Als Felix Edmundowitsch Dsershinski im Sommer 1926 an der Moskauer Kremlmauer bestattet wird, ehren ihn einige seiner Genossen mit einem besonderen Grabschmuck: Ihr Trauerkranz besteht nicht aus Blumen, sondern aus Gewehren, Handgranaten und Patronen. Nichts passt ihrer Ansicht nach besser zum „eisernen Felix“, dem gefürchteten Begründer der sowjetischen Geheimpolizei Tscheka.
Bis heute wird dieses ungewöhnliche Objekt stolz präsentiert – im Museum des russischen Geheimdienstes FSB in der Lubjanka, wo eine direkte Traditionslinie von Dsershinskis Kampf gegen die „Konterrevolution“ bis in die Gegenwart gezogen wird.
Der Werdegang des 1877 geborenen Felix Dsershinski (poln. Feliks Dzierżyński) war in vielerlei Hinsicht typisch für Berufsrevolutionäre im russischen Imperium. Der Sohn eines verarmten polnischen Adligen stammte aus der Peripherie des Reichs und fand bereits als Schüler Zugang zu sozialistischen Lesezirkeln. Nachdem er wegen „revolutionärer Aktivität“ des Gymnasiums verwiesen worden war, begann sein Aufstieg in der sozialistischen Bewegung – mit all dem, was für Männer und Frauen seines Schlags dazugehörte.1 Dsershinski führte nun das Leben eines Revolutionärs: Er organisierte Streiks, agitierte, konspirierte und wurde binnen weniger Jahre zu einem der wichtigsten polnischen Marxisten; Fraktions- und Richtungskämpfe inklusive. In einem Polizeibericht hieß es über den jungen Mann, „angesichts seiner Ansichten, Überzeugungen und seines Charakters, wird er in der Zukunft sehr gefährlich werden und zu jedem Verbrechen fähig sein“. Immer wieder wurde er verhaftet, verurteilt, verbannt und gefoltert. Die (Gewalt-)Erfahrungen, die er während seiner Haftzeiten machte, hatten seine Gesundheit weitgehend ruiniert und seinen Hass auf die „Bourgeoisie“ nur noch verstärkt. Als Felix Edmundowitsch nach der Februarrevolution 1917 freikam, hatte er insgesamt elf Jahre in Gefängnissen oder in der Verbannung zugebracht; länger als die meisten anderen führenden Bolschewiki.
Beginn des „Roten Terrors”
In den Auseinandersetzungen des Revolutionsjahres unterstützte er Lenins kompromisslose Linie, die schließlich im Umsturz des Oktobers 1917 gipfelte. Kurz darauf wurde ihm die Aufgabe übertragen, die „Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage“ aufzubauen, die sowjetische Geheimpolizei Tscheka.2 Der „zuverlässige proletarische Jakobiner“ Dsershinski übernahm den Auftrag und erklärte: „Glaubt nicht, Genossen, dass ich nach einer Art revolutionsadäquaten Gerechtigkeit suche. Wir können mit ‚Gerechtigkeit‘ nichts anfangen! Wir befinden uns im Krieg, und zwar an der grausamsten aller Fronten, denn der Feind ist maskiert auf dem Vormarsch, und es ist ein Kampf um Leben und Tod! Mein Vorschlag, meine Forderung zielt auf die Bildung eines Organs, das auf revolutionäre und unverkennbar bolschewistische Weise mit den Konterrevolutionären abrechnet!“3
Was Dsershinski hier formulierte, war letztlich das Programm des „Roten Terrors“, mit dem die Tscheka ab dem Frühjahr 1918 das Land überzog. Tatsächliche und vermeintliche Gegner des Regimes wurden ohne Verfahren inhaftiert, enteignet, gefoltert und ermordet. Zehntausende Menschen fielen diesem Terror zum Opfer. Je prekärer sich die militärische Lage für die Bolschewiki im Bürgerkrieg entwickelte, desto brutaler gingen die Tschekisten an der Spitze vor. Dabei konnten sie stets auf die Unterstützung Lenins zählen, der immer wieder radikalste Maßnahmen forderte.
Überall dort, wo die Tschekisten aktiv waren, kam es zu grausamen Taten. Eine der unzähligen furchtbaren Episoden des Terrors hielt die Petersburger Dichterin Sinaida Hippius in ihrem Tagebuch fest: „Neulich erschoß man Professor Boris Nikolski. Sein ganzer Besitz und die kostbare Bibliothek wurden konfisziert. Seine Frau wurde wahnsinnig. Es blieben eine Tochter von achtzehn und ein Sohn von siebzehn Jahren zurück. Dieser Sohn wurde neulich auf den »Wseobutsch« (Behörde für allgemeine Kriegsausbildung) zitiert. Er erschien. Der Kommissar erklärte ihm lachend (so witzig sind diese Kommissare!): »Wissen Sie, wo die Leiches ihres Herrn Papa ist? Wir haben sie an die Tiere verfüttert.«“4
Als der Terror immer weiter eskalierte, versuchten einige führende Bolschewiki dieser dramatischen Entwicklung Einhalt zu gebieten – ausgerechnet als sich Dsershinski im Herbst 1918 für einige Wochen inkognito in der Schweiz aufhielt. Doch Lenin hatte begriffen, dass die Revolution ohne Gewalt zum Scheitern verurteilt war. Deshalb hielt er seine schützende Hand über die Tscheka und ihren Anführer.
Auch wenn viele seiner Männer zu brutalen Exzessen neigten und ihren Gewaltphantasien freien Lauf ließen, erschien der Überzeugungstäter Dsershinski stets beherrscht. Doch gerade seine scheinbare Ruhe wirkte auf viele Beobachter gefährlich. Der britische Diplomat und Agent Bruce Lockhart, der Dsershinski 1918 mehrfach begegnete, beschrieb ihn als „Mann mit korrekten Manieren und ruhiger Sprache, aber ohne einen Funken Humor in seinem Charakter. Das Bemerkenswerteste an ihm waren seine Augen. Tief eingesunken, loderten sie mit einem stetigen Feuer des Fanatismus. Sie zuckten nie. Seine Augenlider schienen gelähmt zu sein“.5
„Bester Freund der Waisenkinder“
Dsershinski erhielt immer weitreichendere Kompetenzen und Aufgaben. Besonders markant – und von erheblicher Bedeutung für seine spätere Bewertung – war dabei sein Engagement als „bester Freund der Waisenkinder“. In der Sowjetunion lebten hunderttausende Kinder auf der Straße die durch Krieg, Revolution, Bürgerkrieg und Hunger entwurzelt waren. Sie mussten versorgt und untergebracht werden. Mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und Methoden organisierte die Tscheka ab Beginn der 1920er Jahre Kinderheime und andere Einrichtungen. Doch ging es dabei nicht nur darum Leid zu lindern, sondern auf diese Weise sollten künftige Verteidiger des Kommunismus herangezogen werden. Der oberste Tschekist formulierte dies so: „Die Sorge um die Kinder ist das beste Mittel um die Konterrevolution auszurotten.“6
Mit den Jahren hatte Dsershinski immer neue Ämter erhalten: Im Frühjahr 1919 wurde er – parallel zu seinen bisherigen Verpflichtungen – zum Volkskommissar des Inneren ernannt, 1921 übernahm er das Amt des Volkskommissars für das Verkehrswesen und ab 1924 leitete er den Obersten Rat für Volkswirtschaft der UdSSR.
Nach dem plötzlichen Tod des „Eisernen“ im Juli 1926 – er war unmittelbar nach einer Rede auf dem ZK-Plenum zusammengebrochen – setzte die Legendenbildung ein. Stalin attestierte ihm, er habe eine „Hand aus Stahl“ gehabt und Majakowski dichtete: „Dem jungen Menschen, der sich am Scheideweg ein Vorbild fürs Leben sucht, dem empfehle ich ohne lange zu überlegen: ‚Lebe dem Genossen Feliks nach!‘“7
Überall in der Sowjetunion wurden Straßen, Orte, Fabriken und Kommunen nach dem Verblichenen benannt und Denkmäler zu seinen Ehren errichtet.8 Im Stalinismus wurde Felix Edmundowitsch als Gründer der sowjetischen Geheimpolizei verehrt und als unerbittlicher Kämpfer gegen die Konterrevolution gefeiert.
Das Denkmal an der Lubjanka
Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow inszenierte Dsershinski hingegen auf andere Weise. In den Jahren des Tauwetters galt er als das tugendhafte Gegenmodell zum exzessiven Terror der Stalinjahre und stand für die Rückbesinnung auf die „wahren“ Werten der Leninschen Revolution. Aus diesem Grund wurde im Dezember 1958 vor der Geheimdienstzentrale Lubjanka eine Statue enthüllt, die schnell zum bekanntesten Abbild des Tscheka-Gründers überhaupt werden sollte. Im Zusammenspiel mit der gelben Fassade des Lubjanka-Gebäudes wurde das Denkmal zu einem markanten – und von vielen Menschen bewusst gemiedenen – Punkt in der Topographie des sowjetischen Moskaus. Er symbolisierte wie kein anderer Ort den umfassenden Zugriff und die permanente Gewaltdrohung des Staates.
Im Zuge der von Michail Gorbatschow initiierten Öffnungspolitik ab Mitte der 1980er Jahre wurde auch die Rolle Dsershinskis als Begründer des sowjetischen Terrorsystems zunehmend kritischer diskutiert. Ein sichtbares Zeichen des neuen Denkens war ein tonnenschwerer Felsbrocken von den Solowezki-Inseln, wo noch unter Dsershinskis Ägide ein Gefangenenlager errichtet worden war, das zum Ausgangspunkt des stalinschen Gulag-Systems wurde. Die Menschenrechtsorganisation Memorial platzierte den Stein im Oktober 1990 vor der Lubjanka – unweit der Dsershinski-Statue. Diese Form der Erinnerungskonkurrenz an Täter und Opfer des Terrors fand im August 1991 ihr Ende. Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch gegen Gorbatschow forderte eine wütende Menge den Sturz des Dsershinski-Denkmals. Doch anstatt die elf Tonnen schwere Skulptur vom Sockel zu reißen, wurde sie sorgfältig demontiert und abtransportiert. Die Statue fand einen neuen Standort im Skulpturengarten nahe der Neuen Tretjakow-Galerie. Bis heute.
Im Vergleich zu Lenin oder Stalin ist Dsershinski im heutigen Russland eher eine historische Randfigur, die von den einen als „eiserner“ Held verehrt, von den anderen hingegen als grausamer Mörder verabscheut wird. Von größerer Bedeutung als der Täter Dsershinski ist denn auch die Debatte um sein Denkmal. Viele Menschen verstanden die ikonischen Bilder der Demontage als Symbol für das Ende der Sowjetunion. Zugleich machte das Ende der Statue deutlich, dass die offene Rebellion gegen den Staat nicht nur denkbar, sondern möglich war. Unter diesen Umständen ist die Frage, was mit der Leerstelle im Herzen Moskaus geschehen soll, hochpolitisch.
Seit drei Jahrzehnten ist der Platz, an dem die Statue gestanden hatte, physisch und symbolisch unbesetzt geblieben. Mehrfach gab es in der Vergangenheit Diskussionen darüber, was mit dem Ort geschehen sollte. War es sinnvoll, das alte Denkmal wieder aufzustellen? Sollte hier besser eine andere Figur der russischen Geschichte gewürdigt werden? Oder aber der Opfer des Kommunismus gedacht werden – wie es hier jedes Jahr am 30. Oktober, dem Gedenktag an die Opfer politischer Repressionen, der Fall ist? Ende Februar 2021 flammte die Debatte erneut auf. Dieses Mal konnten die Moskauer darüber abstimmen, ob Dsershinski auf den angestammten Platz vor der Lubjanka zurückkehren oder ob dort stattdessen ein Denkmal für den russischen Nationalhelden Alexander Newski errichtet werden sollte.9 Doch nach nur zwei Tagen beendete Moskaus Bürgermeister Sobjanin die Abstimmung mit dem Hinweis, es gebe momentan „aktuellere Fragen“.10 Und so bleibt der Platz vor der Geheimdienstzentrale vorerst weiter leer. Im Inneren der Lubjanka ist der „eiserne Felix“ ohnehin zu jeder Zeit traditionsbildend geblieben.