft nostalgisch verklärt, unter Historikern ist seine Deutung weiterhin umstritten.

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Leonid Breshnew

Am 19. Dezember vor 115 Jahren ist Leonid Breshnew (1906-1982) als Sohn eines Metallarbeiters geboren.  Von 1964 bis 1982 prägte er als erster Mann im Staat fast zwei Jahrzehnte lang das Geschehen der Sowjetunion. Seine Herrschaft wird einerseits mit einem bescheidenen gesellschaftlichen Wohlstand assoziiert, gleichzeitig jedoch auch als Ära der Stagnation bezeichnet.

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