Mindestens vierfach lebensgroß blickt Wladimir Majakowski als bronzenes Denkmal über das tägliche Treiben zu seinen Füßen. Sechs Jahrzehnte steht er nun schon im Zentrum Moskaus. Alles an ihm zeigt Elan, die Hände, die legeren Hosen, das offene Jackett, bei aller Mächtigkeit – ein lässiger Dichter-Titan, der hier auf ewig bereit scheint, den „Großen Oktober“ zu preisen. Mitte der 1930er Jahre, als Majakowskis posthume Kanonisierung und endgültige staatliche Vereinnahmung ihren Anfang nahm mit Stalins Statement „Majakowski war und bleibt der beste, der begabteste Dichter unserer Sowjetepoche“, hatte man den Platz nach dem Dichter benannt. 1958 dann bekam der zum Klassiker erklärte „Sänger des Kommunismus“, der selbst als radikaler Denkmalstürzer angetreten war, dort sein Standbild.
Der reale Prototyp des Bronzegiganten allerdings war bei Platzbenennung und Denkmalerrichtung längst ohne Mitspracherecht. Schon Monate bevor er unter seine Lebensgeschichte den immer wieder angekündigten „Kugel-Punkt“ setzte,1 hatte der auch international äußerst populäre Kulturbotschafter der jungen Sowjetunion an der Richtung zu zweifeln begonnen, in die sich das von ihm so enthusiastisch begrüßte Gesellschaftsexperiment bewegte. Am 14. April 1930 nahm sich der erst 36-Jährige in Moskau das Leben.
Der „unmarxistische“ Freitod
Der „unmarxistische“ Freitod war nicht das einzige Problem, das der Dichter für die anlaufende stalinistische Propagandamaschinerie Ende der 1920er Jahre darstellte. Schon in den Monaten zuvor hatten die ideologischen Hardliner begonnen, Majakowski den Erfolg, seine Privilegien, seine Frauengeschichten offen zu neiden. Er war nicht länger die Nummer Eins, sondern auf einmal nur ein angeblich ideologisch zweifelhafter Mitläufer. Ins Ausland durfte er schon im Herbst 1929 nicht mehr reisen. Die „Bärtigen“ (Majakowski) hatten ihm ihre Gunst entzogen und seine Ausstellung zum 20-jährigen Werkjubiläum Anfang 1930 ignoriert, mit der er sich noch einmal als treuer Stoßarbeiter auf Parteilinie hatte beweisen wollen.2
Erste Ahnungen möglicher Säuberungen streiften den Dichter. Keine der Geliebten konnte ihm aus der Einsamkeit helfen, und die innere Krise verschärfte sich. Nicht nur der Dichter, auch seine Dichtung war längst in die Kritik geraten. Das Idol der Revolutionsjahre sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, unverständlich für die Massen zu sein, selbst sein Publikum begann ihn anzugreifen. Böse Stimmen wurden laut, die ihm einen mythengeeigneten Freitod nahelegten. Mit den Errungenschaften des Futurismus, für die Majakowski stand, war unter der ab 1927 etablierten Alleinherrschaft Stalins kein neuer Staat mehr zu machen.
Zukunftsstürmer
Dabei hatte die Karriere des Dichters genau damit begonnen: Eine neue, revolutionäre Dichtkunst sollte in eine gerechte, eine sozialistische Zukunft führen! Geboren am 19. Juli 1893 im georgischen Dorf Bagdady, war der 13-jährige Gymnasiast nach dem plötzlichen Tod des Vaters mit Mutter und Schwestern nach Moskau gekommen. 1910 nimmt der junge Rebell erst einmal ein Studium der Malerei auf und trifft unter den Kommilitonen den Maler und Dichter David Burljuk. Über ihn findet er Anschluss an die Moskauer Futuristen-Kreise und wird Mitglied in der „linksten“ der literarischen Gruppierungen, der Gruppe Gileja (Hyläa-Gruppe), deren Kopf Welimir Chlebnikow ist und die David Burljuk organisiert. Sie nennen sich Budetljane (dt. etwa „Zukünftler“) und propagieren in der aktuellen Kampfarena diverser avantgardistischer Richtungen den Kubofuturismus. Ende 1912 gibt die Gruppe den Band Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack heraus, in dem Majakowski sein Debüt als Dichter hat. src="https://www.dekoder.org/sites/default/files/kog_094289_00002_1h.jpg" />
Geschichte sollte der Band vor allem aber mit dem dort abgedruckten, gleichnamigen Manifest machen: Die Kubofuturisten forderten, sich radikal von der literarischen Tradition loszusagen und die Klassiker Puschkin, Dostojewski und Tolstoi vom Dampfer der Gegenwart zu stoßen. Auf deren Platz hatte es in der Folge vor allem einer der jungen Zukunftsstürmer, der Autor der Gedichtsammlung Ich, abgesehen. Dessen erstes Bühnenstück hatte in typischer futuristischer Selbstüberhöhung Wladimir Majakowski geheißen.
Sprache der Straße
In Majakowskis Dichtung kollidiert das Alte mit dem Neuen, das Etablierte mit dem Exkludierten, Worte „kullern“ aus dieser Welt „heraus wie nackte Nutten / aus flammenden Freudenhäusern“ (Wolke in Hosen, Übersetzung: Alexander Nitzberg). Der junge Dichter, der zu Beginn der 1910er Jahre lautstark Furore machte, arbeitete mit dem Sprachmaterial, das auf der Straße lag. Er hörte und sah, er „las“ die moderne Großstadt wie ein Buch (An die Ladenschilder, „Man lese in Büchern vom Stahle!“, Übersetzung: Alexander Nitzberg), allerdings eine vom tödlichen Ende der überkommenen Epoche affizierte Lektüre.
Im Gedicht Einige Worte über mich selbst (1913), das mit dem provokativen Vers einsetzt „Ich liebe es, zu sehn wie Kinder sterben“, ist es ein „Sarg-Buch“ im „Lesesaal der Straßen“, in dem der Dichter das Schreckbild der Stadt des anbrechenden 20. Jahrhunderts entziffert. Reklame, elektrisches Licht, neue Fortbewegungsmittel und andere technische Neuerungen, Geschwindigkeit und Gewalt, der Aufstand der Dinge – das alles inszenieren sprachlich ungewöhnlich, in formal innovativer Vers- und Strophenform, aber vor allem in den unkonventionellen Bildern die frühen Gedichte Majakowskis.
In klitzekleinen Höllchen, noch säugend vom Licht.
Rothaarige Dämonen, bäumten sich die Wagen
Und ballerten Hupen am Ohr ganz dicht.
[…]
In den Brüchen der Hochhäuser mit glühendem Erz
Und eisernen Säulen von Zügen rief
Ein Flugzeug jäh und fiel abwärts,
wo der verwundeten Sonne das Auge auslief.
(Die Hölle der Stadt, 1913, Übersetzung: Alexander Nitzberg)
на крохотные, сосущие светами адки.
Рыжие дьяволы, вздымались автомобили,
над самым ухом взрывая гудки.
[...]
В дырах небоскребов, где горела руда
и железо поездов громоздило лаз —
крикнул аэроплан и упал туда,
где у раненого солнца вытекал глаз.
(Адище города, 1913)
In dieser Hölle hilft auch die Liebe nur für eine gewisse Zeit, und so ist Majakowski im Leben wie in den Gedichten ein großer, aber immer zerrissener Liebender: „Die Liebe ist das Leben, ist das Wesentliche. Aus ihr entfalten sich die Verse, die Taten und alles Übrige. Die Liebe ist das Herz des Ganzen“, notiert er Anfang 1923. Da hatte er in großer Verzweiflung die berühmten Liebespoeme für Lilja Brik verfasst. In ihr wollte er die Liebe wie in einer Bank bewahren, den „Herzklumpen“ zu schwer, um ihn wieder zurückzunehmen, und doch wohnt selbst in der Liebe der Tod immer schon gleich um die Ecke.
will meine Liebe ich predigen,
komm ich auf tausend Straßen gezogen,
und dich mit der zeitlosen Krone entschädigen
drin mein Poem aufzuckt als Regenbogen.
[…]
Weh mir!
jetzt rasch zum nächsten Kanal,
ihm meinen Kopf in den Rachen zu stecken.
(Wirbelsäulenflöte, 1915, Übersetzung: Kurt Drawert)
как апостол во время оно,
по тысяче тысяч разнесу дорог.
Тебе в веках уготована корона,
а в короне слова мои —
радугой судорог.
[…]
Теперь
такая тоска,
что только б добежать до канала
и голову сунуть воде в оскал.
(Флейта позвоночник, 1915)
Am Ende sind es andere aus den „randlosen Reihen meiner Geküssten“, die ihn in die Verzweiflung treiben. Keine aus dem „Dutzend Frauen“, wie er sein nicht realisiertes autobiographisches Romanprojekt nennen wollte, konnte ihm die Familie sein, die er so suchte.3
In der Menge der heulenden Spießbürger
Und immer wieder verspottet der Dichter die Spießbürger, die „Besitzer von Badezimmern und geheizten Klosetten“, die „Weiberhelden, Fresssäcke“, überhaupt die Alltagsroutine, die Norm, die Welt von gestern. Die gewaltige Publikumsbeschimpfung Vam! (dt. Euch!, 1915) klagt die hedonistischen Bohemiens und satten Bürger an, es sich auf Kosten der Soldaten des Ersten Weltkrieges bequem zu machen. Die Zuhörer reagierten erschüttert, die Damen fielen „sogar in Ohnmacht“, wie Anna Achmatowa einen legendären Rezitationsabend im Cabaret Streunender Hund im Februar 1915 erinnert. Nur Majakowski blieb ruhig, während es um ihn schrie und heulte: „[...] unbeweglich rauchte er eine riesige Zigarre … Ja. So habe ich ihn in Erinnerung behalten, sehr gut aussehend, sehr jung, einer mit großen Augen, in der Menge der heulenden Spießbürger“.4
Und immer wieder verspottet der Dichter die Spießbürger, die Alltagsroutine, die Norm, die Welt von Gestern. Wladimir Majakowski als Schauspieler im Film Baryschnja i chuligan (dt. Die Dame und der Hooligan, 1918)
Majakowski selbst lebte alles andere als ein spießbürgerliches Leben. Nachdem man ihn als unzuverlässiges Element nicht hatte in den Krieg ziehen lassen, siedelt der Dichter 1915 in die damalige Hauptstadt Petrograd über, wo er auf Lilja und Ossip Brik trifft, mit denen er eine ungewöhnliche Beziehung eingehen wird. In Ossip Brik findet Majakowski seinen frühen Impressario und Freund. Mit ihm gibt Majakowski Anfang der 1920er Jahre die Zeitschrift LEF heraus. Das Organ der Linken Front der Künste ist eines der wichtigsten der damaligen Zeit, hier erscheint zum ersten Mal Majakowskis großes Poem über die Liebe Pro eto (dt. Darüber, 1923), Alexander Rodtschenkos Fotomontagen werden hier gedruckt, Sergej Eisensteins Theorie der Attraktionsmontage, Isaak Babels Erzählungen über Budjonnys Reiterarmee.
Mindestens so wichtig an der Begegnung mit den Briks aber ist Ossips Ehefrau Lilja. Sie wird für ein Dutzend Jahre die Frau, auf die hin Majakowski sein Leben ausrichtet und der er die meisten seiner Gedichte widmet, ob agitatorische Großdichtung oder intimes Liebesgedicht. Zu dritt leben die Briks und Majakowski zuerst in Leningrad, dann ab 1919 in Moskau und werden mit ihrem freizügigen Beziehungsmodell zum Sinnbild der neuen sozialistischen Moral der frühen 1920er Jahre. Die für eine kurze Zeit öffentlich diskutierte sexuelle Revolution wird allerdings bald von repressiven Modellen abgelöst,5 die aus der freien Liebe eine einzige Liebe für den großen Vater der Völker machten. Enthusiastisch verschrieb sich Majakowski 1917 den revolutionären Ereignissen. Seine Dichtung war von nun an ein Hohelied der Industrialisierung, Staudämme und Fabriken, der neuen Gesellschaftsordnung und ihres Anführers Lenin. Er hatte in seinen Versen seit dem „Roten Oktober“ die Matrosen und andere Revoluzzer weltweit „links, links, links“ marschieren lassen und seine Dichterperson, Lenin und die Sowjetinsignien in vielen tausend Verszeilen hymnisch gepriesen.
Schluß mit dem Zank und Gezauder.
Still da, ihr Redner!
Du
hast das Wort,
rede, Genosse Mauser!
Brecht das Gesetz aus Adams Zeiten.
Gaul Geschichte, du hinkst …
Woll’n den Schinder zu Schanden reiten.
Links!
Links!
Links!
(Linker Marsch, 1918, Übersetzung: Hugo Huppert)
Словесной не место кляузе.
Тише, ораторы!
Ваше
слово,
товарищ маузер.
Довольно жить законом,
данным Адамом и Евой.
Клячу историю загоним.
Левой!
Левой!
Левой!
(Левый марш, 1918)
Um die Massen für das neue Regime zu gewinnen, reist der Dichter durch das Land, gefeiert von Fabrikarbeitern und der Jugend. Zigtausende strömen zu seinen Lesungen. Im revolutionären Agitationskampf macht sich der „Schreihals-Offizier“ (Aus vollem Hals, 1930) zum Sprachrohr dieser Masse, den 150 Millionen, wie im gleichnamigen Poem.
heißt dieser Dichtung Meisterverfasser
Geschoßrhythmus
Reime wie Flammen.
(150 000 000, 1921, Übersetzung: Alfred E. Thoss)
мастера этой поэмы имя.
Пуля — ритм.
Рифма — огонь из здания в здание.
(150 000 000, 1921)
Notiert ist 150 000 000, wie viele Gedichte dieser Periode, in der für Majakowski typischen „Treppen-Form“, die als instrumentierte Partitur den deklamatorischen Duktus samt Pausen und Betonung vorgibt.
Sein graphisches und dichterisches Talent in Kombination stellte Majakowski noch auf andere Weise in den Dienst der Sache. In Moskau begann er 1919 für die Revolutionäre Nachrichtenagentur Sowjetrusslands ROSTA zu arbeiten. Anstelle der Leere in den Auslagen brachte man damals große Plakate in den Schaufenstern der staatlichen Geschäfte an, hergestellt von Hand und mit Hilfe von Schablonen lithographisch vervielfältigt. In Bildergeschichten wurden mit diesen sogenannten ROSTA-Fenstern tagesaktuelle Nachrichten, politische Losungen und die neue Moral unter das in weiten Teilen des Lesens noch unkundige Volk gebracht. Mehr als 3000 solcher comicartiger Panels hat Majakowski gezeichnet und getextet.6 Er definierte damit nicht nur den „revolutionären Stil“ der avantgardistischen Plakatkunst, er stand auch an den Wurzeln der sowjetischen Reklame. Hunderte von Werbesprüchen pro Jahr für staatlich produzierte Artikel wie Nudeln, Autoreifen oder Babyschnuller verfasste er: „Für Magen, Leib und Geist das Drumherum, Du kriegst es bestens alles im GUM“ oder „Gelöst die Weltprobleme, wie Sie’s gern hätten, mit den besten am Ort – Diplomatenzigaretten“.7
Sowjetischer Dandy
Auch sich selbst hat Majakowski von Anfang an zum Markenzeichen gemacht. Als junger Dichter noch war er „Futurist mit der gelben Bluse“, einem auffällig gelb-schwarz gestreiften Blouson, der Schrecken aller auf Etikette erpichten Türsteher im vorrevolutionären Russland gewesen. Lilja Brik hat dem „schönen, finster blickenden jungen Mann mit dem Bass eines Protodiakons und den Fäusten eines Boxers“ (Boris Pasternak) dann nicht nur Zähne verpasst, sondern auch aktiv an seinem Image eines sowjetischen Dandys mitgearbeitet. Und während seine avantgardistischen Mitstreiterinnen Warwara Stepanowa und Ljubow Popowa dabei waren, für den neuen sowjetischen Alltag aus den erhältlichen Materialien ein angemessenes konstruktivistisches Design zu entwerfen, kaufte der Dichter unter Anleitung der ihn umgebenden Frauen seine britischen Wollpullis, teuren Lederschuhe und pastellfarbenen Hemden auf den zahlreichen Auslandsreisen in den Pariser Boutiquen Grande Chaumière, Old England und in Übersee.8
„Auch mir wächst die Agitpropkunst zum Halse heraus …“
Der ästhetische Umstürzler, der Kämpfer gegen Spießbürgertum und Alltagskonventionen, der mit seinem Dichten den Plan des Alltags verwischen wollte, war dabei, sich im Dickicht von Anforderungen, Normen und Bequemlichkeiten eines neuen Establishments zu verlaufen. Schon 1922/23 im Poem Darüber, an dem er nach einem Zerwürfnis mit Lilja Brik über Wochen arbeitete, beschrieb Majakowski die Gefahr, der „Schindmähre Alltag“ zu erliegen:
plattgedrückt, still.
Schneide Phrasen nach dem Radauschnitt zu.
(Darüber, 1923, Übersetzung: Alexander Nitzberg)
расплющился, нем,
фразы крою́ по выкриков выкройке.
(Про это, 1923)
Im letzten seiner Gedichte wird er noch deutlicher werden:
zum Halse
der Agitprop. […]
Ich aber
zügelte
mich,
bin grob
meinem Lied
auf die Kehle getreten.
(Aus vollem Hals, 1930, Übersetzung: Alexander Nitzberg)
агитпроп
в зубах навяз, […]
Но я
себя
смирял,
становясь
на горло
собственной песне.
(Во весь голос, 1930)
Boris Pasternak erklärte sich Majakowskis Freitod aus einer unerträglichen Einsicht: „weil er in sich […] etwas verurteilte, mit dem sich seine Eigenliebe nicht abzufinden vermochte.“9 Und so mag die Verszeile im Abschiedsbrief Majakowskis „das Boot meiner Liebe am Alltag zerschellt“ nicht nur das persönliche Drama meinen, sondern auch das der gescheiterten Utopie und ihres glühenden Verkünders.
Wladimir Majakowskis Stimme:
A wy mogli by (dt. Und könnten Sie?)Posluschajte (dt. Hören sie zu)