Am Anfang war das Wort, und das Wort war Rap. Das etwa 25-minütige Programm Rap von DJ Alexandr Astrow und der Gruppe Tschas Pik (dt. Stoßzeit) gilt als erste russischsprachige Rap-Aufnahme, die 1984 im Nachtclub Kanon in Samara erklang. Musikalisch lehnte es sich stark an Rapper’s delight der US-amerikanischen Gruppe The Sugar Hill Gang (1979) an. Textuell bietet es vor allem eine scherzhafte Reflexion, ob Rap auf Russisch überhaupt möglich ist.
Auch wenn eine Antwort damals alles andere als selbstverständlich war, entwickelte der russische – oder eher russischsprachige – Hip-Hop, im Gegensatz zu der Anpassung an US-amerikanische Formen in den frühen Jahren, allmählich eine eigene stilistische und musikalische Identität. Heutzutage steht er als ein eigenständiges Phänomen und als „dominante Gegenwartskultur“ da, eben auch in erster Linie als kulturelles Gut, das zudem nicht unrentabel ist.
Für die breite Öffentlichkeit wird das allerdings erst 2017 klar. Am 6. August 2017 geraten in einem Battle-Rap zwei russische MCs aneinander. Auf der einen Seite steht Oxxxymiron, einer der bekanntesten und renommiertesten russischen Rapper. Auf der anderen Seite der außerhalb der Szene kaum bekannte Battle-MC Gnoiny (dt. Eitrig) aka Slawa KPSS. Die am 13. August online gestellte Aufzeichnung brach alle Rekorde und verzeichnete elf Millionen Aufrufe in einer Woche, über 37 Millionen bis heute.
Aus dem Underground in die Pop-Kultur
Der Battle wurde bis in die großen Nachrichtenagenturen wie RIA Nowosti wochenlang analysiert, rezensiert und kommentiert. Es ist schon an sich eine Schlagzeile, wenn zehn Prozent der russischen Bevölkerung sich eine Stunde lang elegante verbale Beschimpfungen, a capella vorgetragen, voller vulgärer Ausdrücke, Insider- und kultureller Querreferenzen anschauen. Selbst die, die mit dem Internet „per Sie“ sind, mussten sich mit der „neuen kulturellen Erscheinung“ vertraut machen: „Das Konzept des Rap-Battles war den meisten Russen vor einem Jahr noch unbekannt. Nun ist es praktisch in euer Leben getreten”, schrieb der Kommersant zu Beginn des Jahres.1 So trat der Rap scheinbar plötzlich „aus dem Underground in die Pop-Kultur“ und wurde zum Massenphänomen: die Videoclips erreichen mehrere Millionen Internet-Nutzer, die Rapper füllen die größten Clubs und Konzerthäuser. Das war nicht immer so.
Rap Battle Oxxxymiron VS Slava KPSS from n-ost on Vimeo.
„Ich battle heute nur gegen einen Betäubten, eine graue Ratte“ – Der Battle brach alle Rekorde und verzeichnet bis heute 37 Millionen Aufrufe. Video: Maxim Kireev (Übersetzung) und Eva Famulla (Schnitt und Untertitel) / ostpol.de
Geburt des Raps aus dem Geiste des Tanzes
In den frühen 1980er Jahren gelangten die westlichen Rap-Aufnahmen, wie eben der Welthit Rapper‘s delight der Sugar Hill Gang erstmal als Raubkopien in die Sowjetunion und waren – wie auch Rockmusik und andere westliche Kulturgüter – der sowjetischen Jugend nicht länger vorenthalten.
Zur Subkultur wurde Hip-Hop in der Sowjetunion vor allem über Breakdance. Ausgewählte Szenen in Filmen wie Tanzy na krysche (dt. Tänze auf dem Dach, 1985, Viktor Wolkow) oder Courier (1986, Karen Schachnasarow) inspirierten eine ganze Bewegung an B-Boys und B-Girls. 1985 entstanden in Moskau erste Tanzcrews und im Folgejahr fand in Litauen das erste sowjetische Breakdance-Festival statt.
Auch frühe Rap-Gruppen wie Bad Balance oder MC Lika – die vermeintlich erste russische Rapperin – entstanden aus Tanzgruppen. Musikalisch unterscheiden sie sich auf den ersten Blick wenig von ihren US-amerikanischen Vorbildern. Manche Texte sind gar auf Englisch verfasst. Durch die Annahme US-amerikanischer kultureller Formen zeigen die Künstler ihre Kenntnis von und ihre Anbindung an eine zu der Zeit noch sehr US-amerikanisierte Hip-Hop Kultur, die sie durch Kassetten, Filme und seltener auch live konsumieren.
„Keep it real!“
Der Hip-Hop der Perestroika und des ersten Jahrzehnts nach der Auflösung der UdSSR bot der Jugend neben neuen Ausdrucksformen neue Identifikationsmöglichkeiten und künstlerische Freiheiten. Nicht zuletzt auch über ein gemeinsames Vokabular und Ethos. „Keep it real!“, also sowohl „Sei Hip-Hop“ als auch „Sei Du selbst“, ist ein zentraler Wert in der Hip-Hop Kultur. Für den Rap in Russland bedeutete das einerseits die Aufnahme externer Einflüsse, andererseits aber auch eine tiefe Verankerung im Hier und Jetzt. So hat sich das Genre, stets ein Spiegel seiner unmittelbaren Umgebung, zunehmend differenziert.
Räumlich übt Moskau, das Moloch, an dem es sich zu messen gilt, mit seinen Labels und Konzerthäusern gewiss die größte Anziehungskraft aus. Es zieht zwar viele Rapper in die Hauptstadt, aber Hip-Hop ist keineswegs nur ein Moskauer Phänomen. Bad Balance vertritt Sankt Petersburg, die berühmten Basta und Kasta kommen aus Rostow am Don, Face aus Ufa. Gerappt wird sowohl über Moskauer Hochglanz als auch über panelki (dt. Plattenbauten) in der Provinz. Tatsächlich hat sich die russischsprachige Rap-Landschaft seit den 1990er Jahren erheblich erweitert, bis über die Landesgrenzen hinaus: Nicht wenige der aktuellen Größen im russischsprachigen Rap kommen aus postsowjetischen Staaten wie Kasachstan (Skriptonit) oder Belarus (LSP).
„Ich brauche eine Pille“
Der teils rebellische russische Oldschool-Rap der 1990er Jahre bringt auch manche Tabubrüche mit sich. Der wohl erste Rap-Skandal in Russland entflammte um den Track Seks bes pererywa (dt. Pausenloser Sex) der Gruppe Maltschischnik (dt. Junggesellenabschied). Das Stück war 1991 der wohl erste russische Rap-Hit – und ein Bruch mit der Kultur des Schweigens, die in der Sowjetunion um das Thema Sex herrschte.2 Aus heutiger Perspektive ist der Skandal kaum nachvollziehbar. Die zahlreichen sexuellen Anspielungen in Rap-Texten und Videoclips überraschen kaum und selbst der latente Sexismus einiger Künstler, am besten veranschaulicht durch die häufige Nutzung des Wortes suka (vgl. en. „bitch“), führt kaum zu öffentlichen Debatten.
Nicht nur der Platz des Themas Sex hat sich seit den 1990ern erheblich geändert. Die urbane Rap-Welt an sich wandelte sich im Laufe der Zeit parallel der gesellschaftlichen Stellung der Rapper von einer Underground-Existenz zu einem glamourösen Leben. Wo Delfin „einer der feinsten Dichter der russischen Musikszene“3 noch einen Diler (1996) verkörperte, ein „grässlicher Typ“ in einer makabren Umgebung, so treten Drogen mittlerweile vor allem aus der Perspektive des Konsumenten auf. „In meinem Herz hab ich ein Loch / Ich brauche eine Pille“ – besingt der Minsker Rapper LSP im Track Monetka die „furchteinflößende Leere“, die sich hinter dem Erfolg verbergen kann.
„In meinem Herz hab ich ein Loch / Ich brauche eine Pille“: Drogen treten vor allem aus der Perspektive des Konsumenten auf.
„Poesie aus drei Buchstaben“
„Poschumim, bljad!“ – „Macht verfickt nochmal Lärm“: So beginnt jedes Battle-Rap der größten russischen Battle-Rap-Liga Versus. Nicht nur im russischsprachigen Rap sind Kraftausdrücke sehr verbreitet. Durch die Besonderheiten des Mat, der russischen Vulgärsprache, die sowohl besonders tabuisiert als auch besonders reichhaltig ist, ist die gekonnte Nutzung obszöner Begriffe oftmals Bestandteil der lyrischen Gewandtheit von MCs. „Poesie aus drei Buchstaben“4, betitelt der Ogonjok einen Artikel über Battle-Rap und lässt dabei offen, ob damit Rap oder ein bekannter Mat-Begriff (хуй [chuj], dt. „Schwanz“) gemeint ist. „Derbe Flüche sind die Perle der großen russischen Sprache“, bestätigt auch eine Battle-Line von Oxxxymiron diese Annahme.
„Die russische Kultur hat erneut ihre Elastizität bewiesen – die Möglichkeiten der Sprache sind nicht erschöpft“, kommentiert Ogonjok die „recht originelle, tiefe und figurative Sprache“ des russischen Raps. Tatsächlich hört sich der Rap mancher Interpreten so an, als sei er „nichts weniger als konzeptuelle Poesie“.5 Wo Tschas Pik 1984 die Machbarkeit von russischsprachigem Rap noch in Frage stellte, wird der Rap heute zunehmend als literarisches Genre ernst genommen. So bot die staatliche Nachrichtenagentur TASS vor kurzem ihren Lesern an, Rap-Zeilen von Versen von Wladimir Majakowski zu unterscheiden.6
Auch Oxxxymiron’s letztes Album Gorgorod (2015) kann als ein langes Gedicht wahrgenommen werden. Als solches stand es jedenfalls zu Beginn des Jahres in der Vorauswahl eines angesehenen russischen Literaturpreises.7 Tatsächlich wagt sich Oxxxymiron dabei an ein anderes Format, ein Konzeptalbum, in dem man von Track zu Track den künstlerischen und persönlichen Werdegang eines Schriftstellers in einer antiutopischen fiktiven Stadt verfolgt.
Große Poesie und große Musik
Rap ist natürlich mehr als nur Text. „Oxxxymiron hat allen bewiesen, dass Rap auf Russisch große Poesie sein kann. Skriptonit hat bewiesen, dass er große Musik sein kann“8, stellt Meduza in einer Kritik zwei der einflussreichsten Rapper der vergangenen Jahre gegenüber. Der kasachische Rapper Skriptonit9, bekannt für seinen abgehackten Flow, nutzt seine Stimme nicht nur als Sinnträger, sondern vor allem auch als ein Instrument unter anderen.
Nicht zuletzt durch die technischen Entwicklungen im Hip-Hop und der Übergang von Samples (also Hip-Hop-Musik als Collage) zu eigen gefertigten Beats gewinnt der russischsprachige Rap zunehmend eine eigene musikalische Identität. Auch in Sachen visueller Ästhetik werden neue Akzente gesetzt. So mischt das Video zu Pharaohs Hit Diko, naprimer (dt. Wild, zum Beispiel, 2017) Bling-Bling mit einer Darstellung der Aristokratie aus dem Russland der Zarenzeit.
„Mein bester Freund ist Präsident Putin“
Anders als in den Vereinigten Staaten oder in Frankreich hat sich der Hip-Hop in Russland allerdings kaum als Gegenkultur etabliert, noch wurde er zum Sprachrohr für diskriminierte Minderheiten. Inhaltlich lässt sich der russischsprachige Rap nur schwer in ein politisches und ein unpolitisches Lager einteilen. Überhaupt wird Politik im engeren Sinne von Rappern selten angesprochen. Die Ausnahmen sind selten und sorgen stets für Aufruhr, links wie rechts. Timati steht exemplarisch für einen ausgeprägt regimetreuen Rap und macht aus seiner Nähe zu Präsident Wladimir Putin keinen Hehl: „Mein bester Freund ist Präsident Putin“, tönt gar der Refrain eines seiner Stücke (2015).
„Wenn das Land ein Club ist, entscheidet alles DJ“: Timati macht aus seiner Nähe zu Präsident Wladimir Putin keinen Hehl.
Der in den vergangenen zwei Jahren zunehmend aufsehenerregende Rapper Face, Jahrgang 1997, steht hingegen womöglich für eine politisierte jüngere Generation der Jahrtausendwende. Sein jüngstes Album Puti neispowedimy (dt. Die Wege sind unergründlich) bietet einen höchst kritischen Blick auf den Alltag: „Wir leben weiter und fühlen nicht das Land unter uns“, zitiert er in einem Track in Bezug auf die heutige Situation das fast gleichnamige Gedicht von Ossip Mandelstam, das eine harsche Kritik am Stalin-Regime darstellte.
In der Regel kann man das Verhältnis zwischen Hip-Hop und Regime in Russland hingegen am besten als ein gegenseitiges Ignorieren schildern. So zieht Rap bislang auch nur wenig Aufmerksamkeit der Behörden auf sich und genießt eine relative künstlerische Freiheit.10 Da, wo Rap an die Justiz gerät, ist es den Künstlern teilweise gar dienlich. So erlangte die 2003 von Absolventen der Moskauer Akademischen Kunsthochschule gegründete Gruppe Krowostok (dt. Blutrinne) erst durch das Verbot ihrer Webpräsenz durch ein Gericht 2015 einen weiten Bekanntheitsgrad. Grundlage für das nach einem halben Jahr aufgehobene Urteil war die „Apologie von Gewalt und Drogenkonsum“. Krowostoks Texte zeichnen sich tatsächlich durch eine äußerst ausgeprägte Nutzung von Mat und kriminellem Jargon aus. Sie binden sich damit gekonnt an die Tradition des Blatnoi-Chanson an.
Rentables Geschäft
Die relative Narrenfreiheit von Hip-Hop in Russland hat gewiss auch mit seinen Verbreitungskanälen und Business-Modellen zu tun. Rap verbreitet sich in erster Linie über das Internet und auch die großen Label wie Bastas Gazgolder sind aus dem Hip-Hop heraus entstanden. Im Fernsehen ist Hip-Hop hingegen relativ wenig vertreten. „Fast alle Werbegelder haben sich Stück für Stück vom Fernsehen ins Internet verlagert“, so Basta im Gespräch mit Kommersant.11 Zurzeit werde aktiv in Werbekampagnen und Product-Placement in der Hip-Hop Kultur investiert – so der renommierte Rapper und Hip-Hop-Unternehmer.
So geht die künstlerische Unabhängigkeit des Hip-Hop mit der wirtschaftlichen Eigenständigkeit einher. Auch die große Battle-Rap-Liga Versus finanziert sich über Klickzahlen und Sponsorenverträge. Nach dem Battle zwischen Oxxxymiron und Gnoiny bemerkte eines der Jurymitglieder: „Ich weiß nicht, wer von euren Kämpfen hier was hat, aber das russische YouTube gewinnt auf jeden Fall“.