Musikvideos aus Russland entwickeln sich derzeit zu Exportschlagern. So haben etwa bei den Berlin Music Video Awards 2018 gleich drei Clips aus Russland abgeräumt: Leningrad (Best Music Video & Best Narrative), Aigel (Best Editor) und Little Big (Most Trashy).
2019 stehen Shortparis auf der Nominierungsliste für Best Director – eine 2012 in Sankt Petersburg gegründete Band. Ihr Clip Straschno (Angst) vom letzten Dezember sammelte auf YouTube bislang zwar nur zweieinhalb Millionen Aufrufe, vor allem in sozialen Netzwerken sorgte er aber für großes Aufsehen.
Straschno kam am 12. Dezember 2018 heraus – am Tag der Verfassung der Russischen Föderation. Kurze Zeit später veröffentlichte die Band das Video dazu, wohl zufällig parallel zu einer Reihe von Konzertverboten in Russland. Erst danach gingen Shortparis auf Tournee.
Derzeit spielen sie in Westeuropa, ihr Berliner Konzert am 26. April ist schon seit einigen Wochen ausverkauft. Am 16. September geben Shortparis dort aber ein Zusatzkonzert. dekoder nimmt die Tournee zum Anlass für eine Einordnung ihres viel diskutierten Videos und bringt Zitate aus Meduza sowie dem Musikmagazin Muzstorona.
Kulturen prallen bunt aufeinander, dass es nur so kracht. Die ästhetisierte Performance der Jungs von Shortparis zeigt Wege und Lösungen des Politischen – jenseits von Worten. Shortparis selbst erklären ihr Video auf Meduza so:
Im Verlauf werden Trigger aufgezeigt, schmerzliche Assoziationen, gesellschaftliche Tabus, Ängste: Arabische Schriftzüge, auch wenn damit Wörter wie „Freundschaft” oder „Liebe” geschrieben sind, verbinden sich unweigerlich mit Terrorismus, rasierte Köpfe mit Neonazismus und so weiter.
Aber erhalten bleibt nach diesem Gedankenspiel in der Trockenmasse eines: Der Zustand einer nicht artikulierten, aber wachsenden Alarmiertheit, die allen gemein ist.
Original, 19.12.2018
Mit ihren Clips entlarven Shortparis eine Leerstelle, meint zumindest der Musikkritiker Pjotr Poleschtschuk auf Muzstorona:
Die Gesellschaft, vielmehr das, was sie ausmacht, ist einer irrationalen Angst gleichzusetzen. Die Reaktionen auf die Umwelt sind mittlerweile Gefühlsausbrüche von Zeichen, die Reflektionen und Analysen irgendwo tief unter dem Eis eingemauert haben. Ironischerweise haben Shortparis als eine Art visueller Transformation das Fehlen positiver Transformationen demonstriert.
Original, 27.12.2018
Die Band aus Sankt Petersburg sei „full of revolutionary potential“, befand die britische Musikzeitschrift The Quietus, noch bevor die Fünf Straschno herausbrachten.
Gerade über das revolutionäre Potential von Shortparis sprach man nach der Veröffentlichung des Clips. Genauer gesagt – man rätselte, denn Shortparis arbeiten mit vielschichtigen Symbolen, mit Andeutungen und Anklängen. Was dabei herauskommt, ist mehr Konzeptkunst als Musikvideo:
Bislang spiegeln Post-Punk-Gruppen die Welt als Chaos, das zu nichts Konkretem führt. Shortparis gehen weiter, zeichnen und geben dem Chaos Konturen.
Pjotr Poleschtschuk, Original, 27.12.2018
Eine klare politische Botschaft fehlt in Straschno, dafür ist das Video gespickt mit offensichtlich unvereinbaren Symbolen: Wenn die Protagonisten eine terroristische Gruppierung mimen, die in eine Schule eindringt, kann das als Anspielung auf die Geiselnahme von Beslan verstanden werden, oder auf den Amoklauf von Kertsch im Oktober 2018, bei dem ein College-Student 20 Menschen und schließlich sich selbst erschoss.
Auch die massiven Jugendproteste werden damit assoziiert sowie Pogrome gegen Gastarbajtery. Sehen die Terroristen für viele etwa deshalb wie Neonazis aus? Doch warum ist das Video dann auf Arabisch untertitelt? Und dann auch als Karaoke? Warum diese abrupten Szenenwechsel und die Anklänge an eine brausende Gay-Party?
Solche Widersprüche scheinen Shortparis auch zu leben: Mit dem russischen Jugendschutzgesetz hätten ihre Konzerte im Dezember leichterdings verboten werden können, wie die zahlreicher anderer Musiker auch. Im Februar traten die fünf Männer aus Sankt Petersburg mit Straschno aber in der Late-Night-Show Wetscherni Urgant auf, im Staatssender Erster Kanal. Irgendwie sind sie Underground, gleichzeitig zieren sie aber die Cover von populären Magazinen.
Im Endeffekt liegt bei Shortparis das interessante Paradox nicht im Aufeinanderprallen gegensätzlicher Ästhetik und nicht in der merkwürdigen Verbindung von Avantgarde und Pop. Das Paradox besteht darin, dass Shortparis es schafft, gleichzeitig allem und nichts Konkretem ähnlich zu sein. Denn es ist bekannt, „dass am Genie wundervoll ist, dass es allen ähnelt, ihm aber niemand.” Inwiefern das auf Shortparis zutrifft, wird die Zeit zeigen.
В итоге самый главный парадокс Shortparis открывается не в столкновении противоположной эстетики и не в странном сочетании авангардной и поп музыки. Парадокс в том, что Shortparis умудряются напоминать одновременно всех и никого конкретного. И акцент здесь стоит делать все-таки на второй части предложения. Ведь, как известно, «в гении то прекрасно, что он похож на всех, а на него — никто». Насколько справедливо это в отношении Shortparis – время покажет.
Pjotr Poleschtschuk, Original, 27.12.2018
https://www.youtube.com/watch?v=hiOWxlzOebc
Shortparis covern David Bowie – aus dem Film Leto von Kirill Serebrennikow