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Erste Russische Kunstausstellung in Berlin

„Wir, die wir bis dahin stets nach dem Westen und Paris orientiert waren, sahen plötzlich im Osten eine ganze Generation von neuen Künstlern und Ideen vor uns.“1 So formulierte der deutsche Künstler Hans Richter das Erstaunen, dass die Erste Russische Kunstausstellung unter den westlichen Künstlerkollegen, aber auch bei den zahlreichen interessierten Besuchern auslöste. 
Die Ausstellung wurde am 15. Oktober 1922 in Berlin Unter den Linden in der privaten Galerie van Diemen feierlich eröffnet und gilt aus kunsthistorischer Perspektive zweifellos als eine „Station der Moderne“. Auch in politischer Hinsicht markierte sie eine Zäsur: Organisiert vom Narkompros, dem russischen Volkskommissariat für Bildungswesen, war sie ein frühes Zeugnis für die Aufnahme kultur-diplomatischer Beziehungen zwischen der Weimarer Republik und dem jungen bolschewistischen Russland.
Zur Eröffnung kamen neben modernen Künstlern, deutschen Kommunisten und russischen Émigrés auch politische Würdenträger aus der Russischen Sowjetrepublik und der Weimarer Republik. Die Presse berichtete anerkennend, selten sei eine deutsche Ausstellung auf derart illustre Weise eröffnet worden.2

РУССКАЯ ВЕРСИЯ

 

 

Vom Impressionismus bis zum Suprematismus

Die Ausstellung umspannte die Zeit vom späten Zarenreich bis zu den radikalen Umwälzungen nach der bolschewistischen Revolution von 1917. Diese wohl bewegteste Epoche der russischen Geschichte fiel zusammen mit dem Aufstieg einer künstlerischen Avantgarde, die nun dem westeuropäischen Publikum erstmals in einem breiten Panorama vorgestellt wurde. Besondere Beachtung fanden jene Werke, die unter den neuen Schlagwörtern Suprematismus und Konstruktivismus firmierten. Ihre konsequente Gegenstandlosigkeit, zusammen mit dem – implizierten – politischen Gehalt, setzten Publikum, Presse und die westlichen Künstlerkollegen gleichermaßen in Erstaunen.

An der Ausstellung waren rund 170 Künstler und Künstlerinnen beteiligt, die vornehmlich aus Russland, aber auch aus der Ukraine, Polen, Georgien, Armenien, Lettland oder der Mongolei stammten. Der Katalog, für den El Lissitzky das Cover gestaltet hatte, verzeichnet 594 Nummern – die tatsächliche Anzahl der Exponate lag jedoch deutlich höher. Dazu gehörten Gemälde, Graphiken, Skulpturen, Theaterdekorationen und Plakate sowie eine beachtliche Auswahl an Agitprop-Porzellanen – Teller und Tassen, die mit Hammer und Sichel, dem Konterfei von Lenin und politischen Losungen für die Revolution warben. 

Im Erdgeschoss waren die Werke der Peredwishniki und der russischen Impressionisten präsentiert, die inhaltlich und ästhetisch noch in der Tradition des 19. Jahrhunderts standen. Auch die pre-revolutionäre Avantgarde, die sich in enger Auseinandersetzung mit den künstlerischen Strömungen in Frankreich herausgebildet hatte, war im Parterre zu sehen . 

Im Treppenhaus hingen dagegen großformatige Plakate aus der Zeit des Russischen Bürgerkriegs, darunter eine Gruppe von ROSTA-Fenstern von Wladimir Majakowski, die den Besucher auf das Obergeschoss einstimmten.3 Dort zeigten die Kuratoren der Ausstellung – die Avantgardekünstler David Schterenberg, Naum Gabo und Natan Altman – diejenigen künstlerischen Errungenschaften, die seit 1914 und damit weitestgehend unabhängig von den Entwicklungen in Westeuropa entstanden waren. Dazu gehörten der Suprematismus, mit dem Kasimir Malewitsch zu einer gegenstandslosen Malerei reiner Formen und Farben vorgedrungen war ebenso wie die aus kunstfremden Materialien montierten Konter-Reliefs von Wladimir Tatlin. Hinzu kam die vielfältige Kunstproduktion, die unter dem Eindruck der Russischen Oktoberrevolution entstanden war, darunter vor allem die Werke jener Künstler, die sich unter dem Banner des Konstruktivismus formierten. 

Ein gelungener Coup

Katalog der Kunstausstellung / © gemeinfreiDen Organisatoren war mit der Schau an einer der nobelsten Adressen Berlins ein echter Coup gelungen. Bereits kurz nach der Oktoberrevolution 1917 war unter den politisch engagierten Künstlern in Sowjetrussland die Idee entstanden, durch den Austausch von Ausstellungen in den Dialog zu treten. Getragen vom Geist der Weltrevolution, die sich in Deutschland fortsetzen sollte, verfassten sie einen entsprechenden Aufruf an die deutschen Kollegen, der mit Wassily Kandinsky einen bekannten Befürworter fand. In der Weimarer Republik reagierten zentrale Figuren aus der Kultur, wie der Leiter des Bauhauses in Weimar Walter Gropius, mit Zustimmung. Ludwig Justi, der Direktor der Nationalgalerie, bot sogar das Kronprinzenpalais in Berlin als Ausstellungsort an. 
Die Realisierung einer Ausstellung russischer Kunst in Deutschland scheiterte jedoch zunächst. In der Folge wurde die Idee wieder und wieder aufgegriffen und transformiert. Neue Akteure brachten neue Intentionen ein. Auch auf politischer Ebene wurde der Vorschlag mehrfach adressiert. Der Kommunist Willi Münzenberg, Leiter der deutschen Sektion der Internationalen Arbeiterhilfe, entwickelte schließlich den Plan für eine Verkaufsschau und gewann dafür sogar Lenins Unterstützung. Doch auch dieses Vorhaben wurde mit dem Verweis auf wirtschaftliche Schwierigkeiten noch im Frühjahr 1922 abgesagt.

Dass rund sechs Monate später doch noch eine Ausstellung russischer Kunst in Berlin eröffnet werden konnte, für die nun das Narkompros unter der Leitung von Anatoli Lunatscharski verantwortlich zeichnete, liegt nicht zuletzt an der Initiative der Kunsthandlung van Diemen. Vertreter der Galerie, die eigentlich auf niederländische Alte Meister spezialisiert war, hatten den Verantwortlichen des Narkompros angeboten, die Ausstellung zu „äußerst günstigen Konditionen“ auszurichten,4 – und dass, obwohl sie als karitative Verkaufsschau konzipiert war und der Reinertrag den Opfern der Hungersnot in Russland zukommen sollte.5 Eigens aus Anlass der Ausstellung eröffnete die Galerie van Diemen sogar eine Niederlassung für „Neue Meister“ in dem Stadtpalais aus dem 18. Jahrhundert. 

„Bizarre Russian art show“

In kürzester Zeit stellten Schterenberg und seine Assistenten die Exponate für die Schau zusammen. Dabei konnten sie auf die Bestände des Staatlichen Museumsfonds zurückgreifen, in dessen Besitz sich ein großer Teil der Werke bereits befand. Auf den ersten Blick erscheint es erstaunlich, dass sie sich dabei nicht nur für die Werke der progressiven linksorientierten Künstler entschieden, sondern für eine Zusammenschau von älterer, figurativer Malerei mit den neuesten künstlerischen Experimenten. Dahinter stand die Absicht, durch die dargebotene künstlerische Traditionslinie eine Kontinuität zu behaupten. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung sollte die Schau an Sehgewohnheiten des westlichen Publikums anschließen und damit über das Vehikel der Kunst das Vertrauen in den unbekannten bolschewistischen Staat stärken. Gleichzeitig war es das Ziel der Ausstellungsmacher, den politischen und gesellschaftlichen Fortschritt über die Kunstproduktion der post-revolutionären Zeit zu demonstrieren, weswegen die aktuellen gegenstandlosen Strömungen eine bevorzugte Behandlung erfuhren. 

Der Plan ging auf. So schrieb etwa Max Osborn in seiner Besprechung für die Vossische Zeitung über die Schau: „Sowjetherrschaft bedeutet nicht allenthalben Zerstampfung und Experiment, sondern unter ihr haben die schöpferischen geistigen Kräfte nicht geschlummert. […] Man fühlt den heißen, dunklen Wunsch, in einem Neuaufbau der Formvorstellungen den Neuaufbau der staatlichen und wirtschaftlichen Welt zu deuten.“6 

Osborns Kritik war nur einer von zahllosen Presseberichten, die im Zusammenhang mit der Ersten Russischen Kunstausstellung erschienen. Kunstmagazine, Zeitschriften und Tageszeitungen in der Weimarer Republik, der RSFSR aber auch in den Niederlanden, Frankreich und sogar in den USA berichteten über die „bizarre Russian Art Show“.7 Die vielstimmige Berichterstattung erscheint dabei gleichsam als Seismograph für die Wahrnehmung der Ausstellung in den unterschiedlichen – politischen und intellektuellen – Milieus und bezeugt die gesellschaftliche Relevanz, die das ungewöhnliche Ereignis erfuhr. 

Politischer und diplomatischer Erfolg

Lunatscharski wertete die Schau als einen „politischen Erfolg“ und erklärte in seinem Leitartikel über die Ausstellung in der sowjetischen Tageszeitung Iswestija, selbst die Kritiker hätten einräumen müssen, „dass die Sowjetregierung durch die Organisation dieser Ausstellung ihre diplomatischen Fähigkeiten erneut unter Beweis gestellt habe.“8 So lässt sich das Ereignis auch vor den historischen Geschehnissen vom Frühjahr 1922 lesen, als Vertreter der Weimarer Republik und Sowjetrusslands den Vertrag von Rapallo unterzeichneten. Dieser sah auch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vor – ein wichtiger Schritt für die jungen Staaten, die sich davor weitestgehend in außenpolitischer Isolation befunden hatten. Die Berliner Schau war eines der ersten Signale dieser Annäherung.

Kasimir Malewitsch, Supremus No. 55, 1916 / © gemeinfrei

Die Erste Russische Kunstausstellung ist noch heute, rund 100 Jahre später, Gegenstand der Forschung. Neben ihrem Zustandekommen steht dabei ihr künstlerisches Nachwirken und die Frage nach dem Verbleib der Exponate im Fokus. Nachdem die Schau im Mai 1923 in einer zweiten Station im Amsterdamer Stedelijk Museum gezeigt wurde, gelangten die gezeigten Werke in unterschiedlichste Sammlungen, von New Haven, Paris und Baku bis nach Krasnodar und Tomsk. Aber nicht nur aus kunsthistorischer Perspektive war die russische Ausstellung ein folgenreiches Ereignis. So sendet die Schau von 1922 auch heute noch auf politischer und gesellschaftlicher Ebene das Signal, dass Kunst und Kultur transnationale Brückenbauer sind. Und sie verdeutlicht, dass entgegen der allzu häufig postulierten Unterschiede zwischen Russland und seinen westlichen Nachbarn eine „fühlbare Parallelität“9 besteht, wie sie der damalige Reichskunstwart Edwin Redslob in einem Schreiben an seinen russischen Amtskollegen Lunatscharski in Rückblick auf die Erste Russische Kunstausstellung feststellte.


Zum Weiterlesen
Nisbet, Peter (1983): Some Facts on the Organizational History of the van Diemen Exhibition, in: The 1st Russian Show: A commemoration of the van Diemen Exhibition Berlin 1922, London: Annely Juda Fine Art, 1983, S. 67–72
Lapschin, Wladimir (1985): Die erste Ausstellung russischer Kunst 1922 in Berlin, in: Kunst und Literatur. Sowjetwissenschaften, Berlin, Bd. 33, 4 (1985), S. 552–573
Olbricht, Harald (1987): Galerie van Diemen: Erste Russische Kunstausstellung, in: Kändler, Klaus/Karolewski, Helga/Sieber, Ilse (1987, Hrsg.): Berliner Begegnungen: Ausländische Künstler in Berlin 1918-1933: Aufsätze, Bilder, Dokumente, Berlin, S. 65–73
Adkins, Helen (1988): Erste Russische Kunstausstellung, Berlin 1922, in: Stationen der Moderne: Die bedeutendsten Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Berlin, S. 184–214
Richter, Horst (1988): 1. Russische Kunstausstellung, Berlin 1922, in: Roters, Eberhard (Hrsg.): Stationen der Moderne: Kataloge epochaler Kunstausstellungen in Deutschland: Kommentarband zu den Nachdrucken der zehn Ausstellungskataloge, Köln, S. 95–130
Mansbach, Steven A. (1993): The "First Russian Art Exhibition" or the politics and presentation of propaganda, in: Künstlerischer Austausch: Artistic exchange: Akten des XXVIII. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte, Berlin, S. 307–320
Häßler, Miriam (2021): Moscow Merz and Russian Rhythm: Tracking Vestiges of the Erste Russische Kunstausstellung, Berlin, 1922, in: Experiment: A Journal for Russian Culture, hrsg. von Sebastian Borkhardt, Tanja Malycheva und Isabel Wünsche, Bd. 23, Los Angeles: Brill 2017, S. 117–126
Avtonomova, Natalia (2021): Die Tür zum Westen, in: The Tretyakov Gallery Magazine, Nr. 70 (1 / 2021), S. 200–231

1.Richter, Hans (1967): Begegnungen in Berlin, in: Roters,Eberhard (Hrsg.): Avantgarde Osteuropa 1910 – 1930, Berlin, S. 13–21, hier S. 14 
2.So verweist etwa der Kritiker A. Wi. in der Deutschen Zeitung darauf, dass „nicht jede deutsche Ausstellung [...] in einer derart illustren Weise eröffnet worden“ sei. Wi, A. (1922): Sowjet-Kunst. Ausstellung in der Galerie van Diemen, in: Deutsche Zeitung: Unabhängiges Tageblatt, Bd. 27, Nr. 463 (Morgenausgabe) 17. Oktober 1922 
3.Bei den Rosta-Fenstern handelt es sich um mehrbogige Plakate, die im Auftrag der russischen Nachrichtenagentur ROSTA im Russischen Bürgerkrieg durch Künstlerkollektive mit Schablonen hergestellt wurden. Da sie zunächst in den leeren Schaufenstern von Geschäften ausgehängt wurden, setzte sich für diesen Typ des Künstlerplakats die Bezeichnung „Fenster“ (russ. Okna) durch. Vgl. dazu auch Häßler, Miriam (2014): Politische Künstlerplakate der Russischen Revolution am Beispiel der ROSTA-Fenster, in: Silver Age: Russische Kunst in Wien um 1900, Ausst.-Kat. Belvedere Wien, S. 245–252 
4.Lunatscharski, Anatoli (1922): Russkaja Vystavka v Berline, 1922, in: Izvestija, Nr. 237 (abgedruckt in: ders. (1924): Iskusstvo i Revoljucija, Moskau, S. 177 
5.Als Mitorganisator der Schau trat das „Auslandskomitee zur Organisierung der Arbeiterhilfe für die Hungernden in Rußland“ auf. 
6.Osborn, Max (1922): Russische Ausstellung, in: Vossische Zeitung (Abendausgabe), Berlin, 16. Oktober 1922 
7.So der Titel des Artikels von Flora Turkel für die American Art News; vgl. F. T. [Flora Turkel] (1923): Berlin sees bizarre Russian art show, in: American Art News, Bd. XXI, Nr. 4, 4. 11.1921, New York S. 1 
8.Izvestija, 1922 (1924), S. 177 
9.Edwin Redslob an Anatoli Lunatscharski in einem Schreiben vom 6.9.1923; BArch R32/229/28-30
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