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Hetzjagd auf eine Rocklegende

Auf Andrej Makarewitsch und seine Band Maschina Wremeni – ein Urgestein der russischen Rockmusik – konnten sich jahrzehntelang breite Teile der Bevölkerung einigen. 

Das änderte sich im Frühjahr 2014, als Makarewitsch – noch vor der Krim-Angliederung und dem Krieg im Donbass – vor einer „entfesselten Propaganda“ und einem möglichen Krieg mit der Ukraine warnte. Beim Friedensmarsch zeigte er sich mit einem Peace-Symbol und einer Schleife in den ukrainischen Nationalfarben. Wenig später hing im Zentrum Moskaus ein riesiges Banner mit der Aufschrift „Die Fünfte Kolonne“ – dazu die Gesichter von Makarewitsch, Juri Schewtschuk, Boris Nemzow, Alexej Nawalny und Ilja Ponomarjow.

Die Lage spitzte sich weiter zu, als Makarewitsch im August 2014 ein Konzert in der Ukraine gab – in einem dortigen Lager für Geflüchtete aus den umkämpften Donbass-Gebieten. 

Dem Musiker wurde öffentlich „antirussisches“ Handeln vorgeworfen, Politiker sprachen von „Kooperation mit Faschisten“, in staatsnahen Medien erschienen Beiträge und Sendungen wie 13 Freunde der Junta, die Makarewitsch als Volksverräter darstellten, und das Netz füllte sich mit Hasskommentaren über den Musiker.

Die Shitstorms gegen Makarewitsch nehmen auch vier Jahre später kein Ende, wie ein aktueller Vorfall zeigt, in den sogar Außenamtssprecherin Maria Sacharowa involviert ist. Diesen kommentiert Oleg Kaschin auf Republic und fordert: Lasst den Klassiker in Ruhe!

Источник Republic

Bevor ihr jemanden vom Dampfer der Modernität werft, denkt an seine Bedeutung für die Kultur unseres Landes – möglicherweise wiegt sie schwerer als die Worte und Taten, für die ihr ihn bestrafen wollt. 

Natürlich ist es in Zeiten von Harvey Weinstein und Kevin Spacey merkwürdig, das zu sagen. Am nächsten an Weinstein und Spacey dran scheint in unserem Kontext der Abgeordnete Sluzki, doch nein, eine lineare Logik greift hier nicht. Sluzki steht eine Untersuchung in der Staatsduma bevor, aber sonst wohl erstmal nichts; zumindest gibt es bisher keinen Anlass zu sagen, dass alle gegen Sluzki wären. Klar, da sind diese drei Journalistinnen, da sind ein paar ihrer Kollegen, die sogar vor der Duma protestierten oder wie Sergej Dorenko zum Boykott aller Nachrichten mit Sluzki aufriefen.

Hingegen hat Wjatscheslaw Wolodin bereits Partei für den der Belästigung Beschuldigten ergriffen, und Duma-Kollegen, also Leute, die das Disziplinarverfahren gegen Sluzki durchführen werden, äußern sich nicht negativ über ihn. In diesem Sinne ist er von Weinstein offenbar noch meilenweit entfernt. 

Weniger davon entfernt ist Andrej Makarewitsch. Der Vergleich mag weit hergeholt erscheinen, aber im Grunde ist es so: Den Platz, den in westlichen Gesellschaften sexuelle Belästigung einnimmt, besetzt bei uns echter oder (öfter) angeblicher Antipatriotismus.

Die Rolle einer gesellschaftlichen Naturgewalt, die Makarewitsch auf die Unzulässigkeit seiner Worte hinweist, spielen die loyalistische Presse und einige offizielle Personen. Darunter auch Maria Sacharowa vom Außenministerium. Ihren Bemühungen ist es zu verdanken, dass ein beiläufiger Facebook-Kommentar ordentlich eingedampft wurde. Wörtlich hieß es da: „Mir scheint, die staatliche Propaganda hat ein 25. Einzelbild erfunden, das die Menschen wahrhaftig in boshafte Deppen verwandelt“ und daraus wurde dann: „Makarewitsch nannte die Russen boshafte Deppen.“ Ausgerechnet dank jenen, die sich derart ereifern, wurde dieser Satz dermaßen ungeheuerlich und unzumutbar, als hätte Makarewitsch Russland den Krieg erklärt, und nicht nur erklärt, sondern sofort auf Kreml, Christ-Erlöser-Kathedrale und noch auf irgendeinen Kindergarten das Feuer eröffnet.  

Als Zielscheibe staatlicher und staatsnaher Kritik steht Makarewitsch nicht alleine da – die Propaganda fällt in Russland regelmäßig über Leute her, die etwas gesagt haben, was irgendwie daneben war. Das letzte prominente Beispiel war die „Kraft, Unverschämtheit und Grobheit“ des Schauspielers Alexej Serebrjakow [Hauptdarsteller in Leviathandek]. 

Aber das Lieblings-Angriffsobjekt ist Makarewitsch, der die Macht der loyalistischen Missbilligung erstmals 2014 zu spüren bekam, als die Hetzjagd auf ihn begann für seinen Auftritt im Frontgebiet im Donbass, das von den ukrainischen Streitkräften kontrolliert wurde. Innerhalb von vier Jahren wurde Makarewitschs Image durch die Bemühungen von kremltreuen Medien und Aktivisten ernsthaft korrigiert – er ist nicht mehr unser Mick Jagger, kein ehrwürdiges Rock-Urgestein, sondern eher ein moderner Galitsch: für die einen Feind und ausgekochter Anti-Sowok, für die anderen, im Gegenteil, das Gewissen der Nation. In jedem Fall aber vor allem eine politische Figur, die vor einer einfachen Entscheidung steht – entweder durchhalten bis zum Zusammenbruch des Regimes, und dann am Tag der Bestattung der russischen „Himmlischen Hundertschaft“ am Roten Platz irgendwas Trauriges singen oder still und heimlich abziehen und seine Bürger-Lyrik einem immer größer werdenden Exilpublikum präsentieren. Klar ist die zweite Variante ungleich wahrscheinlicher und realistischer als die erste, doch eine dritte gibt es offenbar einfach nicht mehr (obwohl es sie ja gerade noch gab – vor nur zehn Jahren sang Makarewitsch bei der Inauguration Dimitri Medwedews und musste sich gegen Angriffe der liberalen Öffentlichkeit verteidigen).

Es geschieht ein furchtbares Unrecht, wenn das Schicksal eines unbestrittenen Klassikers der heimischen Popmusik formal in die Hände der Jungs von Lenta.ru und der Mädels von NTW gerät. Die Band Maschina Wremeni wird kommenden Frühling fünfzig, mit ihren Songs sind tatsächlich mehrere Generationen aufgewachsen (Nasche obschtscheje detstwo proschlo na odnich bukwarjach/dt. „Wir haben als Kinder alle aus der gleichen Fibel gelernt“). Man kann sie durchaus als einzigartige kulturelle Institution bezeichnen – wenn schon nicht wie das Bolschoi-Theater, so doch mindestens wie das Alexandrow-Ensemble, und eine solche Institution hat in jedem Fall eine sorgsame Behandlung verdient. 

Tun wir doch nicht so, als würden beiläufige Kommentare auf Facebook tatsächlich jemanden kränken. Das sieht mir eher nach dem Testlauf irgendwelcher Medientechnologien aus, nach der Konstruktion eines Skandals aus dem Nichts, einer Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Gut, offenbar braucht ihr solche Experimente, wie man längst erkennen kann, seid ihr ganz versessen auf Informationskriege. Aber was veranlasst euch, gerade mit diesem Menschen zu experimentieren, einem altehrwürdigen Künstler? Wenn er dadurch einen Herzinfarkt erleidet, wie gut schlaft ihr dann noch, wie lebt ihr dann überhaupt weiter?

Man kann darüber diskutieren, ob das Fernsehen seine Zuschauer zu boshaften Deppen macht, aber es steht völlig außer Frage, dass konkret Andrej Makarewitsch einen solchen Umgang nicht verdient, und sich ihm gegenüber so zu verhalten, wie seine Ankläger es tun, ist reinste, destillierte Niedertracht. 
Rein formal ist nicht bekannt, ob diese Niedertracht einen konkreten Autor hat. Sie verteilt sich auf beliebte Online-Publikationen, Boulevardblätter, staatliche Fernsehsender und öffentliche Personen, die es anscheinend nötig haben, Makarewitsch einen Tritt zu versetzen. Aber all diese Medien und all diese Personen eint, dass jeder von ihnen durch einen einzigen Anruf aus dem Kreml zu stoppen wäre.

Sergej Kirijenko, der 1999 beim Wahlbündnis Union der rechten Kräfte (SPS) die Liste anführte, sollte sich daran erinnern, wie während der Wahlkampfes gerade Maschina Wremeni Konzerte zur Unterstützung der SPS gab und in den TV-Wahlspots sang – wahrscheinlich für Geld, aber Kirijenko hat ja dieses Geld investiert, weil er dachte, gerade die Stimme Makarewitschs (und nicht etwa Kobsons) sei imstande, ihm die Stimmen der Wähler zu bringen.

Die russische Gesellschaft und vor allem jener Teil, um den es beim Thema Hetze gegen Makarewitsch geht, befindet sich derzeit nicht in einem Zustand, wo man auf ihre Klugheit und Nachsicht zählen könnte. Daher hätte es keinen Sinn, Makarewitschs Äußerung und ihre Unzulässigkeit inhaltlich zu erörtern – die Wahrheit kommt derzeit oft nicht im Disput ans Licht, sondern in direkten Anweisungen.

So wendet man sich besser direkt an Kirijenko und seine Kollegen: Zeigt Gewissen, gebietet der Jagd auf Makarewitsch Einhalt, und lügt nicht, dass ihr das nicht könnt. 

 

Das Lied „Marionetten“ aus dem Jahr 1974 war in der Sowjetunion verboten. Erst während der Perestroika wurde es auf der Compilation „Zehn Jahre später“ veröffentlicht

 


 


Ende Februar 2014 , direkt nach den Ereignissen auf dem Maidan und noch vor der Angliederung der Krim, äußerte sich Andrej Makarewitsch in einer Kolumne, die auf Snob erschien. Diese Äußerungen bilden den Anfang der Demontage, der der Frontmann der Gruppe Maschina Wremeni laut Oleg Kaschin bis heute ausgesetzt ist und die im obigen Text kommentiert wird.

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Über die Widerwärtigkeit

Ich mache mir Sorgen ob der Ereignisse in der Ukraine. Aber noch mehr Sorgen bereitet mir das, was in diesem Zusammenhang bei uns geschieht. Ich habe schon Eindruck, dass unsere Staatsmacht denkt: Das Land, das Volk – das sind die, die regieren. Wenn ein Herrscher jedoch nicht auf sein Volk hört und er ihm darüber hinaus Gewalt antut, so wird das Volk ihn wegfegen. Insofern hat in der Ukraine eine ganz typische Revolution stattgefunden. Und bei all meiner Abscheu gegenüber Revolutionen, kann ich sie nicht als ungerechtfertigt bezeichnen. Jetzt kann man, soviel man will, mit den Flügeln schlagen oder die aufständischen Bürger als „braune Pest“ bezeichnen – es sieht einfach widerwärtig aus.

An eine solch entfesselte Propaganda und einе solche Menge von Lügen kann ich mich seit den besten Breshnew-Zeiten nicht erinnern. Und das lässt sich auch gar nicht vergleichen: Damals gab es viel weniger Möglichkeiten. Leute, was wollt ihr denn bloß? Ein öffentliches Klima schaffen für den Truppen-Einmarsch in das Gebiet eines souveränen Staates? Die Krim abhacken?

Das Zentralkomitee der KPdSU hatte sich vor der Entsendung von Truppen in die Tschechoslowakei nicht mit dem Volk abgestimmt. Und was war, außer dass sie sich vor der ganzen Welt bloßgestellt haben?
Heute sind dort zwei Länder statt einem. Und was ist mit dem einen und dem anderen? Haben wir ihre Liebe gewonnen? Oder sonst irgendwas?

Es ist ja bereits gelungen, eine ziemlich große Masse von Idioten und Unbelehrbaren mit instabiler Psyche zu Zombies zu machen. Mit der Waffe in der Hand reißen sie sich schon darum, die russischsprachige Bevölkerung zu retten – als hätte sie darum gefleht. Und sie hat es tatsächlich geglaubt. Mensch, ihr Fernsehmacher, was wollt ihr denn bloß? Auf lange Zeit die Völker entzweien, die Seite an Seite leben? Das gelingt euch. Aber wisst ihr auch, wie das endet? Wollt ihr einen Krieg mit der Ukraine? Genau wie mit Abchasien wird das nicht klappen: Die Leute auf dem Maidan sind schon abgehärtet und wissen, wofür sie kämpfen: für ihr Land, für ihre Unabhängigkeit. Und für wen wir? Für Janukowitsch? 

Mensch, Leute, warum habt ihr ihn in Russland versteckt? Ein ehrlicher Mensch wird keine Verbrecher und Diebe decken. Ein Dieb schon. Warum bringt ihr euch vor der Menschheit in Verruf? Ich weiß, es ist euch scheißegal, aber trotzdem?

Natürlich wurden in der Ukraine zahlreiche Dummheiten begangen – mit der russischen Sprache, mit dem Abriss von Denkmälern. Aber es ist unvermeidbar, dass eine Revolution von solchen Dummheiten begleitet wird – eine gespannte Feder entlädt sich  in die Gegenrichtung. Aber danach findet alles seinen Platz – Dummheit kann nicht ewig dauern.

Mensch, Leute, wir müssen mit denen leben. Wie bisher in Nachbarschaft. Und nach Möglichkeit in Freundschaft. Und wie sie leben, das entscheiden sie selber.

Oder habt ihr Lust zu schießen? Es heißt, Patriotismus stärkt und festigt.

Nicht für lange.


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Russische Rockmusik

„Ein fremder Baum, der in unsere Erde gepflanzt wird, kann keine Früchte tragen“1 , so bewertete die Zeitung Komsomolskaja Prawda im Jahr 1982 die Rockband Maschina Wremeni. Dieses Zitat  spiegelt sinnfällig das jahrzehntelange Misstrauen wieder, das das sowjetische Regime gegenüber einheimischen Künstlern empfand, die musikalische Formen oder Ideen aus dem Westen auf russische Bühnen brachten.

Die Rockmusik in der Sowjetunion orientierte sich stark an Vorbildern aus England oder den USA. Allerdings handelte es sich beim russischen Rock, der sich seit den späten 1960er Jahren entwickelte, nicht um eine bloße Nachahmung des Westens. Die politischen Rahmenbedingungen in der Sowjetunion bewirkten, dass Rockmusik von Anfang an einen oppositionellen Charakter hatte.

Künstler und Fans maßen den Texten eine ausgesprochen große Bedeutung bei, in denen sich häufig verschlüsselte kritische Aussagen über die sowjetische Gesellschaft verbargen. Auch in Kleidung und Verhalten bildeten die Rockmusiker einen Gegenentwurf zu dem, was die offizielle sowjetische Musikkultur ausmachte.

Lieferte den Soundtrack einer neuen Zeit – die Gruppe Aquarium / Foto © Dmitriy Konradt

Staat und Partei in der Sowjetunion betrachteten schon seit dem Oktoberumsturz 1917 alles, was an musikalischen Neuerungen aus dem Westen kam, mit ausgeprägtem Misstrauen. Als „Grunzen eines metallenen Schweines“ und „Balzgequake eines riesigen Frosches“ verunglimpfte der Schriftsteller Maxim Gorki etwa den Jazz. Dennoch gelangte – selbst unter Stalin – unablässig westliche Musik in die Sowjetunion. Als Mittler fungierten westliche Radiosender, aber auch sowjetische Diplomaten, die Schallplatten für ihre Kinder aus Westeuropa oder Amerika mitbrachten.

Auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs

Das Jahr 1964 bedeutete nicht nur für Europa eine Zeitenwende. The Beatles dominierten – nach ihrem Durchbruch in Großbritannien und Westeuropa – die amerikanische Hitparade. Ihre auf Schallplatte oder Tonband ins Land geschmuggelte Musik verursachte auch in der Sowjetunion nachhaltige Erweckungserlebnisse. Das „Yeah, yeah, yeah“ aus dem frühen Beatles-Hit She Loves You ertönte als die kommunistischen Funktionäre verschreckender Ruf einer Generation, der auch auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs zu hören war. Da die englischen Top-Gruppen in der Sowjetunion nicht auftreten durften, heimsten Bands große Erfolge ein, die Musik und Auftreten der Briten nachahmten.2

Die Politik der bedingten Duldung ermöglichte in den 1970er Jahren die Existenz von vielen frühen Rockgruppen wie zunächst Maschina Wremeni (dt. „Zeitmaschine“) und später auch der von Boris Grebenschtschikow gegründeten Band Aquarium. Seit den 1970er Jahren verstanden sich viele Rockmusiker als Akteure der Gegenkultur. Während einige Künstler wie Alexander Gradski zumindest im Fernsehen und auf Schallplatte auch Lieder von „offiziellen“ Komponisten sangen, lehnten viele andere die staatlich geförderte Unterhaltungsmusik der sogenannten Estrada ab.

Generation der Hausmeister und Wächter

Die Machthaber missbilligten die Rockmusik nicht allein wegen ihrer musikalischen Form. Besonderen Argwohn erfuhren die Texte, die sich oft kritisch mit den sowjetischen Gegebenheiten auseinandersetzten. Sie würden angeblich „fremde Ideale und Auffassungen“ propagieren, wie es in einer Verordnung des Kulturministeriums hieß. Ohne die Möglichkeit, offizielle Konzerte zu geben oder Schallplatten zu veröffentlichen, mussten sich die Musiker der sogenannten „Generation der Hausmeister und Wächter“ ihren Lebensunterhalt in einfachsten Brotberufen verdienen. Häufig fanden Konzerte – die sogenannten kwartirniki (von kwartira, dt. „Wohnung“) – in heimischen Wohnzimmern statt. Die Alben erschienen als Kassetten im Samisdat und wurden von Gerät zu Gerät weiter überspielt, bis statt der Musik nur noch ein Rauschen zu hören war.

Soundtrack der neuen Zeit

Das äußere Erscheinungsbild der Rockmusiker mit ihren langen Haaren, westlichen Designerjeans und Basketballschuhen erregte das weitere Missfallen der Funktionäre. Die Rockmusik erschien den Jugendlichen im Gegensatz zur offiziellen Musikkultur mit ihren allgegenwärtigen Baritonen authentisch: Sie eröffnete ihnen glaubwürdige emotionale Gegenwelten zum offiziellen sowjetischen Raum. Rockmusik wirkte in der Zeit von Perestroika und Glasnost durchaus systemverändernd: Die Musik von Gruppen wie Aquarium, Kino oder DDT bildete gleichsam den Soundtrack der neuen Zeit. Seit Anfang der 1980er Jahre gab es mit dem Leningrader Rock-Klub sogar eine offizielle – wenngleich streng vom Geheimdienst KGB beobachtete – Institution, die Musikern Auftrittsmöglichkeiten verschaffte.

Für die russische Rockmusik sind die Texte von besonderer Bedeutung. Viele Lieder wie Poworot (dt. „Wendung“) von Maschina Wremeni oder Chotschu peremen! (dt. „Ich will Veränderungen!“) von Kino waren offen gesellschaftskritisch. Die Texte anderer Lieder erschienen melancholisch und unverständlich oder hatten einfache und alltägliche Inhalte. Sie vermittelten den Zuhörern, auch wenn sie nicht prononciert systemkritisch waren, ein Gefühl von Freiheit und begleiteten damit den gesellschaftlichen Umbruch der 1990er Jahre.

Den gegenkulturellen Nimbus hat die Rockmusik heute in Russland wie im Westen längst verloren, auch wenn die seit den 1970er Jahren tätigen Musiker immer noch aktiv sind und junge Musiker, die ein nonkonformistisches Image pflegen, ebenfalls ihr Publikum finden. Längst bedienen sich aber auch Rechts- oder Linksextremisten der musikalischen Ästhetik des Rock. Den Machthabern jagt die Rockmusik keine Angst mehr ein, wenngleich ihre Protagonisten – wie Juri Schewtschuk (DDT) – immer wieder regierungskritisch Stellung beziehen und dafür auch – wie Andrej Makarewitsch (Maschina Wremeni) – bedrohliche Medienkampagnen in Kauf nehmen müssen.


-> Mehr zu russischem Rock in diesem Artikel auf dekoder.


1.Komsomolskaja Prawda: Ragu iz sinej pticy
2.Besonders erfolgreich waren die Pojuščie gitary aus Leningrad, die in den späten 1960er Jahren Stadien füllten. Ihre Musik konnte dabei so gut wie niemand hören, weil die technischen Anlagen nicht annähernd ausreichten, um Stadien zu bespielen. Wichtiger war dem Publikum offenkundig ohnehin das Gefühl, Teil eines Konzerterlebnisses zu sein, das sie für ein oder anderthalb Stunden in eine andere Welt entführte. Zwar kamen die Pojuščie gitary in den offiziellen Medien kaum vor, ihre Musik war aber immerhin nicht verboten, und vereinzelt konnten auch Schallplatten mit Beatmusik erscheinen.
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