„Es gibt eine Tradition: Jedes Jahr am 31. Dezember gehe ich mit Freunden in die Banja … und wir baden da“ – so fängt Shenja Lukaschin, Protagonist des Filmes Ironija sudby (dt. Ironie des Schicksals), immer wieder an, seine unglaubliche, aber doch wahre Geschichte zu erklären, die – wie es in einem einführenden Untertitel gleich zu Beginn heißt – so „nur und ausschließlich in der Neujahrsnacht passieren konnte“. Mit Silvester und dem Neujahrsfest ist Ironie des Schicksals auf das Engste verflochten: Nicht nur spielt diese klassische sowjetische Verwechslungskomödie am 31. Dezember, der Film läuft auch traditionell am letzten Tag jedes Jahres im Fernsehen und wurde am Neujahrstag 1976 zum ersten Mal in der UdSSR ausgestrahlt.
Von der Banja, einem russischen Dampfbad, fahren vier Freunde zum Flughafen, weil einer von ihnen zum Silvesterfest nach Leningrad fliegen muss – sie haben schon einiges intus. Während Shenja und Pawlik im Restaurant des Moskauer Flughafens selig vor sich hin dösen, versuchen die zwei anderen sich zu erinnern, wer eigentlich der Reisende sein sollte. „Wir dürfen das nicht dem Zufall überlassen. Wir werden einfach und logisch vorgehen“, sagt einer von ihnen. Die alkoholisierte Logik aber versagt, und es steigt der Falsche in den Flieger.
Weihnachtserzählung
Das Filmsujet erinnert an die Tradition der sogenannten Swjatotschnye rasskasy (zu übersetzen ungefähr als Weihnachtserzählungen), in denen sich der alltägliche Lauf des Lebens durch ein übernatürliches Ereignis um Weihnachten plötzlich und grundlegend ändert (bzw. um den Neujahrstag herum, der in Sowjetrussland viele Attribute von Weihnachten übernommen hat)1. Die moderne, realistische Kunst nutzt anstelle des Wunders entweder die Kraft des Traums oder die des Alkohols. Letzterer sorgt in Ironija Sudby denn auch dafür, dass es letztlich der weggetretene Shenja Lukaschin ist, der am 31. Dezember in Leningrad landet und nicht Pawlik, der eigentlich den Flug hätte antreten sollen.
Wenn man sagt, die Menschen in Russland schauen diesen Film traditionell am Silvesterabend, so stimmt das nur teils: Während der umfangreichen Neujahrsvorbereitungen schaffen nur wenige, den Blick vom Herd oder vom Schneidebrett auf den Fernseher zu richten. Dies ist aber auch nicht notwendig, denn den Text kennt eh jeder auswendig. Bereits die Erstausstrahlung sahen etwa 100 Millionen Menschen – damals nahezu zwei Fünftel der gesamten sowjetischen Bevölkerung. Die Zuschauer waren so begeistert, dass der Film bereits Anfang Februar wiederholt werden musste. Längst sind zahlreiche Zitate zu geflügelten Worten geworden.
Und auch heute noch drücken die Menschen beim Zubereiten von Salaten wie Vinaigrette und Hering im Pelzmantel oder beim Schmücken des Tannenbaums hektisch auf der Fernbedienung herum, um den Sender zu finden, auf dem der Film gerade läuft. Wenn man Glück hat, landet man wenigstens noch in der ersten Hälfte der dreistündigen Verwechslungskomödie. Etwa da, wo der immer noch betrunkene Shenja im Leningrader Flughafen das Taxi nimmt, dem Fahrer das Ziel der Fahrt mitteilt – und dabei seine Moskauer Adresse nennt.
Uniforme Landschaft und Toponymie
Treibende Kraft der Handlung ist die uniforme Landschaft der sowjetischen Randbezirke und ihre stets gleichen Straßennamen. So gibt es im Leningrad des Films, wie auch in Moskau, eine 3. Uliza Stroitelei (dt. 3. Bauarbeiterstraße), einen identischen Plattenbau Nr. 25, und ebenso eine Wohnung mit der Nr. 12 und ähnlicher Möblierung. Und, Wink des Schicksals: Sogar der Schlüssel passt. Der Protagonist kommt in die fremde Wohnung und stürzt sich todmüde ins Bett. Dort findet ihn Nadja Schewelewa – die eigentliche Bewohnerin dieser Leningrader Wohnung – als sie ihr eigenes Neujahrsfest vorbereiten will und auf ihren Verehrer wartet. So balanciert der Film zwischen Satire auf die monotone Wohnarchitektur und zarter zwischenmenschlicher Lyrik: Er macht sich einerseits über die Eintönigkeit des Planbaus lustig, andererseits entsteht gerade aus ihr das Private, Intime und Menschliche, eine Beziehung zwischen Shenja und Nadja.
Rituelle Funktionen
Für viele trägt dieser Film jedes Jahr zu einer festlichen Stimmung bei. Die Handlungen der Protagonisten spiegeln diejenigen der Zuschauer: Beide schmücken den Baum, bereiten das Essen zu, Geschenke werden ausgetauscht. Und zwischendurch geschieht das Wunder, in seiner modernen Form: Die Liebe zweier Fremder, die alles auf den Kopf stellt, die gewohnten Strukturen auflöst – und Raum für eine solche Intimität bietet, die so im Spätsozialismus kaum vorstellbar wäre. Der Zuschauer, in einem ganz ähnlichen Plattenbau, in einer fast identischen Wohnung sitzend, erkennt sich im Filmgeschehen wieder. Kann nun auch diesseits des Bildschirms ein Wunder geschehen?
Sowjetische Menschlichkeit
Dieser Effekt des Wiedererkennens gelingt dank Eldar Rjasanows Filmsprache der sowjetischen Menschlichkeit. Im Gegensatz zu den typischen Situationskomödien der 1930er bis 1950er Jahre, in denen keinerlei Lebensähnlichkeit zu spüren war, betont Rjasanow in seinen Filmen das Lebendige und Realistische, mit dem Menschen im Zentrum.2 Zahlreiche vertraute Alltagsdetails verdeutlichen darüber hinaus, dass es sich um einen privaten Raum handelt, einen Raum des Rückzugs, zum Beispiel wenn Gedichte halb verbotener Schriftsteller rezitiert werden (wie Marina Zwetajewa oder Boris Pasternak).
Wie auch viele andere sowjetische Filme, für die es ähnliche Betrachtungsriten gibt3, schafft Ironie des Schicksals eine gemeinsame visuelle Erfahrung über die Generationen hinweg. Während der Film für jüngere Menschen einen unterhaltsamen Charakter hat und etwas über den kuriosen Alltag der Sowjetmenschen erzählt, wird die ältere Generation beim Zuschauen von nostalgischen Gefühlen ergriffen.
Dabei schöpft Rjasanows Film seine künstlerische Kraft weniger aus der abgebildeten Realität als aus den zahlreichen Details, Symbolen und Anspielungen. Die poetische Doppelbödigkeit offenbart sich schon im verlängerten Filmtitel … ili s legkim parom (auf Deutsch in etwa: … oder: Wünsche, schön geschwitzt zu haben). Mit dem Leitmotiv der Banja wird immer wieder auf unterschiedliche Weise gespielt: Sie ist der Auslöser des großen Missgeschicks, das sich dann als Chance zu einem Neuanfang entpuppt. Sie eröffnet dem Hauptprotagonisten als Motiv der körperlichen und seelischen Reinigung den Weg zu seinem Glück4 – und vielleicht, auf einer Metaebene, auch dem Zuschauer. Und hinter dem Banja-Wunsch s legkim parom verbirgt sich auch der Neujahrswunsch, immer gleich, doch immer wieder verheißungsvoll: S nowym stschastjem – Möge es Glück bringen!
Text: Leonid Klimov
Veröffentlicht am 30.12.2016
„Ironija Sudby“ gibt es hier vom Filmstudio Mosfilm mit englischen Untertiteln
Teil 1
Teil 2
1.Mehr über die Verbindung zwischen dem Film Ironie des Schicksals und der Tradition der Weihnachtserzählungen siehe Lesskis, Irina (2005): Fil’m "Ironija Sud’by...": ot ritualov solidarnosti k poėtike izmenennogo soznanija, in: Novoje literaturnoje obozrenije, Nr. 76
2.Daškova, T. (2008): Granicy privatnogo v sovetskich kinofil’mach do i posle 1956 goda, S. 160-161
3.Es gibt eine Art Film-Kanon für Feiertage. Am Tag des Sieges sind das zum Beispiel A sori sdes tichije oder Letjat Shurawli, am Internationalen Tag der Frau (8. März) ist es zum Beispiel Slushebny roman.
4.Für mehr Informationen siehe Kaspe, Irina (2010): GRANICY SOVETSKOJ ŽIZNI: predstavlenija o "častnom" v izoljacionistskom obščestve, in: Novoje literaturnoje obozrenije, Nr. 101