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„Die Macht sind wir, und wir werden dieses Grauen stoppen“

In einem russischen Gerichtssaal spricht ein junger Mann, ein Journalist. Im Prozess, der ihm gemacht wird, bleibt ihm das Schlusswort, um sich noch einmal zu den Vorwürfen zu äußern. Er entscheidet sich stattdessen – wie viele in Russland, die wissen, dass das Urteil zumeist schon im Vornherein feststeht – in dem Schlusswort über den Krieg in der Ukraine zu sprechen. 

Er spricht vieles offen aus, über das man in Russland aufgrund repressiver Gesetze nicht sprechen darf: Er nennt den Krieg einen Krieg, erzählt von bombardierten Krankenhäusern, von getöteten Zivilisten, eingeschlossenen Städten. 
Der Journalist heißt Wladimir Metjolkin und er gehört zu Doxa, einer Studierendenzeitschrift in Moskau. Gemeinsam mit drei seiner Kollegen – Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch und Alla Gutnikowa (deren Schlusswort ebenfalls häufig geteilt wurde in Social Media) – hat er bereits fast ein Jahr Hausarrest und einen Gerichtsprozess hinter sich. Das Urteil soll am heutigen Dienstag, den 12. April 2022, gefällt werden. Ihnen drohen bis zu zwei Jahre Haft.

Der Fall Doxa beginnt im Jahr 2021 – ein Jahr des Shifts in Russland, in dem der Druck gegen unabhängige Akteure und auch Medien immer stärker wurde. Das Vergehen der Doxa-Redakteure: Sie hatten in einem Video im Januar 2021 von politischem Druck an den Universitäten berichtet, hatten Drohungen thematisiert, Studierende könnten von der Uni fliegen, sofern sie es wagten, zu Unterstützerprotesten für Kremlkritiker Alexej Nawalny zu gehen, der damals nach seiner Nowitschok-Vergiftung aus Deutschland nach Russland zurückgekehrt war. 

Dieses Video wurde ihnen als „verbrecherisch“ ausgelegt, als Protestaufruf mit „Gefahr für Leib und Leben“ von Minderjährigen. Dass sie seither von der russischen Justiz verfolgt werden, hat ihr Leben radikal verändert: Wer von ihnen noch an der Uni war, musste sie verlassen. Wer bereits in den Beruf eingestiegen war, hat den Job verloren. Während des Arrestes wurden pro Tag nur zwei Stunden Ausgang gewährt, begleitet von zahlreichen weiteren Verhören, wie die Doxa-Redaktion berichtete. 

Das besagte Video beendete Doxa damals mit den Worten „Die Jugend sind wir, und wir werden gewinnen“. Während ihr Fall in den vergangenen Wochen auf das Urteil zulief, hat Russland einen Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine begonnen. 

In seinem Schlusswort vor Gericht am 1. April spricht Doxa-Redakteur Wladimir Metjolkin darüber, wie die Zukunft der Jugend in Russland aus seiner Sicht mit der des ganzen Landes und dem Krieg im Nachbarland zusammenhängt. Dabei kommt er auf den Satz von damals zurück. dekoder hat sein Schlusswort in voller Länge übersetzt:


Update vom 12. April 2022, 16 Uhr MEZ: Wie Mediazona mitteilt, lautet das Urteil 2 Jahre Sozialstunden; 3 Jahre lang dürfen die Vier außerdem nicht als Administratoren von Internetseiten fungieren.

Источник Mediazona

Wladimir Metjolkin, Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch, Alla Gutnikowa von Doxa / © Doxa

„Die Staatsmacht hat der Jugend den Krieg erklärt, doch die Jugend sind wir – und wir werden garantiert gewinnen“, so lautete der von Alla gesprochene Schlusssatz in unserem Video, das wir vor über einem Jahr veröffentlicht haben. Wegen des Videos wurde ein Verfahren gegen uns eingeleitet, und deshalb stehen wir heute hier in diesem Gerichtssaal. Der Satz besteht aus zwei Teilen, in meiner Rede möchte ich auf beide einzeln eingehen. 

Die Staatsmacht hat der Jugend den Krieg erklärt. Die Metapher des Kriegs gegen die Jugend und deren Bedeutung bedarf eigentlich keiner langen Erklärung: Junge Menschen haben in Russland wenig Perspektiven und Hoffnung auf die Zukunft – man hat sie uns genommen. Wenn du jung und anständig bist, dich persönlich weiterentwickeln, einen guten Abschluss und ehrliche Arbeit willst, wenn du auch nur irgendwelche Ambitionen hast, wird dir geraten, Russland zu verlassen – je eher, desto besser. 

Junge Menschen haben in Russland wenig Perspektiven und Hoffnung auf die Zukunft

Heute, ein Jahr nach Prozessbeginn, können wir voller Wut und sogar Hass sagen, dass es um diese Dinge noch viel schlechter steht. Die Staatsmacht hat im Wortsinne einen Krieg erklärt. Es geht jetzt nicht mehr um den metaphorischen Krieg gegen die Jugend, sondern um einen bestialischen, zerstörerischen Krieg gegen die Ukraine und deren friedliche Bewohner. Dieser Krieg läuft seit 2014, was viele von uns einfach vergessen haben. Ich hatte es auch vergessen und dieser Tatsache nicht mehr die nötige Bedeutung beigemessen. Doch jetzt erinnern sich alle, nachdem Russland am Morgen des 24. Februar nach einer irrsinnigen nationalistischen Rede von Wladimir Putin Kiew bombardiert hat.

Dieser Krieg läuft seit 2014, was viele von uns einfach vergessen haben

Die Staatsmacht hat Boris Romantschenko den Krieg erklärt. Dieser alte Mann hatte vier Konzentrationslager, darunter Buchenwald, überlebt. Im März 2022 ist eine russische Rakete in sein Haus in Charkiw eingeschlagen und hat ihn getötet. 
Die Staatsmacht hat Boris Semjonow den Krieg erklärt, einem 96-jährigen Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Er trägt einen Orden für die Befreiung Prags, wo er sich jetzt wieder als Geflüchteter befindet, weil er wegen der Bombardierung zur Flucht aus der Oblast Dnipropetrowsk gezwungen war. Dort wartet er auf eine Wohnung, obwohl ihm auch in Berlin Hilfe angeboten wurde, wo er in Ruhe seinen Lebensabend verbringen könnte.

An dieser Stelle unterbricht die Richterin Anastassija Tatarulja den Angeklagten, aber er fährt fort.

Die Staatsmacht hat Mariupol den Krieg erklärt, das seit Wochen belagert wird und in dem mehr als 90 Prozent aller Gebäude zerstört wurden. Die Einwohner von Mariupol sterben, haben kein Wasser und keine Nahrung, sie beerdigen ihre Angehörigen direkt in den Innenhöfen der Wohnhäuser, weil es keine anderen Möglichkeiten gibt. Sehen Sie sich die Fotos an, sie sind in internationalen Medien zahlreich zu finden. 

Die Staatsmacht hat den Frauen und Kindern den Krieg erklärt. Russland bombardiert wahllos Wohngebiete und zerstört Schulen, Krankenhäuser, Geburtskliniken. Das bestätigen Journalisten, Menschenrechtsorganisationen und Regierungen auf der ganzen Welt. Täglich sehen wir massenhaft Fotos und Videos aus der Ukraine, wir können diesen Krieg regelrecht online beobachten. Nur einer scheint die Kriegsberichte immer noch in Aktendeckeln vorgelegt zu bekommen.

Die Staatsmacht hat Mariupol den Krieg erklärt, das seit Wochen belagert wird

Die Staatsmacht hat sogar jenen den Krieg erklärt, die diesen Krieg mit ihren Händen für sie führen müssen. An der Front landen unter anderem Wehrdienstleistende. Sie wollen nicht kämpfen, ergeben sich, landen in Gefangenschaft und führen keine Panzerangriffe durch, manche wissen nicht mal richtig, wie man das Kriegsgerät bedient. Die Soldaten werden chaotisch an verschiedene Frontabschnitte verteilt (wobei von einer Verkürzung der Frontlinie die Rede war, wollen wir hoffen, dass es so ist), sie sterben einen schrecklichen Tod – verbrennen bei lebendigem Leib in Panzerkolonnen. 

In den ersten Tagen des Angriffs wussten russische Soldaten nicht einmal, wo sie waren und wohin sie fuhren – das belegen viele Protokolle und Zeugenberichte. Sie wurden schlichtweg zur Schlachtbank geschickt, ohne anständige Kleidung, Verpflegung oder Deckung.

An dieser Stelle wird Metjolkin abermals von der Richterin unterbrochen. „Ich finde, es besteht sehr wohl ein direkter Zusammenhang, deswegen fahre ich fort“, erwidert er. 

Ich kenne aus erster Hand den Bericht einer Frau, deren wehrdienstleistender Neffe in einem sowjetischen Panzer Baujahr 1974 schläft. Wir hören Berichte von Soldaten, deren Leichname nicht überführt und anständig beerdigt werden. Sie verwesen auf den ukrainischen Feldern. Die ukrainische Seite würde sie abholen lassen, aber Russland schweigt.

Leichname der russischen Soldaten werden nicht überführt. Sie verwesen auf den ukrainischen Feldern

Die Staatsmacht hat den Aktivisten und Journalisten den Krieg erklärt, die offen über die Ereignisse sprechen wollen, weil es unmöglich ist, darüber zu schweigen. In einem Jahr wird man uns fragen, was wir in dieser Zeit getan haben, wie wir versucht haben, es zu verhindern. Wir werden der nächsten Generation Rede und Antwort stehen müssen. Inzwischen sind die Repressionen in vollem Gang: Es laufen über 200 administrative und einige Strafverfahren. Für die neue Zeit wurden neue Paragrafen erfunden. Juristen bezeichnen es zu Recht als Kriegszensur. Die Staatsmacht versucht, uns weiterhin einzuschüchtern, indem sie unter anderem auf die Wiedereinführung der Todesstrafe anspielt. Es gibt die Menschen, die nicht schweigen, aber viele sind wir nicht.

Für die neue Zeit wurden neue Paragrafen erfunden. Juristen bezeichnen es zu Recht als Kriegszensur

Jetzt zum zweiten Teil des oben genannten Satzes. Die Jugend sind wir, und wir werden garantiert gewinnen. Was bedeutet das? Ich möchte weg von der gängigen Standardinterpretation dieser Worte als Generationenkonflikt, bei dem die Jungen immer die Alten ablösen, die Alten ausgemustert werden und dadurch vermeintlich alles besser werden soll. Das würde zu kurz greifen.

Meiner Ansicht nach geht es bei diesen Worten darum, dass sich die Zukunft nicht aufhalten lässt. Wir wissen nicht, wie sie aussehen wird, momentan ist das schwer zu sagen. Aber das Putin-Regime wird zweifellos früher enden, als es der (noch Haupt-)Akteur will. Mit seinem Versuch, lebenslang Präsident zu sein, ruiniert er das ganze Land.

Vor unseren Augen passiert das schlimmste Ereignis in der Geschichte des modernen Russland. Vielleicht sogar in der ganzen russischen Geschichte – jener „tausendjährigen Geschichte“, wie sie die Propaganda so gerne nennt. Eine Grundannahme dieses Diskurses ist die Behauptung, Russland habe immer nur gerechte und Befreiungskriege geführt.

Vor unseren Augen passiert das schlimmste Ereignis in der Geschichte des modernen Russland. Vielleicht sogar in der ganzen russischen Geschichte

Ich will mich nicht in historischen Details verlieren – die Fotos, die nach dem 24. Februar 2022 in Kiew, Mariupol und Cherson gemacht wurden, sprechen für sich. Sie genügen, um zu begreifen, dass das Narrativ von den Russen als Befreiern hinfällig geworden ist. Heute bombardieren wir Frauen, Kinder und alte Menschen – mit Streumunition und Minenbomben. Die Russen reagieren darauf wie sie können, aber sie können wenig. Dafür reagiert die Welt umso stärker. Das Leben in Russland hat sich seit dem Beginn des Krieges rasant verschlechtert, und das wird lange so bleiben. Politik, Wirtschaft, Kultur, Bildung – alles ist zerstört. Alles ändert sich im Lauf der Zeit, aber jetzt gerade beschleunigt ein Einzelner mit seinen wahnwitzigen Aktionen die Veränderungen massiv.

Das Narrativ von den Russen als Befreiern ist hinfällig geworden. Heute bombardieren wir Frauen, Kinder und alte Menschen

Zum Thema „Entnazifizierung“: Russland hat den Buchstaben Z als ein Symbol des Kriegs gewählt, in dem viele zu Recht ein halbes Hakenkreuz erkennen. In manchen Ländern will man dieses Zeichen bereits gesetzlich mit den Nazi-Symbolen gleichsetzen. Anders kann man es auch gar nicht nennen – ein neues Hakenkreuz, ein neuer Hitlergruß. In Z-Formation werden in Russland Studenten, Schüler und sogar Kindergartenkinder aufgestellt.    

Die russischen Propagandisten haben die gesamten acht Jahre seit 2014 über Nazis in der Ukraine gewettert: Zuerst seien sie auf dem Maidan aufgetreten und dann plötzlich an die Macht gekommen. Man hat uns Bilder von Fackelzügen gezeigt, die tatsächlich gruselig aussahen. Aber wo sind diese ukrainischen Ultrarechten jetzt? Die vereinigten Rechten haben es mit gerade mal zwei Prozent bei den letzten Wahlen nicht einmal in die Rada geschafft. Einzelne nationalistische Veteranen des Kriegs in der Ostukraine konnten sich unter Poroschenko einen Platz in der Politik oder einen Posten in den Sicherheitsbehörden verschaffen, aber von einem maßgeblichen Einfluss auf die Politik in den letzten Jahren kann nicht die Rede sein. Wolodymyr Selensky hatte bereits Kurs aufgenommen auf eine Versöhnung der ukrainischsprachigen und der russischsprachigen Bevölkerung des Landes.

Wir brauchen eine Entnazifizierung und Dekolonialisierung Russlands

Wir haben die ukrainischen Nationalisten schon sehr sehr weit überholt. Wir sind es, die eine Entnazifizierung und eine Dekolonialisierung Russlands brauchen. Und eine Absage an den imperialistischen Chauvinismus, an den Spott über Sprachen, Kulturen und Symbole anderer Länder und anderer Völker Russlands. Fehlende Empathie gegenüber deinen Nachbarn – das genau ist der Grund, warum Kriege beginnen. 

Wir fahren nach Jerewan oder Tbilissi und erwarten, dass man dort Russisch mit uns spricht, erwarten einen Service wie in Moskau, erwarten, dass sich alle über uns freuen. Wir betrachten diese Orte als Scherben des großen Russland. Genau das ist imperialistisches Denken. Wie alle sehen, tut Russland seinen Nachbarländern nichts Gutes. Wir müssen viel mehr darüber reflektieren, was es heißt, Russen zu sein. Und wir müssen jetzt maximal streng mit uns selbst sein.

Wir haben aufgehört, Verantwortung für das zu übernehmen, was in unserem Land passiert, und nun hat unser Land einen Krieg entfacht, den allerschrecklichsten seiner Geschichte. Wir müssen diese Fehler beheben. Wir müssen einsehen, dass jetzt nichts wichtiger ist als die Politik. Politik, verstanden als eine Teilnahme am eigenen Leben, als Selbstbestimmung, als Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, als Sorge um das, was rundherum passiert. All das ist die Grundlage, auf der wir eine neue russische Gesellschaft aufbauen müssen. Die Flucht in die heimeligen Sphären von privaten Interessen und Konsum hat unsere autoritäre Gesellschaft in die Katastrophe geführt. Das muss aufhören und darf sich nie mehr wiederholen.

Wir haben aufgehört, Verantwortung für das zu übernehmen, was in unserem Land passiert

Die Gemeinschaft der Aktivisten, Journalisten und Wissenschaftler, zu der ich mich zählen darf, weiß, was sie zu tun hat. Wir sind bereit, hart zu arbeiten, geduldig zu sein und zu hoffen – die Veränderungen werden kommen, aber wir müssen uns alle gemeinsam darauf vorbereiten. Und dafür müssen wir in Freiheit sein. 

Ich möchte den letzten Satz des Videos ein bisschen korrigieren, Alla möge mir verzeihen, wir haben den Text ja, soweit ich mich erinnere, zusammen verfasst. Ich hätte ihn lieber so: Die Staatsmacht hat den friedlichen Menschen den Krieg erklärt und stellt jetzt eine massive Bedrohung dar. Aber die tatsächliche Macht sind wir, und wir werden dieses Grauen garantiert stoppen.

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Wlast

Sevilla im 16. Jahrhundert, die Inquisition wütet, Scheiterhaufen lodern, das Mittelalter ist in seiner dunkelsten Phase. Unvermittelt taucht Jesus auf, alle erkennen ihn, auch der Großinquisitor. Dieser sagt: Die Kirche braucht Jesus nicht mehr, sie hat seine Tat „verbessert“ und die allumfassende Herrschaft des Klerus auf drei Kräften aufgebaut – Wunder, Geheimnis, Autorität. Jesus schweigt. 

In dieser Sequenz aus Die Brüder Karamasow setzt sich Dostojewski mit dem Begriff Wlast auseinander. Mit der Triade Wunder, Geheimnis, Autorität definiert er die Voraussetzungen für das damalige Verständnis von Herrschaft.

Auch heute gehört Wlast zu den abstraktesten Begriffen im Russischen. Zugleich ist sie aber zentral im politischen Diskurs Russlands. Wlast kann sowohl den Macht- und Herrschaftsbegriff umfassen, als auch die Staatsmacht, die Regierung, Behörden, Oligarchen oder einfach irgendeine Obrigkeit – mit entsprechenden Schwierigkeiten bei der Übersetzung in andere Sprachen. Je nach Interpretation kann Wlast außerdem ganz unterschiedliche Bedeutungsinhalte haben: Von der personifizierten Staatsmacht Putins, über die Anonymität und Unsichtbarkeit der Macht, wie man es etwa bei Kafka kennt, bis hin zum Orwellschen Unterdrückungsapparat.

Wunder, Geheimnis, Autorität – der Begriff „Wlast“ wird im russischen Sprachgebrauch mitunter sakralisiertLeviathan – so beschreiben viele Beobachter das Herrschaftssystem des gegenwärtigen Russlands. Gemeint ist ein absolutistischer Staat, wie ihn der politische Philosoph Thomas Hobbes in seinem gleichnamigen Hauptwerk beschreibt. Die Macht des Souveräns ist hier uneingeschränkt, alle Menschen müssen sich ihr unterwerfen. Die Staatsmacht bei Hobbes ist allerdings auch zuständig für den Schutz der Bürger, in Russland dagegen werfen ihr viele Kritiker vor, Gegensätzliches zu tun: Sie verhalte sich oft wie ein Verbrecher, meint beispielsweise der Kulturwissenschaftler Boris Paramonow.1

Auch der bekannte russische Regisseur Andrej Swjaginzew weist mit seinem preisgekrönten Film Leviathan auf den verbrecherischen Aspekt der Wlast hin. Der Protagonist lehnt sich hier zwar gegen die Wlast auf, zeigt sich am Ende aber ohnmächtig. Alles bleibt scheinbar beim Alten: Die Macht des Stärkeren siegt, und „das Volk bleibt stumm“.

„Das Volk bleibt stumm“

Dieser oft zitierte Schlusssatz stammt aus Alexander Puschkins Drama Boris Godunow aus dem 19. Jahrhundert. Der Begriff Wlast hat sich über Generationen in seiner Bedeutung geformt und verstetigt. Heute repräsentiert er sowohl im kremlnahen Diskurs als auch für viele Kulturkritiker eine wichtige Eigenschaft des Staat-Bürger-Verhältnisses in Russland. Demnach ist Wlast eine Einbahnstraße: Die Machthaber haben sie, die Bürger sind apolitisch, sie sind wie bei Puschkin eine „schweigende Mehrheit“.2

Stimmt also das gängige kulturalistische Klischee, dass in Russland schon immer eine Untertanenmentalität geherrscht habe? Wohl kaum. Das Schweigen während der Zarenzeit und in der Sowjetunion entsprang der eigenen Angst, es kam durch Unterdrückung zustande. Das Schweigen heute erklärt sich auch aus dem sogenannten Gesellschaftsvertrag: Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein, so die verkürzte Version dieses theoretischen Modells. 

Historismus und Historiosophie

Wie ist es zu erklären, dass viele Wissenschaftler den Grundstein für diesen Gesellschaftsvertrag in den 1990er Jahren verorten? Ähnlich wie in der Weimarer Republik oder im postfranquistischen Spanien wurde im damaligen Russland eine gesamtgesellschaftliche Orientierungslosigkeit diagnostiziert. Der Zusammenbruch des Kommunismus führte demnach zu einem „Werte-Vakuum“, beziehungsweise zu einer „Identitätskrise“ oder eben einem „Weimar-Syndrom“.3

Kann eine ganze Gesellschaft tatsächlich in eine „Identitätskrise“ geraten? Schwer vorstellbar, zumindest kann man das nicht wissenschaftlich nachweisen. Trotz dieser Unzulänglichkeit schien kaum ein Wissenschaftler in Russland an dem „Werte-Vakuum“ der 1990er Jahre zu zweifeln. Und auch die Folge war für viele klar: Das Vakuum müsse mit neuen Werten gefüllt werden. Dabei suggerierten manche Sinnangebote, dass diese Werte nur in Russlands Vergangenheit gefunden werden können. 

Tatsächlich erlebte Russland in den 1990er Jahren einen regelrechten Nachfrageboom nach allem Historischen. Viele neue Bücher kamen heraus, Auflagen schnellten in die Höhe, sodass manche Wissenschaftler schon von einem umfassenden Historismus sprachen.4 Der russische Historiker Alexej Miller konstatiert, dass dabei die Historiosophie zur populärsten Form der Geschichtsschreibung in Russland wurde.5

Oft dargestellt als ein geschichtswissenschaftliches Denkschema unter anderen, entbehrt die Historiosophie de facto jeder Wissenschaftlichkeit, denn in dieser Theorie ist alles pfadabhängig, die Geschichte ganzheitlich und unverbrüchlich. Und weil Russen schon immer die Staatsmacht sakralisiert hätten, müssten ihre „paternalistischen Erwartungen“ erfüllt werden, um den „historischen Sinn“ des Landes wiederherzustellen, so die vereinfachte historiosophische Erklärung für das Phänomen einer allgegenwärtigen und absoluten Wlast.6 Historiker wie Alexej Miller sehen in der Historiosophie einen „Gegenstand des Glaubens“ und nicht der „kritischen Analyse“.7

„Auf die Vergöttlichung der Wlast!“

Dass Analyse in Russland ohnehin nur eine Nebenrolle spiele, meint dagegen Wladislaw Surkow, der einstmals als Chef-Ideologe des Kreml galt. In seinem Schlüsseltext Russische Politische Kultur aus dem Jahr 2007 schrieb er, dass „die Synthese in unserer kulturellen Praktik vor der Analyse herrscht, die Bildlichkeit vor Logik, Intuition vor Vernunft, das Allgemeine vor dem Konkreten“.8

„Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt“ – so ungefähr kommentierte der damalige Politiker Nikita Belych Surkows Programm: Der Spindoktor konstruiere einen „unverrückbaren Archetypus der russischen archaischen Wlast“ und schaffe erst durch diese Konstruktion Tatsachen.9

Vielleicht schaffte Surkow auch Tatsachen, nachdem er bei der Feier des ersten Wahlerfolgs Putins im Jahr 2000 das Glas hob und dazu aufrief, „auf die Vergöttlichung der Wlast!“10 zu trinken? Vieles spricht für diese These, zumal autoritäre Systeme sehr oft über eine Mischung von personalisierten und meritokratischen Elementen legitimiert werden.11 Meritokratisch bedeutet, dass der Herrscher sich über seine besonderen Verdienste definiert. Oder definiert wird – so sprechen die staatsnahen Medien oft über die Verdienste Putins: Er habe das Land „von den Knien erhoben“, auf denen es in den 1990er Jahren lag, so das häufigste Motiv. Auch Patriarch Kirill arbeitete am „Charisma des nationalen Leaders12 als er die 1990er Jahre mit „Hitlers Aggression“ und der „Smuta“ verglich, den Ausgang daraus als Putins Verdienst lobte und dessen Führung als „Gotteswunder“ pries.13

Allgegenwärtig und unsichtbar

Vielleicht ist eine solche Sakralisierung auch der wichtigste Grund dafür, dass der Begriff Wlast eigentlich nicht klar eingegrenzt werden kann: Wlast ist gleichzeitig allgegenwärtig und unsichtbar, monopolisiert und zerstreut. Der gravierende Mangel an funktionierenden politischen Institutionen könnte ein anderer Grund sein, er könnte aber auch mit dem ersten zusammenhängen.

Manche Wissenschaftler sind überzeugt, dass die meisten Russen den Staat ohnehin nicht als ein System von Institutionen begreifen, sondern als Volk, Kultur, Geschichte, soziale Beziehungen und Heimat.14 Wlast ist nur ein Teil dieser Heimat, nicht mehr.

Ausgehend vom russischen Philosophen Nikolaj Berdjajew glauben auch heute noch viele Kulturwissenschaftler, dass Russen das „staatsloseste Volk“ seien, das zugleich eine sehr „mächtige Staatlichkeit“ schaffte. Dass sie sich als das „anarchischste Volk“ willig dem Bürokratieapparat unterwerfen.15

Diese Widersprüche seien Teil des großen Mysteriums, das oft als die „geheimnisvolle russische Seele“ beschrieben wird – ein ursprünglich literarisches Motiv, das auch heute verschiedenartig gedeutet wird: Viele konservative Sinnerzeuger bemühen es seit dem Ende der Sowjetunion immer wieder gerne, um ihre Argumente für die russische Samobytnost zu stützen, Russlands Eigenartigkeit, die für sie oftmals auch eine Untertanenmentalität enthält. Manche Kritiker betonen vor allem das Anarchische – das Volk bleibt zwar auch für sie stumm, im Inneren sei es aber (wie bei Puschkin) von tiefem Mißtrauen und Schuldzuweisungen gegenüber der Wlast erfüllt.

Auch Putin philosophierte schon über das Geheimnis.16 Angeblich soll Berdjajew neben Dostojewski zu seiner liebsten Nachtlektüre gehören. Der französische Philosoph Michel Eltchaninoff vermerkte dazu in seinem Buch In Putins Kopf, dass diese Lektüre jedoch oberflächlich sei: Dostojewski habe Russland insgesamt als Teil Europas gesehen, Berdjajew betonte individuelle Freiheiten – beides stehe in Konflikt zu Putins Politik.17


1.vgl. svoboda.org: Dva kita Andreja Zvjaginceva
2.vgl. Byzov, Leontij (2011): Ėpocha Putina: ot krizisa cennostej k krizisu institutov und Miller, Alexej (2007): Imperija v sebe: O vozraždenie imperskogo sindroma v Rossii, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Posle imperii, S. 102-123
3.vgl. golos-ameriki.ru: Shevcova: „Vneshnaja politika dlja kremlja stala instrumentom vnutrennich zadač“ und Kaspė, Irina/Kaspė, Svjatoslav (2006): Pole bitvy – strana: Nation-Building i nashi nėjshnbildery, in: Neprikosnovennyj zapas №6 (50)
4.vgl. zum Beispiel Rastimeshina, Irina (2013): Politika Rossijskogo gosudarstva v otnoshenii kul’turnogo nasledija cerkvi: tradicionnye podchody i innovacionnye technologii, S. 137
5.Miller, Alexej (2008): Istorija imperij i politika pamjati, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperi i buduščee Rossii, S. 25-58, hier S. 25
6.vgl. Baranov, Alexej (2008): Političeskie otnoshenija i političeskij process v sovremennoj Rossii: Avtorskij kurs lekcij, S. 216ff. und Miller, Alexej (2008): Nasledie imperij: inventarizacija, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperij i buduščee Rossii, S. 5-22
7.vgl. Miller, Alexej (2008): Nasledie imperij: inventarizacija, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperij i buduščee Rossii, S. 5-22, hier S. 7
8.Surkov, Vladislav (2007): Russkaja političeskaja kul’tura: Vzgljad iz utopii, in: Nezavisimaja Gazeta: Lekcija Vladislava Surkova: Materialy i obsuždenija v „Nezavisimoj Gazete“,  S. 6-22, hier S. 8
9.Belych, Nikita (2007): Ideologija suverennoj bjurokratii, in: Nezavisimaja Gazeta: Russkaja političeskaja kul’tura: Vzgljad iz utopii: Lekcija Vladislava Surkova: Materialy i obsuždenija v „Nezavisimoj Gazete“, S. 72-78, hier S. 74f.
10.zit. nach: Pavlovskij, Gleb (2014): Sistema RF v vojne 2014 goda: De Principatu Debili, S. 69
11.vgl. Albrecht, Holger/Frankenberger, Rolf (2010): Autoritarismus Reloaded: Konzeptionelle Anmerkungen zur vergleichenden Analyse politischer Systeme, in: dies.: Autoritarismus Reloaded, S. 37-60, hier S. 57f.
12.zum Begriff vgl. Sakva, Richard (2008): Putin i vlast’ protivorečij, in: RAN. INION: Dva prezidentskich sroka V. V. Putina: dinamika peremen: Sbornik naučnych trudov, S. 10-31
13.zit. nach: stoletie.ru:  „Cerkov’ vsegda byla s narodom“
14.vgl. vedomosti.ru: Rossijskaja smyslovaja matrica
15.Berdjajew, Nikolaj: Sud’ba Rossii
16.YouTube: V. Putin o russkoj duše
17.vgl. inosmi.ru: Idejnye istočniki Vladimira Putina, i kuda on klonit
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Präsidentenrating

Das Präsidentenrating wird in national repräsentativen Meinungsumfragen anhand der Frage „Stimmen Sie der Tätigkeit von [Name des jeweils amtierenden Präsidenten – dek.] als Präsident der Russischen Föderation zu?“ gemessen. Während in den 1990ern Boris Jelzins Zustimmung kontinuierlich sank, verzeichnet Wladimir Putin durchgängig Zustimmungswerte von über 60 Prozent, welche bei außenpolitischen Konflikten Höchstwerte erzielen und bei Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung meist etwas zurückgehen.

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