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Anna Achmatowa

„Und geboren bin ich, wie zu erwarten, in der Johannisnacht, vom 23. auf den 24. Juni, aber es lohnt nicht, darauf besonders hinzuweisen“1, notiert 1957 die bald 70-jährige Anna Achmatowa. Geboren in der geheimnisvollen Midsummer Night, zur slawisch-heidnischen Sonnenwendfeier Iwan-Kupala, so heißt es, nicht weniger aufgeladen, in Varianten. Der Anfangssatz einer nie realisierten Autobiographie ist in seiner doppelbödigen Widersprüchlichkeit charakteristisch für die Poetik des nur auf den ersten Blick Klaren und Einfachen.

Ein Dichten oftmals der kleinen Form, der direkten, dinglichen Sprache und doch im Modus der Andeutung, des Nicht-Zuendesprechens und Verschweigens, damit ist Achmatowa als große Lyrikerin in die Weltliteratur eingegangen. 

Das rhetorische Ablenkungsmanöver rund um die biographische Information enthüllt mehr als es verdeckt. Hier ist von einem Ursprungsmythos die Rede, der im wortreichen Verschweigen die vielversprechende Geburt einer Dichter-Prophetin verkündet. Deren wortkünstlerische und in Achmatowas Deutung hellsichtige Gabe brachte frühen Ruhm. Doch bald darauf folgten Verleumdung, Einsamkeit und erzwungenes Verstummen für viele Jahre.

Rätselhafte Königin der Bohème-Cabarets

Geboren als Anna Andrejewna Gorenko 1889 in Odessa, am 11. Juni alten Stils, und aufgewachsen in Zarskoje Selo, dem Städtchen um die prächtige Sommerresidenz des Zaren, begann sie früh zu dichten. Ihren nom de plume Anna Achmatowa borgte sie sich von der Urgroßmutter, einer angeblich tatarischen Prinzessin aus dem Geschlecht des Khan Achmat.

Zu Beginn der 1910er Jahre die lyrische Entdeckung der Petersburger Literatenkreise, war die rätselhafte Königin der Bohème-Cabarets Streunender Hund und später Rastplatz der Komödianten als 20-Jährige bereits eine Berühmtheit. Sie stand mit ihren Dichterfreunden Ossip Mandelstam, Nikolaj Gumiljow und anderen für die neue Bewegung des Akmeismus (von griech. akme: Gipfel, Höhepunkt, Blütezeit), die dem in die Jahre gekommenen Symbolismus und seinen Verweisen auf die Transzendenz eine Poesie der Dinge, der Diesseitigkeit und der „wunderschönen Klarheit“ (Michail Kuzmin) entgegensetzte.
 
Die frühen Gedichte „nicht über die Liebe“ waren von extremer Kürze und riefen mit ihren punktuell angedeuteten Sujets den Eindruck von Tagebucheinträgen, intimen Beichten, autobiographischen Skizzen hervor.

Wir müssen den Abschied üben.
Schlendern zu zweit herum.
Es dämmert.
Wir gehn im Trüben.
Du grübelst.
Ich bleibe stumm. […]

(Übersetzung: Alexander Nitzberg)2

Aus welchen Unratecken / Unschuldig wachsen Vers und Reim

Diese Art zu Dichten, das Erzählen in Versen auf knappstem Raum mit konkreten Settings, sinnlichen Details (ein auf die linke Hand gezogener rechter Handschuh, eine kalt bleibende Hand auf dem Knie, die wiederkehrende Irisfärbung des „grauäugigen Königs“), ebenso wie die Psychologie der lyrischen Stimmen und die lakonische Sprache fanden umgehend eine große Schar von Nachahmerinnen. In ihrem in den 1960er Jahren zusammengestellten Zyklus Geheimnisse des Handwerks beschreibt Achmatowa die Besonderheit ihrer Poetik selbst mit den Versen:

Ach, wüßtet ihr, aus welchen Unratecken
Unschuldig wachsen Vers und Reim,
Wie gelber Löwenzahn vor wilden Hecken,
Wie Melde wächst am Rain.3

Und sie kommentiert mit einem Vierzeiler die mit dem eigenen Schaffen bereits beantwortete Frage nach einer möglichen Rollenverkehrung von Muse zu Dichterin – durchaus auf mehrdeutige Weise:

Und Beatrice – schuf sie wie Dante Verse?
Berühmte Laura je der Liebe Glut?
Nun lehrte ich die Frauen sprechen …
Wie bringt man sie zum Schweigen, großer Gott?

(Epigramm, 1958; Übersetzung: Rainer Kirsch)4

Allerdings wurde die Lehrmeisterin selbst schon bald zum Schweigen gebracht. 1922 erschien ihr auf viele Jahre letzter Gedichtband. Im Jahr zuvor hatte die neue Macht im Land Nikolaj Gumiljow, den Vater ihres Kindes, wegen angeblicher Beteiligung an der monarchistischen Tanganzew-Verschwörung hingerichtet. Ihre Dichtung war in der Presse als „bourgeois“ und „gestrig“ gebrandmarkt worden. Ein geheimer Parteierlass schloss die Dichterin für Jahrzehnte von allen Veröffentlichungsmöglichkeiten aus. Freunde und Weggenossen verließen das Land oder Schlimmeres. Achmatowa aber blieb und schwieg:

Nein, nicht unter fremden Himmelsweiten,
Nicht schützte mich ein fremdes Flügelpaar, –
Ich war mit meinem Volk in jenen Zeiten,
Dort war ich, wo mein Volk, zum Unglück, war.

(1961, Übersetzung: Elke Erb)5

Requiem

Erst Anfang der 1940er Jahre konnten wieder Verse erscheinen. Die Dichterin trat sogar im Leningrader Radio auf, als die deutschen Truppen die Stadt eingeschlossen hatten. Die Blockade überlebte sie, schwer an Typhus erkrankt, in der Evakuation in Taschkent. Was ihrem Publikum jedoch verborgen blieb, war ihr Rekwijem (dt. Requiem), ein in den Jahren 1935 bis 1940 entstandener Gedichtzyklus über den Terror. Denn als die Not am größten war, man Sohn und Ehemann zum wiederholten Male verhaftete und die stalinistischen Säuberungen ihren Höhepunkt erreichten, hatte Achmatowa in Verse gefasst, was niemand auszusprechen wagte.

Foto © Moisej Nappelbaum/Kommersant Archiv (1922)In voller Länge verschriftlichte Achmatowa diese Gedichte allerdings erst Ende 1962. Die zum Schweigen gezwungene Dichterin vertraute ihre Verse nur dem Gedächtnis der engsten Freunde an und verbrannte das Papier, auf dem sie geschrieben standen, in einem immer wiederkehrenden Ritual. Und auch dann konnten sie als Ganzes nur im Ausland erscheinen. In der Sowjetunion erlaubte man erst 1987, während Glasnost und Perestroika, ihr Requiem unzensiert zu drucken. Denn 1946 hatte die Dichterin erneut der Bannstrahl der Partei getroffen,6 und erst nach Stalins Tod unter Chruschtschow durfte sie in den Literaturbetrieb zurückkehren.

Poem ohne Held

Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie mit der Rekonstruktion verlorener, verbrannter und vergessener Gedichte, der anhaltenden Neuordnung ihrer Zyklen. Sie schrieb an Prosaprojekten, die ihre Interpretation der Geschichte fassen sollten, und schloss ihr großes, um 1940 begonnenes Alterswerk ab, die rätselhafte Versnovelle Poem ohne Held. Erste Auszüge, die von schrecklichen Schatten aus dem letzten Vorkriegsjahr 1913 erzählen, die der Autorin zum Neujahrsfest erscheinen, hatte sie schon 1941 Marina Zwetajewa bei deren Begegnung in Moskau vorgelesen. 
 
Die kommentierte, so Achmatowas Erinnerung, süffisant: „Man muss schon über große Kühnheit verfügen, um im Jahr 41 über Harlekins, Kolombinen und Pierrots zu schreiben.“7 Und doch liegen die Gemeinsamkeiten zwischen 1913 und 1941 auf der Hand, wie erst unlängst Dimitri Bykow hervorgehoben hat, der das Poem ohne Held eine „Prophezeiung“ nennt.8 Denn schon einmal hatte Achmatowa am Vorabend einer historischen Katastrophe, als sich die Menschen noch in trügerischer Sicherheit wiegten, den alltäglichen Torfbränden um die Stadt schrecklichere Weltbrände abgelesen und in ihrem Gedicht Juli 1914 einen Einbeinigen prophezeien lassen:

Schreckenszeiten sind nahe,
Frische Gräber dicht an dicht.
Erwartet Hunger, erwartet Strafen
Und der Sterne verfinstertes Licht.9

(Übersetzung: Birgit Veit)

Mythos „Anna Achmatowa“

Anna Achmatowa war von Anfang ihres Schaffens an zur Legende geworden. In vielen Gedichten, den frühen, wie den späten, in den fragmentarisch überlieferten Prosatexten und dem unvollendet gebliebenen Theaterstück Enuma Elish fügte sie den über sie kursierenden Geschichten, den Erinnerungen der Zeitgenossen und den Konstruktionen ihrer Leserschaft ihre eigenen Lesarten vom Mythos „Anna Achmatowa“ bei. 
 
Denn trotz wiederkehrender Diskreditierungen staatlicherseits, trotz jahrzehntelanger Publikationsverbote und Sippenhaft war und blieb die Dichterin eine lebende Legende: In den 1910er Jahren von den Zeitgenossen in Versen besungen und zuweilen auch parodiert, in Gemälden, Fotografien und Skulpturen verewigt, später in oft quasi-dokumentarischen Memoiren und Romanen gespiegelt und zum fiktionalen Leben wiedererweckt,10 wurde Achmatowa von den Lesern und insbesondere Leserinnen als Heldin der Nicht-Liebe vergöttert. Der Sowjetmacht war sie umso mehr verhasst.

Sie gilt bis heute Vielen neben Marina Zwetajewa als die Verkörperung der russischen Lyrik im 20. Jahrhundert. Man stilisierte sie zur „klagenden Muse“ (Marina Zwetajewa) und „russischen Sappho“, zu Carmen und Maria (Alexander Blok), Kassandra, Mnemosyne. Man schmähte sie „halb Nonne, halb Hure“ (Andrej Shdanow), und setzte die letzte Hoffnung in sie, als es galt, eine Chronistin für das Unaussprechliche der „schrecklichen Jahre des Justizterrors“ zu finden. Man sah in ihr die Gedächtnissängerin, die alle ihre Dichterfreunde und die grausamen Umwälzungen der Epoche überlebte und die Erinnerung daran in ihren Versen bewahrte. 
 
Mit festen Attributen hat sie ihren Platz im kollektiven Gedächtnis nicht nur der russischen Leserschaft: Die junge, hochgewachsene Dichterin mit dem unverwechselbaren Profil, den Stirnfransen à la Parisienne, der Perlenkette, dem Schultertuch und später dann dem schlichten, dunklen Kleid; aber auch die verfemte, dem Vergessen anheim gegebene, und zuletzt die reife Dichterin, die „als Zarin der russischen Literatur“11 an ihrem Lebensende noch einmal im In- und Ausland Anerkennung erfuhr.


zum Weiterlesen:
 
Kusmina, Jelena (1993): Anna Achmatowa: Ein Leben im Unbehausten, aus dem Russischen von Swetlana Geier, Berlin
Naiman, Anatoli (1992): Erzählungen über Anna Achmatowa: Mit einer Einleitung von Joseph Brodsky, aus dem Russischen von Irina Reetz, Frankfurt am Main
Mandelstam, Nadeschda (2011): Erinnerungen an Anna Achmatowa, aus dem Russischen von Christiane Körner und Pavel Polian, Berlin
 
Achmatowa, Anna  (2013): Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne: Liebesgedichte, aus dem Russischen von Alexander Nitzberg, Berlin
Achmatowa, Anna (1994): Im Spiegelland: Ausgewählte Gedichte, herausgegeben von Efim Etkind, München/Zürich
Achmatowa, Anna (1982): Poem ohne Held: Russisch-Deutsch, herausgegeben von Fritz Mierau, Nachdichtungen von Heinz Czechowski, Uwe Grüning, Rainer Kirsch und Sarah Kirsch, Leipzig

1.Notizbücher, S. 448. Eintrag unter dem Titel „Vielleicht wird so meine Autobiografie beginnen“
2.Achmatowa, Anna (2013): Ich lebe aus dem Mond: Liebesgedichte, aus dem Russischen von Alexander Nitzberg, Berlin, S. 58
3.Mne ni k čemu odičeskie rati (21.1.1940). Übersetzung: Ahrndt, Erich (2013): Anna Achmatowa: Unsrer Nichtbegegnung denkend: Gedichte 1911 bis 1964, Leipzig, S. 191
4.Achmatowa, Anna (1958): Poem ohne Held: Späte Gedichte russisch/deutsch, Leipzig, S. 99. „Mogla li Biče, slovno Dant, tvorit’, / Ili Laura žar ljubvi vosslavit'? / Ja naučila ženščin govorit' ... / No, Božе, как ich zamolčat' zastavit'!“ Tajny remesla, 7. Epigramma (1958)
5.Achmatowa, Anna (1958): Poem ohne Held: Späte Gedichte russisch/deutsch, Leipzig, S. 25. „Net! i ne pod čuždym nebosvodom / I ne pod zaščitoj čuždych kryl – / Ja byla togda s moim narodom, / Tam, gde moj narod, k nesčast'ju, byl.“
6.Der Leningrader Parteisekretär Andrej Shdanow eröffnete 1946 mit seiner Rede vor dem Schriftstellerverband über die Zeitschriften Swesda und Leningrad eine öffentlich ausgetragene Hetzkampagne gegen die Künste. In dieser wurde Achmatowa persönlich hervorgehoben und verunglimpft. Es erfolgten ihr Ausschluss aus dem Schriftstellerverband und daraufhin ein erneutes Publikationsverbot.
7.Achmatova, Anna (1989): Poėma bez geroja, herausgegeben von Timenčika, R. D., Moskau, S. 353
8.Bykov, Dmitrij: Poėma bez geroja kak proročestvo: Lekcija ¾: Kurs „Mir Anny Achmatovoj“
9.Deutsche Übersetzung zitiert nach: Buelens, Geert (2014): Europas Dichter und der Erste Weltkrieg, Berlin, S. 53,  „[…] Sroki strašnye blizjatsja. Skoro / Stanet tesno ot svežich mogil. / Ždite glada, i trusa, i mora, / I zatmen'ja nebesnych svetil. [...]“
10.Dalos, György (1996): Der Gast aus der Zukunft: Anna Achmatowa und Sir Isaiah Berlin: Eine Liebesgeschichte, deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla, Hamburg; Kralin,Michail (1990): Artur i Anna, Leningrad; Zenkevič, Michail (1999): Elga: Belletrističeskie memuary, Berlin; Senkewitsch, M. (1999): Elga: Roman, aus dem Russischen von Alexander Nitzberg, Düsseldorf
11.Richter, Hans Werner (1965): „Euterpe von den Ufern der Neva oder die Ehrung Anna Achmatowas in Taormina“, Berlin-Friedenau
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