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Historische Presseschau: 20 Jahre Putin

„Ich habe eine Entscheidung getroffen. Lange und schmerzhaft war der Prozess. Heute, am letzten Tag dieses Jahrhunderts, trete ich zurück.“ Diese Worte von Boris Jelzin, ausgestrahlt am 31. Dezember 1999 im russischen Fernsehen, kamen völlig überraschend. Zwar hatte der Ruf des ersten postsowjetischen Präsidenten Russlands durch die Wirtschaftskrise und Korruptionsskandale in den Jahren zuvor stark gelitten, und die Niederlage im Ersten Tschetschenienkrieg wurde ihm genauso angelastet wie die Folgen der wirtschaftlichen Schocktherapie – mit einem vorzeitigen Rücktritt hatte jedoch kaum jemand gerechnet.

Noch am selben Tag übergab Jelzin das Präsidentenamt kommissarisch an Wladimir Putin, der erst im Herbst überraschend zum Premierminister ernannt worden war. Und Putin, nicht Jelzin, hielt um Mitternacht die traditionelle Neujahrsansprache. Dabei kündigte er unter anderem Neuwahlen an für Ende März. Am nächsten Tag garantierte er mit seiner ersten Amtshandlung Jelzin und dessen Familie Immunität vor Strafverfolgung.

In den damaligen Reaktionen auf den Machtwechsel spiegeln sich die Fragen und Hoffnungen jener Tage. Wie ist Jelzins Amtszeit, wie sein vorzeitiger Rücktritt zu bewerten? Wer ist dieser Nachfolger überhaupt und was kann man von ihm erwarten? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte in den russischen Medien.

Источник dekoder

Jelzin übergibt die Macht an Wladimir Putin – symbolisiert durch die goldene Amtskette / Foto © kremlin.ru

Fernsehansprache Boris Jelzins

Um zwölf Uhr mittags verkündet Boris Jelzin seinen Rücktritt vom Amt des Präsidenten. Kurz vor Mitternacht wird das Video in allen Regionen des Landes noch einmal gesendet.

erschienen am 31.12.1999

Echo Moskwy/Boris Nemzow: Würdevoller Abgang

Bereits eine halbe Stunde nach dem Rücktritt äußert sich der einst als Jelzins Kronprinz gehandelte Boris Nemzow auf dem Radiosender Echo Moskwy zum scheidenden Präsidenten und den kommenden politischen Aufgaben:

Deutsch
Original
Erstens waren sowohl Jelzins Amtsantritt als auch seine Amtsniederlegung sehr schön. Als seinen Antritt begreife ich den Moment, in dem er auf den Panzer kletterte und mit seiner ganzen Erscheinung die Freiheit in Russland verteidigte. Und auch der Moment seines Rücktritts wird, denke ich, in die Geschichtsbücher eingehen. Allein deshalb, weil es an der Schwelle zum neuen Jahrtausend geschah, und auch, weil Jelzin außerordentlich offen und aufrichtig war, und auch, weil er es meiner Ansicht nach rechtzeitig tat und gleichzeitig absolut unerwartet. […]

Nun braucht es eine starke Kampagne. Und da kommt mir nur eine Kampagne in den Sinn: der Kampf gegen die Korruption. Und zwar nicht eine Korruptionsbekämpfung im Stile Primakows, wo nur darüber geredet wird, aber nichts geschieht. Sondern eine effektivere Bekämpfung, bei der diejenigen, die tatsächlich viel Schändliches und Gemeines angestellt haben, schnell hinter Gittern landen.

Wenn es Wladimir Putin gelingt, vor den Wahlen wenigstens bei der Bekämpfung dieses Übels Entschlossenheit zu demonstrieren, dann liegen seine Siegeschancen klar bei 100 Prozent.

Во-первых, я считаю, что Ельцин и очень красиво пришел, и очень красиво ушел. Я считаю его приходом момент, когда он забрался на танк и всем своим видом защищал свободу в России. А момент отставки, я думаю, тоже попадет в учебники по истории, уже хотя бы потому, что это на пороге тысячелетий, уже хотя бы потому, что Ельцин был необыкновенно открытым и искренним, и уже потому, что он это сделал вовремя, на мой взгляд, и одновременно, абсолютно неожиданно. (…)

Нужны будут какие-то яркие кампании. Мне в голову приходит только одна кампания, а именно борьба с коррупцией, причем борьба с коррупцией не в стиле Примакова, когда об этом говорится и ничего не делается, [...] а очень эффективная борьба, когда те, которые действительно много натворили всяких гнусностей и гадостей, вдруг оказываются за решеткой. Если Владимиру Владимировичу удастся продемонстрировать хотя бы решимость перед выборами бороться с этим делом, то тогда его шансы просто 100 процентов.

erschienen am 31.12.1999

Radiosender Majak: Putin ist eine antidemokratische Figur

Emil Pain, ehemaliger Jelzin-Berater und schon damals ein bekannter Politikwissenschaftler und Nationalismusforscher, gibt auf Radio Majak eine kritische Prognose zum Interimspräsidenten ab:

Deutsch
Original
Ich meine, dass Putin ganz klar eine antidemokratische Figur ist, ein Anti-Reformer. Er ist ein Traditionalist, ein Sowjetmensch, der unsere Gesellschaft für eine gewisse Zeit mit imperialen Ideen ablenken wird, mit ideologischen Gedanken, und keineswegs mit Ideen, die mit der Wirtschaft zu tun haben.
Я считаю, что ПУТИН как раз фигура антидемократическая, антиреформаторская. Это традиционалист, советский человек, который на какое-то время отвлечет наше общество на идеи имперские, идеи идеологические, а вовсе не на те, которые связаны с экономикой. 

erschienen am 31.12.1999

Neujahrsansprache von Wladimir Putin

Fünf Minuten vor Mitternacht erscheint Wladimir Putin in Millionen russischen Haushalten auf dem Fernsehbildschirm und hält die traditionelle Neujahrsansprache:

erschienen am 31.12.1999

Literaturnaja Gaseta: Der Ruf nach einem starken Mann

Der Philosoph und Politologe Alexander Zipko spricht in der Literaturnaja Gaseta über die Erwartungshaltung vieler Russen an den neuen Präsidenten:

Deutsch
Original
Jelzin hat sich als ein sehr viel verantwortungsbewussterer und gewichtigerer Politiker erwiesen, als seine Gegner dachten. Was Putin angeht, so ist dieser deshalb sein Nachfolger geworden, weil er sämtliche notwendige Eigenschaften hat, um sich maximal an die Bedingungen unserer „Revolution des Apparates“ anzupassen, an die Interessen und Stimmungsschwankungen von Boris Jelzin. […] 

Jelzin hat sowohl durch seine Senilität als auch durch seine gesundheitlichen Probleme und seine Verantwortungslosigkeit die Erwartungen nach einer starken, zentralisierten und entschlossenen Staatsmacht hervorgerufen und geschürt, die mutig und energisch vorgeht.
Die Ära Jelzin, eine Ära der Stagnation und des Auseinanderdriftens der Russischen Föderation, hat das traditionelle Bedürfnis nach einer Einzelherrschaft, nach einer starken Hand des Staates verschärft. Und das Drama besteht darin, dass wir ohne extreme Maßnahmen, etwa im Kampf gegen die Kriminalität oder die Schattenwirtschaft, die derzeitige Staatskrise niemals überwinden werden.

Ельцин оказался куда более ответственным и серьезным политиком, чем предполагали его оппоненты. Что же касается Путина, то он стал наследником именно потому, что имел все необходимые качества, чтобы максимально приспособиться к условиям нашей аппаратной революции, к интересам и сдвигам в настроениях Бориса Николаевича. (...)
Сам Ельцин и своей дряхлостью, и своей болезненностью, и своей безответственностью спровоцировал и обострил ожидание сильной, централизованной и решительной власти, которая будет действовать смело и энергично. Эпоха Ельцина, эпоха стагнации и расползания Российской Федерации обострила традиционную потребность в единоначалии, в крепкой государственной руке. И драма состоит в том, что без чрезвычайных мер, скажем, и по борьбе с преступностью, и по восстановлению контроля над теневой экономикой мы никогда не преодолеем нынешний государственный кризис.

erschienen am 13.01.2000

Izvestia: Die historische Rolle Putins

In der reichweitenstarken Zeitung Izvestia findet die Journalistin Swetlana Babajewa versöhnliche Worte für Jelzin und erklärt Putin zum richtigen Mann für den notwendigen politischen Wandel: 

Deutsch
Original
Er kam auf einer Welle des demokratischen Schulterschlusses in der Gesellschaft an die Macht, als Sieger. Und er schied auf einer Welle politischer Stabilisierung, und sei diese auch nur rein taktisch. Er hat die Gesellschaft zwei Mal um sich geschart (1991 und [durch seinen Rücktritt – dek] 1999), wobei er alles getan hat, was er tun musste. Und er ist abgetreten. Alles Übrige ist nun an denen, die bleiben. […] Er kam als Sieger und geht als Sieger. Er zieht in die Geschichte ein. […]

Wir treten in einen neuen politischen Zyklus ein, der, den vorhergegangenen nach zu urteilen, vier bis acht Jahre andauern wird. […] Putin wird in diesem Zyklus nicht nur subjektiv gebraucht, als „Kaltmacher“, Militär, harter und kompromissloser Politiker. Er wird objektiv gebraucht. Zweifellos wird auch er seine historische Rolle bekommen. Die Rolle eines Heerführers. Als solcher wird er die russische Gesellschaft an die Grenze zum zivilisierten Leben heranführen – und mit ihr gemeinsam diese Grenze überschreiten.

Он пришел к власти на волне демократического сплочения общества, как победитель. Он ушел из нее на волне политической стабилизации, пусть и тактической. Он сплотил общество дважды – в 1991-м и в 1999-м, сделав все, что должен был. И ушел. Остальное – остающимся. (…) 

Он пришел победителем и уходит победителем. Уходит в историю. (...)

Мы входим в новый политический цикл, который, судя по прежним виткам, продлится от 4 до 8 лет. (…)

Путин востребован в этом цикле не только субъективно – как "мочитель", военный, жесткий и бескомпромиссный политик. Он востребован объективно. У него – нет сомнений – тоже будет своя историческая роль. Роль полководца. Он должен будет подвести российское общество к границе цивилизованной жизни. И перейти вместе с ним эту границу.

erschienen am 05.01.2000

Izvestia: Wer ist der neue Präsident?

Dieselbe Autorin kommt in einem weiteren Izvestia-Artikel jedoch nicht umhin einzugestehen, dass über den künftig mächtigsten Mann im Staate kaum etwas bekannt ist:

Deutsch
Original
Die Mehrheit der Bürger Russlands weiß in Wirklichkeit nichts über ihn, und – was das Interessante ist – das ist für sie auch gar nicht notwendig. Dem Volk reicht es, dass er „hart, ehrlich und prinzipienfest“ ist.

Also: Der amtierende Präsident Russlands ist 47 Jahre alt, ist Leningrader, Geheimdienstler, Tschekist. Putins ehemalige Kollegen vom Geheimdienst hatten im Herbst gesagt: „Ihr werdet ihn noch kennenlernen – dieser harte, zynische und ehrgeizige Mensch wird sich schon noch zeigen“. […]

Eine Diskussion, ob es nun gut oder schlecht ist, fünf vor Mitternacht einen Präsidenten mit diesen Eigenschaften zu bekommen, ist sinnlos. Das Volk bekommt die Herrscher, die es verdient. Jetzt braucht es einen solchen. Und ein solcher wird er auch sein.

Большинство российских граждан действительно не знает о нем ничего, и, что любопытно, им это и не надо. Для народа достаточно того, что он "жесткий, честный и принципиальный".

Итак, исполняющему обязанности президента России 47 лет, он ленинградец, разведчик, чекист. Бывшие коллеги Путина по спецслужбам осенью говорили: "Вы его еще узнаете – этот жесткий, циничный и честолюбивый человек еще себя покажет". (…)

Плохо или хорошо получить без пяти минут президента с такими качествами – обсуждать бессмысленно. Народ получает тех правителей, которых он заслуживает. Сейчас нужен такой. Такой ему и будет.

erschienen am 05.01.2000

Sowetskaja Rossija: Um eine Wahl betrogen

In Sowetskaja Rossija, Organ der kommunistischen Opposition, beklagt Wassili Safrontschuk die Art und Weise der Machtübergabe und mutmaßt, warum Jelzin gerade Putin als Nachfolger auserkoren hat:

Deutsch
Original
Formal wurde die Machtübergabe gemäß Recht und Verfassung gestaltet. Doch wo, in welchem demokratischen Land hat man erlebt, dass die Macht vom amtierenden Präsidenten an ein neues Staatsoberhaupt nicht durch den Willen des Volkes übergeben wird, sondern durch die Entscheidung des Präsidenten?! Es heißt, das sei im Einklang mit der Verfassung Russlands. Dabei demonstriert es ein weiteres Mal den undemokratischen, gegen das Volk gerichteten Charakter der Jelzinschen Verfassung. […]

Wie ist diese plötzliche Entscheidung zu erklären? Einige Beobachter nehmen an, dass Jelzin in den letzten Jahren auf Drängen des Westens und russischer Oligarchen fieberhaft nach einem Nachfolger für sich gesucht hat, der einerseits die Beibehaltung des gegenwärtigen kriminellen pseudomarktwirtschaftlichen Regimes gewährleisten und andererseits Jelzin und seiner Familie Immunität garantieren würde. Einen solchen Nachfolger hat er schließlich in Putin gefunden.

Формально эта передача власти была обставлена по всем канонам законности и конституционности. Но где, в какой демократической стране видано, чтобы власть передавалась действующим президентом новому главе государства не волей народа, а решением президента?! Говорят, что это соответствует нормам российской конституции. Но это лишний раз демонстрирует недемократический,mантинародный характер ельцинской конституции. (…)

Чем же объяснить это внезапное решение? Некоторые наблюдатели полагают, что в последние годы Ельцин по настоянию Запада и российских олигархов лихорадочно искал себе преемника, который, с одной стороны, обеспечивал бы сохранение нынешнего криминального псевдорыночного режима, а с другой стороны, дал бы гарантии неприкосновенности Ельцину и его семье. Такого преемника он в конце концов нашел в лице Путина.

erschienen am 05.01.2000

Novaya Gazeta: Unser neuer russischer Pinochet

Journalistin Yevgenia Albats wirft Jelzin in der Novaya Gazeta vor, seinen Platz in den Geschichtsbüchern über demokratische Prinzipien gestellt zu haben. Und erinnert die Leser daran, dem neuen Präsidenten genau auf die Finger zu schauen:

Deutsch
Original
Jelzin will in die Geschichte eingehen als erster russischer Souverän […], der selbst, aus eigenem Willen heraus, die Macht abgab. […] Er selbst, er hat das beschlossen und das Zepter übergeben. Das ist eine Tat. Das verdient Respekt.

Hätte Jelzin allerdings nicht an sich und seinen Platz in der Geschichte gedacht, sondern an das Land und daran, die demokratischen Traditionen hier zu festigen, dann hätte er bis [zur Wahl im – dek] Juni durchhalten müssen – mit Tabletten, Spritzen, Geräten, ganz egal, wie –, damit die Macht auf dem Wege direkter Wahlen, bei denen es Alternativen gibt, an einen Nachfolger übergeht. Jelzin hat jedoch keinen demokratischen, sondern einen monarchischen Präzedenzfall geschaffen. Er hat Kraft seines monarchischen Willens, der allein dem Allmächtigen verantwortlich ist, die Macht an seinen Nachfolger übergeben. Es liegt auf der Hand, dass die [vorgezogenen – dek] Wahlen im März von rein ritueller Bedeutung sein werden. […]

Was für ein Präsident Wladimir Putin auch werden mag, eines ist klar, nämlich dass im März – und im Grunde schon jetzt – die Regeln des innen- und außenpolitischen Spiels Russlands für die kommenden vier, wenn nicht sogar acht Jahre, geändert werden.

Für uns ist die Situation etwas komplizierter. Wir müssen erst noch rauskriegen, ob unser neuer russischer Pinochet ein guter oder ein böser sein wird. Das wird übrigens auch von uns abhängen. Er wird die Art Präsident sein, die wir zulassen.

Ельцин хочет остаться в истории первым российским сувереном (...) который сам, своей волей передал власть. (…)

Сам, сам решил и отдал скипетр. Это – поступок. Это заслуживает уважения. Хотя если бы Ельцин думал не о себе и своем месте в истории, а о стране и укреплении в оной демократических традиций, он обязан был бы дотянуть – на таблетках, на уколах, на аппаратах, как угодно – до июня, чтобы власть перешла к преемнику путем прямых и альтернативных выборов. Ельцин же создал не демократический – монархический прецедент: он монаршей волей, подотчетной лишь всевышнему, передал власть преемнику. Очевидно, что выборы в марте будут иметь чисто ритуальное значение. (…)

Каким бы президентом ни оказался Владимир Путин, очевидно, что в марте – а по сути дела уже сейчас – будут переделаны правила российской внутренней и внешнеполитической игры на ближайшие четыре, если не все восемь, лет. Несколько сложнее ситуация с нами. Нам еще только предстоит узнать, будет ли наш российский Пиночет злым или будет он добрым. Впрочем, это зависит и от нас. Каким мы позволим ему быть, таким он и будет.

erschienen am 10.01.2000

Prawda: Wieder ein Oberst an der Staatsspitze

In der Prawda, der Parteizeitung der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, fühlt sich Journalist Jewgeni Spechow an einen anderen Amtsantritt erinnert:

Deutsch
Original
An der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte Oberst Nikolaj Romanow, bekannt als Zar Nikolaus II., das Amt des Herrschers Russlands angetreten. An der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert wurde der Oberst Wladimir Putin zum Interimspräsidenten Russlands ernannt. Ein Treppenwitz der Geschichte? 
На исходе XIX и в начале XX века на пост правителя России заступил полковник Николай Романов, известный как Николай II. В конце XX и на пороге XXI века исполняющим обязанности президента назначен полковник Владимир Путин. Гримаса истории?

erschienen am 06.01.2000

Übersetzung: Hartmut Schröder
Zusammenstellung und begleitende Texte: dekoder-Redaktion

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Gnose

Die Wilden 1990er

Das Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war von tiefgreifenden Umbrüchen gezeichnet, aufgrund derer es in das kollektive Gedächtnis als die wilden 1990er eingegangen ist. Mit dem Begriff werden weniger die neu erlangten Freiheiten, sondern eher negative Erscheinungen wie Armut und Kriminalität assoziiert.

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Wlast

Sevilla im 16. Jahrhundert, die Inquisition wütet, Scheiterhaufen lodern, das Mittelalter ist in seiner dunkelsten Phase. Unvermittelt taucht Jesus auf, alle erkennen ihn, auch der Großinquisitor. Dieser sagt: Die Kirche braucht Jesus nicht mehr, sie hat seine Tat „verbessert“ und die allumfassende Herrschaft des Klerus auf drei Kräften aufgebaut – Wunder, Geheimnis, Autorität. Jesus schweigt. 

In dieser Sequenz aus Die Brüder Karamasow setzt sich Dostojewski mit dem Begriff Wlast auseinander. Mit der Triade Wunder, Geheimnis, Autorität definiert er die Voraussetzungen für das damalige Verständnis von Herrschaft.

Auch heute gehört Wlast zu den abstraktesten Begriffen im Russischen. Zugleich ist sie aber zentral im politischen Diskurs Russlands. Wlast kann sowohl den Macht- und Herrschaftsbegriff umfassen, als auch die Staatsmacht, die Regierung, Behörden, Oligarchen oder einfach irgendeine Obrigkeit – mit entsprechenden Schwierigkeiten bei der Übersetzung in andere Sprachen. Je nach Interpretation kann Wlast außerdem ganz unterschiedliche Bedeutungsinhalte haben: Von der personifizierten Staatsmacht Putins, über die Anonymität und Unsichtbarkeit der Macht, wie man es etwa bei Kafka kennt, bis hin zum Orwellschen Unterdrückungsapparat.

Wunder, Geheimnis, Autorität – der Begriff „Wlast“ wird im russischen Sprachgebrauch mitunter sakralisiertLeviathan – so beschreiben viele Beobachter das Herrschaftssystem des gegenwärtigen Russlands. Gemeint ist ein absolutistischer Staat, wie ihn der politische Philosoph Thomas Hobbes in seinem gleichnamigen Hauptwerk beschreibt. Die Macht des Souveräns ist hier uneingeschränkt, alle Menschen müssen sich ihr unterwerfen. Die Staatsmacht bei Hobbes ist allerdings auch zuständig für den Schutz der Bürger, in Russland dagegen werfen ihr viele Kritiker vor, Gegensätzliches zu tun: Sie verhalte sich oft wie ein Verbrecher, meint beispielsweise der Kulturwissenschaftler Boris Paramonow.1

Auch der bekannte russische Regisseur Andrej Swjaginzew weist mit seinem preisgekrönten Film Leviathan auf den verbrecherischen Aspekt der Wlast hin. Der Protagonist lehnt sich hier zwar gegen die Wlast auf, zeigt sich am Ende aber ohnmächtig. Alles bleibt scheinbar beim Alten: Die Macht des Stärkeren siegt, und „das Volk bleibt stumm“.

„Das Volk bleibt stumm“

Dieser oft zitierte Schlusssatz stammt aus Alexander Puschkins Drama Boris Godunow aus dem 19. Jahrhundert. Der Begriff Wlast hat sich über Generationen in seiner Bedeutung geformt und verstetigt. Heute repräsentiert er sowohl im kremlnahen Diskurs als auch für viele Kulturkritiker eine wichtige Eigenschaft des Staat-Bürger-Verhältnisses in Russland. Demnach ist Wlast eine Einbahnstraße: Die Machthaber haben sie, die Bürger sind apolitisch, sie sind wie bei Puschkin eine „schweigende Mehrheit“.2

Stimmt also das gängige kulturalistische Klischee, dass in Russland schon immer eine Untertanenmentalität geherrscht habe? Wohl kaum. Das Schweigen während der Zarenzeit und in der Sowjetunion entsprang der eigenen Angst, es kam durch Unterdrückung zustande. Das Schweigen heute erklärt sich auch aus dem sogenannten Gesellschaftsvertrag: Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein, so die verkürzte Version dieses theoretischen Modells. 

Historismus und Historiosophie

Wie ist es zu erklären, dass viele Wissenschaftler den Grundstein für diesen Gesellschaftsvertrag in den 1990er Jahren verorten? Ähnlich wie in der Weimarer Republik oder im postfranquistischen Spanien wurde im damaligen Russland eine gesamtgesellschaftliche Orientierungslosigkeit diagnostiziert. Der Zusammenbruch des Kommunismus führte demnach zu einem „Werte-Vakuum“, beziehungsweise zu einer „Identitätskrise“ oder eben einem „Weimar-Syndrom“.3

Kann eine ganze Gesellschaft tatsächlich in eine „Identitätskrise“ geraten? Schwer vorstellbar, zumindest kann man das nicht wissenschaftlich nachweisen. Trotz dieser Unzulänglichkeit schien kaum ein Wissenschaftler in Russland an dem „Werte-Vakuum“ der 1990er Jahre zu zweifeln. Und auch die Folge war für viele klar: Das Vakuum müsse mit neuen Werten gefüllt werden. Dabei suggerierten manche Sinnangebote, dass diese Werte nur in Russlands Vergangenheit gefunden werden können. 

Tatsächlich erlebte Russland in den 1990er Jahren einen regelrechten Nachfrageboom nach allem Historischen. Viele neue Bücher kamen heraus, Auflagen schnellten in die Höhe, sodass manche Wissenschaftler schon von einem umfassenden Historismus sprachen.4 Der russische Historiker Alexej Miller konstatiert, dass dabei die Historiosophie zur populärsten Form der Geschichtsschreibung in Russland wurde.5

Oft dargestellt als ein geschichtswissenschaftliches Denkschema unter anderen, entbehrt die Historiosophie de facto jeder Wissenschaftlichkeit, denn in dieser Theorie ist alles pfadabhängig, die Geschichte ganzheitlich und unverbrüchlich. Und weil Russen schon immer die Staatsmacht sakralisiert hätten, müssten ihre „paternalistischen Erwartungen“ erfüllt werden, um den „historischen Sinn“ des Landes wiederherzustellen, so die vereinfachte historiosophische Erklärung für das Phänomen einer allgegenwärtigen und absoluten Wlast.6 Historiker wie Alexej Miller sehen in der Historiosophie einen „Gegenstand des Glaubens“ und nicht der „kritischen Analyse“.7

„Auf die Vergöttlichung der Wlast!“

Dass Analyse in Russland ohnehin nur eine Nebenrolle spiele, meint dagegen Wladislaw Surkow, der einstmals als Chef-Ideologe des Kreml galt. In seinem Schlüsseltext Russische Politische Kultur aus dem Jahr 2007 schrieb er, dass „die Synthese in unserer kulturellen Praktik vor der Analyse herrscht, die Bildlichkeit vor Logik, Intuition vor Vernunft, das Allgemeine vor dem Konkreten“.8

„Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt“ – so ungefähr kommentierte der damalige Politiker Nikita Belych Surkows Programm: Der Spindoktor konstruiere einen „unverrückbaren Archetypus der russischen archaischen Wlast“ und schaffe erst durch diese Konstruktion Tatsachen.9

Vielleicht schaffte Surkow auch Tatsachen, nachdem er bei der Feier des ersten Wahlerfolgs Putins im Jahr 2000 das Glas hob und dazu aufrief, „auf die Vergöttlichung der Wlast!“10 zu trinken? Vieles spricht für diese These, zumal autoritäre Systeme sehr oft über eine Mischung von personalisierten und meritokratischen Elementen legitimiert werden.11 Meritokratisch bedeutet, dass der Herrscher sich über seine besonderen Verdienste definiert. Oder definiert wird – so sprechen die staatsnahen Medien oft über die Verdienste Putins: Er habe das Land „von den Knien erhoben“, auf denen es in den 1990er Jahren lag, so das häufigste Motiv. Auch Patriarch Kirill arbeitete am „Charisma des nationalen Leaders12 als er die 1990er Jahre mit „Hitlers Aggression“ und der „Smuta“ verglich, den Ausgang daraus als Putins Verdienst lobte und dessen Führung als „Gotteswunder“ pries.13

Allgegenwärtig und unsichtbar

Vielleicht ist eine solche Sakralisierung auch der wichtigste Grund dafür, dass der Begriff Wlast eigentlich nicht klar eingegrenzt werden kann: Wlast ist gleichzeitig allgegenwärtig und unsichtbar, monopolisiert und zerstreut. Der gravierende Mangel an funktionierenden politischen Institutionen könnte ein anderer Grund sein, er könnte aber auch mit dem ersten zusammenhängen.

Manche Wissenschaftler sind überzeugt, dass die meisten Russen den Staat ohnehin nicht als ein System von Institutionen begreifen, sondern als Volk, Kultur, Geschichte, soziale Beziehungen und Heimat.14 Wlast ist nur ein Teil dieser Heimat, nicht mehr.

Ausgehend vom russischen Philosophen Nikolaj Berdjajew glauben auch heute noch viele Kulturwissenschaftler, dass Russen das „staatsloseste Volk“ seien, das zugleich eine sehr „mächtige Staatlichkeit“ schaffte. Dass sie sich als das „anarchischste Volk“ willig dem Bürokratieapparat unterwerfen.15

Diese Widersprüche seien Teil des großen Mysteriums, das oft als die „geheimnisvolle russische Seele“ beschrieben wird – ein ursprünglich literarisches Motiv, das auch heute verschiedenartig gedeutet wird: Viele konservative Sinnerzeuger bemühen es seit dem Ende der Sowjetunion immer wieder gerne, um ihre Argumente für die russische Samobytnost zu stützen, Russlands Eigenartigkeit, die für sie oftmals auch eine Untertanenmentalität enthält. Manche Kritiker betonen vor allem das Anarchische – das Volk bleibt zwar auch für sie stumm, im Inneren sei es aber (wie bei Puschkin) von tiefem Mißtrauen und Schuldzuweisungen gegenüber der Wlast erfüllt.

Auch Putin philosophierte schon über das Geheimnis.16 Angeblich soll Berdjajew neben Dostojewski zu seiner liebsten Nachtlektüre gehören. Der französische Philosoph Michel Eltchaninoff vermerkte dazu in seinem Buch In Putins Kopf, dass diese Lektüre jedoch oberflächlich sei: Dostojewski habe Russland insgesamt als Teil Europas gesehen, Berdjajew betonte individuelle Freiheiten – beides stehe in Konflikt zu Putins Politik.17


1.vgl. svoboda.org: Dva kita Andreja Zvjaginceva
2.vgl. Byzov, Leontij (2011): Ėpocha Putina: ot krizisa cennostej k krizisu institutov und Miller, Alexej (2007): Imperija v sebe: O vozraždenie imperskogo sindroma v Rossii, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Posle imperii, S. 102-123
3.vgl. golos-ameriki.ru: Shevcova: „Vneshnaja politika dlja kremlja stala instrumentom vnutrennich zadač“ und Kaspė, Irina/Kaspė, Svjatoslav (2006): Pole bitvy – strana: Nation-Building i nashi nėjshnbildery, in: Neprikosnovennyj zapas №6 (50)
4.vgl. zum Beispiel Rastimeshina, Irina (2013): Politika Rossijskogo gosudarstva v otnoshenii kul’turnogo nasledija cerkvi: tradicionnye podchody i innovacionnye technologii, S. 137
5.Miller, Alexej (2008): Istorija imperij i politika pamjati, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperi i buduščee Rossii, S. 25-58, hier S. 25
6.vgl. Baranov, Alexej (2008): Političeskie otnoshenija i političeskij process v sovremennoj Rossii: Avtorskij kurs lekcij, S. 216ff. und Miller, Alexej (2008): Nasledie imperij: inventarizacija, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperij i buduščee Rossii, S. 5-22
7.vgl. Miller, Alexej (2008): Nasledie imperij: inventarizacija, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperij i buduščee Rossii, S. 5-22, hier S. 7
8.Surkov, Vladislav (2007): Russkaja političeskaja kul’tura: Vzgljad iz utopii, in: Nezavisimaja Gazeta: Lekcija Vladislava Surkova: Materialy i obsuždenija v „Nezavisimoj Gazete“,  S. 6-22, hier S. 8
9.Belych, Nikita (2007): Ideologija suverennoj bjurokratii, in: Nezavisimaja Gazeta: Russkaja političeskaja kul’tura: Vzgljad iz utopii: Lekcija Vladislava Surkova: Materialy i obsuždenija v „Nezavisimoj Gazete“, S. 72-78, hier S. 74f.
10.zit. nach: Pavlovskij, Gleb (2014): Sistema RF v vojne 2014 goda: De Principatu Debili, S. 69
11.vgl. Albrecht, Holger/Frankenberger, Rolf (2010): Autoritarismus Reloaded: Konzeptionelle Anmerkungen zur vergleichenden Analyse politischer Systeme, in: dies.: Autoritarismus Reloaded, S. 37-60, hier S. 57f.
12.zum Begriff vgl. Sakva, Richard (2008): Putin i vlast’ protivorečij, in: RAN. INION: Dva prezidentskich sroka V. V. Putina: dinamika peremen: Sbornik naučnych trudov, S. 10-31
13.zit. nach: stoletie.ru:  „Cerkov’ vsegda byla s narodom“
14.vgl. vedomosti.ru: Rossijskaja smyslovaja matrica
15.Berdjajew, Nikolaj: Sud’ba Rossii
16.YouTube: V. Putin o russkoj duše
17.vgl. inosmi.ru: Idejnye istočniki Vladimira Putina, i kuda on klonit
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Präsidentenrating

Das Präsidentenrating wird in national repräsentativen Meinungsumfragen anhand der Frage „Stimmen Sie der Tätigkeit von [Name des jeweils amtierenden Präsidenten – dek.] als Präsident der Russischen Föderation zu?“ gemessen. Während in den 1990ern Boris Jelzins Zustimmung kontinuierlich sank, verzeichnet Wladimir Putin durchgängig Zustimmungswerte von über 60 Prozent, welche bei außenpolitischen Konflikten Höchstwerte erzielen und bei Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung meist etwas zurückgehen.

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