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Das Eisfach

Sie muss einigermaßen außergewöhnlich sein, eine Moral und ein lustiges Ende haben. Zeitlich muss sie in die Weihnachtstage fallen (auf russisch heißen die Swjatiki: die Tage von Weihnachten bis Heilige Drei Könige. Auf Deutsch sind das ungefähr die Rauhnächte) – so lässt Nikolaj Leskow, ein Klassiker der russischen Literatur, einen seiner Protagonisten die Gattung Weihnachtserzählung definieren.

Die Blütezeit der Weihnachtserzählungen fiel in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, Zeitungen und Zeitschriften waren voll davon, Weihnachtserzählungen wurden viel und gern gelesen. Sehr originell waren sie allerdings nicht: Die Zahl der Typen, Handlungsrahmen und Ereignisse sowie die literarischen Mittel waren begrenzt, daher wurden solche Erzählungen samt ihren zahlreichen Autoren und noch zahlreicheren Lesern vielfach verlacht und verspottet.

Manche Kritiker prophezeiten der Gattung bereits im 19. Jahrhundert den Tod, doch sie lebte weiter. Vor allem dank großer Namen, die den einfachen Sujets etwas ganz Neues, oft Trauriges, hinzufügten, was diese Erzählungen zu großer Literatur machte und die Gattung weiterentwickelte. Fjodor Dostojewski, Anton Tschechow, Vladimir Nabokov und viele andere schrieben und veröffentlichten in den Zeitungen rund um Weihnachten ihre Erzählungen, die swjatotschnyje rasskasy.

dekoder greift diese Tradition auf und stellt eine Weihnachtserzählung des zeitgenössischen Schriftstellers Sergej Nossow vor, die zunächst in der Zeitschrift Afisha (2005) und schließlich, in etwas erweiterter Form, in dem Erzählband Buch Poltora Krolika (Anderthalb Kaninchen, 2012) erschien. Der Petersburger Schriftsteller Nossow schreibt damit die russische Tradition der Weihnachtsgeschichten fort.

dekoder bringt seine Geschichte erstmals in deutscher Übersetzung: Eine Weihnachts- beziehungsweise Neujahrsgesellschaft findet sich zusammen, es verlangt sie nach Gruselgeschichten, und da beginnt Rostislaw Borissowitsch zu erzählen, eine erstaunliche Geschichte, die ihm selbst widerfahren ist. 

Источник Afisha

Illustration © Anja TchepetsGegen zwei Uhr nachts gab's endlich die lang erwartete Torte. Nachdem Margarita Makarowna zwei Stücke gegessen hatte – eines auf sie, eines auf ihren Mann – zog es sie zum Fernseher, hin zu ihren herzliebsten Komikern. Sie fand die Kraft, den Speisesaal zu verlassen und sogar in den ersten Stock hinaufzugehen, wo es nach Tanne duftete. Aber bis zum Fernseher schaffte sie es nicht – wehrlos ließ sie sich sieben Schritte von ihm entfernt in einen Polstersessel sinken. Sie wusste, dass sie nun zu faul sein würde, aufzustehen und den Fernseher einzuschalten. Sie holte Luft, entspannte sich und döste ein.

Bald war die Halle von leisen Stimmen erfüllt. An die zehn Bewohner des Sanatoriums waren dorthin gekommen, um sich gegenseitig die Nerven zu kitzeln – es verlangte sie nach Gruselgeschichten, so ein Neujahrsläunchen eben. Margarita Makarowna hörte es, aber sie hörte nicht zu. Um Margarita Makarowna nur ja nicht zu wecken, sprachen sie sehr leise – obwohl, so werden Gruselgeschichten ja immer erzählt.

Es war zu weiten Teilen eine Damengesellschaft. Leise und geheimnisvoll wurde von blutrünstigen Sektierern erzählt, von Serienmördern und maskierten Menschenfressern. Durch ihren Schlummer hindurch erahnte Margarita Makarowna die Anwesenheit Kostja Solowjows aus dem zweiten Stock, Sportjournalist eines Wochenblatts. Durch einzelne Redebeiträge verriet sich auch ihr eigener Mann, der Facharzt für Brustheilkunde Rostislaw Borissowitsch. Andere Männer waren wohl nicht dabei.

Nein, Margarita Makarowna lauschte nicht dem düsteren Quatsch, sie fand es angenehmer, sich an die Aprikosentorte zu erinnern – ja, und der Traum, in den sie sich glücklich versenkte, war süß, fröhlich und aprikosig.

Unterdessen schenkte Kostja Solowjow – sofern das die Kerze erlaubte, die auf den Fernseher gestellt worden war und als einzige Lichtquelle diente – den Damen Sekt ein. Das elektrische Licht hatten sie selbstverständlich ausgeschaltet.

„Werte Damen“, wandte sich Rostislaw Borissowitsch an die kleine Versammlung und ignorierte dabei ungewollt die Gegenwart Solowjows. „Das, was Sie hier erzählen, ist alles teuflisch spannend. Jedoch erzählen Sie Erlebnisse von anderen, und nicht von sich selbst. Solange meine Angetraute schläft, werde ich Ihnen eine erstaunliche Geschichte erzählen, die mir persönlich zugestoßen ist. Ich garantiere Ihnen, es wird Ihnen kalt den Rücken hinunterlaufen, bis in die Zehenspitzen.“

Die Damen wirkten merklich belebt. Rostislaw Borissowitsch befürchtete offenbar, die Erwähnung seiner schlafenden Frau könne die Zuhörer auf falsche Gedanken bringen. Schnell erklärte er:

„Nein, nein, Margo kennt diese Geschichte vorzüglich. Und überhaupt bin ich für Vieles dankbar … Sie haben keine Vorstellung, wie sie mich seinerzeit unterstützte. Ich hatte nach diesem Ereignis einen furchtbaren Nervenschock. Doch sie hat mich aufgepäppelt und wieder auf die Beine gebracht. Ich scheue mich nicht zu sagen: Sie hat mich gerettet.“

Er richtete ihre schwarze Perücke aus echtem europäischen Haar, die ein wenig zur Seite gerutscht war.

„Lassen wir sie ruhig schlafen“, sagte Rostislaw Borissowitsch sanft. „Vor Zeiten hat sie bei mir als Krankenschwester gearbeitet.“

„Lassen wir sie, lassen wir sie“, stimmten die Anwesenden zu. „Erzählen Sie Rostislaw Borissowitsch, es ist so interessant.“

Rostislaw Borissowitsch begann mit seiner Geschichte:

„Es begab sich in der Stadt Perwomaisk. Ich …“

Sofort unterbrach Solowjow:

„In welchem Perwomaisk? In dem, das heute Staroskudelsk heißt?“

„Der Mann kennt sich aus“, bemerkte Rostislaw Borissowitsch zufrieden. „Staroskudelsk, das ist der historische Name der Stadt. Jetzt sagen Sie bloß nicht, dass Sie da schon mal waren.“

„Ob ich schon mal da war? Geschuftet habe ich da, bei der dortigen Zeitung! Vor 15 Jahren.“

„Sieh mal an“, rief Rostislaw Borissowitsch und weckte beinahe seine Frau. „Haben Sie gehört?! Genau wie ich … vor 15 Jahren bin ich in diese Situation geraten!“

„Haben wir uns seinerzeit getroffen?“ Solowjow runzelte die Stirn und versuchte angestrengt, sich zu erinnern.

„Ausgeschlossen. Ich war nur wenige Stunden in Perwomaisk. Am 31. Dezember übrigens! Und ich habe dort mit niemandem gesprochen außer mit zwei Menschen. Aber sagen Sie: Wo Sie bei der Zeitung gearbeitet haben, müssten Sie doch eigentlich wissen, ob in Perwomaisk damals Menschen spurlos verschwanden?“

„Zu dieser Zeit verschwanden in ganz Russland Menschen, überall gab's Ärger“, antwortete Solowjow ausweichend.

„Nein, ich meine in Perwomaisk, in Perwomaisk?“, bohrte Rostislaw Borissowitsch weiter. „Hat es dort vielleicht einen Massenmörder gegeben, oder besser gesagt mehrere Massenmörder?“ 

Der ob der Frage verblüffte Solowjow murmelte:

„Nun ja, ich habe dort nur vier Monate gearbeitet. Zu Neujahr hin bin ich nach Moskau gezogen …“

„Ach so, ja“, schloss Rostislaw Borissowitsch, „dann können Sie es gar nicht wissen …“

Die Damen waren unterdessen über alle Maßen neugierig und verlangten beinahe im Chor, umgehend mit der Geschichte zu beginnen.

„Nun gut, es begab sich in Perwomaisk“, wiederholte Rostislaw Borissowitsch, trank dann in aller Ruhe sein Glas Sekt aus und betrachtete aufmerksam seine Frau: Margarita Makarowna schlief seelenruhig und füllte gleichmäßig das ganze Volumen des Sessels aus.

Und er setzte die Geschichte fort.

„Entschuldigen Sie den Vergleich, liebe Freunde, aber wer war ich denn? … Ich war eine Motte, die ins Feuer flog. Eine Motte!

Stellen Sie sich vor, sie hieß Faina. Ich habe nie wieder eine Faina getroffen.

Begonnen hatte alles ein bisschen früher … etwa drei Monate vor Neujahr.

Ich werde nicht erzählen, unter welchen Umständen wir uns kennengelernt haben, obwohl, warum eigentlich nicht? Es war in Glinsk, am Bahnhof, ich musste nach Moskau, und sie, wie ich erfuhr, nach Perwomaisk, sprich in das heutige Staroskudelsk. Wir standen an unterschiedlichen Schaltern, meine Reihe war schon fast durch, und sie hätte noch lange stehen müssen. Sie las in einem Buch. Sie sah mich nicht, obwohl ich unterdessen zweifle, wer wen zuerst bemerkt hatte, ich bin mir heute nicht einmal mehr sicher, dass sie wirklich so schön war, wie mir damals schien. Vielleicht war ich als erster bemerkt worden, ausgewählt aus der Menge – vielleicht war ich gar Opfer eines psychologischen Tricks wie bei den Darbietungen, zu denen Zigeunerinnen fähig sind. Ja, sie hatte so etwas Zigeunerisches an sich, vor allem natürlich die Augen. Die waren schwarz wie ich weiß nicht was … wie zwei Löcher ins Nichts. Aber die Augen sah ich erst einen Moment später, aus der Nähe dann. Nun gut, ich starrte sie an, was im Leben, so will ich zugeben, gewöhnlich nicht meine Art ist: Frauen in der Menge zu beäugen. Aber ich starrte wie ein Wahnsinniger, ja, drehte mich sogar in die Gegenrichtung der Schlange, in der ich anstand, nach ihr um – sehe mich um und wundere mich so bei mir: Warum schauen die anderen sie nicht an? Denn niemand schaute. Ob das wohl etwas bedeutet? … Tja, und genau darum wird es jetzt gehen.

Die Situation war also folgende. Sie blickt ins Buch, und ich blicke sie an. Plötzlich unterbricht sie ihre Lektüre, als würde sie spüren, dass man sie beobachtet, und treffsicher, ohne jedes Suchen, feuert sie ihren Blick in meine Richtung. Und was mache ich? Ich mache ihr mit der Hand ein Zeichen, nach dem Motto, hier, Sie können herkommen, kommen Sie doch bitte vor mich, ich lasse Sie vor. Und sie wechselt, nach einer Sekunde des Zweifelns, in meine Schlange, stellt sich vor mich hin, sendet mir mit dem Blick ein Danke, und ich tauche ein in ihre Augen, sage in die Leere hinein zu irgendjemandem: ‚Wir gehören zusammen.‘ Als ich wieder auftauche, bemerke ich, dass sie das Buch wegsteckt in ihre Handtasche, und da, wissen Sie, sehe ich so ein Scheusal auf dem Umschlag und den Titel: Der Schlächter kommt am Montag. Ich frage sie: ‚Interessant?‘ ‚Ich bitte Sie‘, antwortet sie. ‚Unglaublicher Stuss!‘ ‚Und warum lesen Sie es dann?‘ Und wissen Sie, was Sie darauf geantwortet hat? Sie antwortete: ‚Ist ganz lustig.‘

Es dauerte lange, bis ihr Fahrschein nach Perwomaisk ausgestellt war, zu jener Zeit gab es in Glinsk am Bahnhof noch keine Computer, ich bin mir nicht mal sicher, ob die jetzt welche haben. Die Fahrkartenverkäuferin telefonierte mehrmals, erkundigte sich nach freien Plätzen, und ich stand hinter ihr … aber nein, nicht hinter der Fahrkartenverkäuferin, was sollen solch dumme Fragen? Jedenfalls stand ich hinter ihr und konnte mich gerade so zusammenreißen, sie nicht zu umarmen, ihren Hals mit den Lippen zu berühren.

Sehen Sie, ich bin ganz offen zu Ihnen. Anders wird das nichts mit der Geschichte.

Nun, wir gingen hinaus auf den Bahnsteig, laufen zu dem kleinen Bahnhofspark, mit Getränkebuden, einem Tulpenbrunnen aus Beton, mittlerweile außer Betrieb, Ahornbäume stehen dort, und sie sagt mir: ‚Warum sind Sie so traurig? Seien Sie nicht traurig.‘ Ich halte mich wacker: ‚Wer hat Ihnen denn gesagt, dass ich traurig bin?‘ Sie sagt: ‚Das sieht man doch.‘ Ich hatte damals tatsächlich eine Pechsträhne, ich hasste den gesamten Erdball und wollte nicht mehr leben. Ich hasste meine Patientinnen und Milchdrüsen, ja überhaupt praktizierte ich in der Zeit erbärmlich wenig … ‚Seien Sie doch nicht traurig, schauen Sie, wie schön es ist.‘ Und es war, warum auch immer, einfach schön: Herbst, Blätter fallen (nur vom vollgerotzten Bahnsteig musste man absehen). Und da ging ich plötzlich aus mir heraus und begann von mir zu erzählen. Was war nur über mich gekommen? Später zog es mich dann zu ganz abstrakten Dingen: Glück, Schicksal, ich weiß nicht, was ich sonst noch faselte, Banalitäten wahrscheinlich. Jedoch hörte sie mir sehr aufmerksam zu, deswegen erzählte ich überhaupt, weil ich sah, wie sie mir zuhört.

Ich weiß nicht, welcher Zauber dort auf mich niederging, doch sie ließ auch einen sehr beliebten kleinen Kniff nicht aus, das Täubchen. Der ist Ihnen sicher wohlbekannt, meine werten Damen: Dem Bruder kann man am besten schmeicheln, wenn man ihm sagt, wie einzigartig er ist. Im Extremfall heißt es dann: ‚Ach, mein Lieber, es war noch nie mit jemandem so schön wie mit dir‘, aber auch ein Loben unserer kleineren Vorzüge erzeugt Gegenliebe. Ich schmolz nur so dahin, als sie meine Art, Gedanken Ausdruck zu verleihen, nun ja, als einzigartig empfand. Sie gestand mir Talent zu, Geistesschärfe sozusagen, etwas Paradoxes. Noch nie hätte sie dergleichen von jemandem gehört. Ja, ich hätte ihr gleichsam die Augen geöffnet für die menschliche Natur. Nachgerade ein Glück, dass es mich gebe auf der Welt.

Was konnte ich dazu sagen? Ja, nichts. Aber ich hatte sie auf eine Art tief berührt, so viel war klar. Irgendwie.

Ich erinnere mich nicht mehr, wie wir Telefonnummern ausgetauscht haben, ja, haben wir das überhaupt? Wie dem auch sei, meine Brieftasche mit ihrer Adresse und Telefonnummer wurde mir im Zug nach Moskau gemopst; aber sie hatte meine Nummer wohl noch.

Nun, wir hatten uns insgesamt ungefähr 40 Minuten unterhalten. Ihr Zug kam, ich brachte sie zu ihrem Wagen. Beim Abschied küsste sie mich, als gehörte ich zur Familie. Hätte sie mich gelockt, wäre ich mit ihr nach Perwomaisk gefahren. Merkwürdig, dass ich nicht gefahren bin – in Moskau hatte ich damals nicht wirklich etwas zu tun.

Wahrscheinlich war mir ein anderes Datum beschieden.

Sie hatte mich hypnotisiert, das sage ich Ihnen. Verlieben konnte ich mich nicht, ich konnte nicht. Das ist nicht mein Stil. Ich kenne mich ja.

Unterdessen geschah dann etwas mit mir, ich sage euch!

Ich komme in Moskau an – wie ausgewechselt, nicht ich, ein anderer Mensch. Frauen interessierten mich als Frauen überhaupt nicht mehr, außer einer, der aus Perwomaisk. Und gleichzeitig überfiel mich, entschuldigen Sie, ein solch sexueller Hunger, oder Hitze? Dass ich besser nicht davon spreche, sonst werde ich noch unflätig. Sie wissen selbst, Ärzte sind Zyniker, und ich bin da keine Ausnahme, aber das hier war ein Teufelsspuk! Oh, wie ich meine Phantasien anheizte! Wie ein pickliger Gymnasiast und kein 35-jähriger Doktor der Medizin! Seien Sie so lieb und sagen Sie: War sie nach all dem zu urteilen nicht der Satan?

Bald hörte es allerdings auf.

Doch nicht für lange.

Nach dem 20. Dezember ein Anruf. Ich traue meinen Ohren nicht: Faina! Lädt mich ein, in Perwomaisk mit ihr und ihrem jüngeren Bruder ins Neue Jahr zu feiern. Lädt mich einfach so ein. Als wäre es eine Straße weiter.

Ich frage Sie: Was bedeutet diese Geste? Eindeutig bedeutet sie mehr als eine einfache Einladung. Ich erinnere mich hervorragend, wie erstaunt ich war – und ich muss zugeben, höchst angenehm erstaunt – über meine Entschiedenheit. Denn ich hatte nicht eine Sekunde Zweifel, ob ich fahren sollte. Ja mehr noch, es ergab sich sogar, dass ich die Initiative ergriff und nicht sie. Denn wie hatte sie noch gesagt? ‚Warum‘, sagte sie, ‚wollen wir nicht einfach Silvester zusammen feiern, Sie, mein jüngerer Bruder und ich?‘ Verstehen Sie, es war eine Frage, einfach nur eine Frage. Und ich presche gleich vor: ‚Oh‘, sage ich, ‚das ist ja eine großartige Idee!‘ ‚Dann kommen Sie doch. Wir freuen uns auf Sie!‘

Und ich fuhr los. Am 31. Dezember. Was heißt hier fuhr – ich fuhr nicht, ich raste von dannen! Und hätte mir jemand damals gesagt, ich sei verhext, hätte ich dem Halunken ins Gesicht gespuckt, so wahrhaft erschien mir mein Trieb und Drang.

Nein, ich lüge. Als ich mich Perwomaisk näherte, waren da Zweifel, ja. Das war schon alles arg glatt gelaufen. Vielleicht habe ich mir das auch später zurechtfantasiert, aber meines Erachtens, nein. Da war diese beunruhigte Gedanken-Neckerei: Wirst ja sehen, mein Täubchen. Wenn du jetzt auf den Bahnsteig trittst, steht dort statt der Schönen mit schwarzen Augen eine zahnlose buckelige Alte mit langer Nase: ‚Na, Söhnchen, hast du’s hergeschafft?‘

Und wissen Sie, sollte mir damals tatsächlich ein derart unsinniger Gedanke gekommen sein, so muss man eingedenk des danach Erlebten zugeben, dass er nicht einfach so über mich gekommen war … Aber alles hübsch der Reihe nach!

Ich wurde abgeholt. Ich trat auf den Bahnsteig und erblickte sie, und sie erschien mir noch anziehender als damals in Glinsk. Sie trug einen langen schwarzen Mantel mit zwei Reihen gigantisch großer Knöpfe, eine Kopfbedeckung trug sie nicht, und die Widerwärtigkeit, die da vom Himmel fiel und Schnee in keiner Weise glich, verwandelte sich wie durch ein Wunder in bezaubernde smaragden funkelnde Tautröpfchen in ihrem dichten schwarzen Haar. Der Winter war kein Winter, irgendein Mumpitz war das. Neujahr bei plus vier Grad!

‚Darf ich euch vorstellen, das ist mein Bruder Goscha.‘ Sie war also zum Du übergegangen, ohne großes Tamtam. Und ich dachte bei mir: Wunderbar!

Aus dem Fenster eines vorsintflutlichen Wolga der ersten Serie, der schon damals als Antiquität herhalten konnte, beschaute ich das abendliche Perwomaisk. Es war gegen sechs Uhr und wurde schon dunkel. Goscha saß am Steuer. Er musste durch den ärgsten Matsch fahren, alles taute und troff. Er unterhielt sich lustig mit seinem Auto, nannte es mit Namen, liebevoll Bronka, Bronetschka, Bronjascha. ‚Vom Wort bronewik [dt. Panzerwagen]‘, sagte Faina.

Ich fühlte mich mit ihnen unbeschwert.

Sie fuhren mich bis an den Stadtrand. Dort lebten sie in einem zweigeschossigen Holzhaus, das ihnen von den Eltern zugekommen war. Zimmer gab es hier unzählige, auf keinen Fall weniger als sechs. Faina gab mir eine Führung. Hier war das Zimmer der verstorbenen Eltern, da nicht hineingehen, hier Goschas Zimmer, hier Goschas Fotolabor mit einem riesigen Vergrößerungsapparat, der aussah wie ein uraltes Röntgengerät … Man muss anmerken, dass ich nicht geschafft habe, Goschas Fotoarbeiten anzuschauen (ich kann mir vorstellen, was für Fotos das waren!).

Nein, Goscha gefiel mir damals durchaus, aber unterdessen kann ich mit aller Bestimmtheit sagen, dass er einem Psychopathen mehr ähnelte als sie. Erstens bekundete er seine Zuneigung mir gegenüber fast schon überdeutlich. Zweitens hatte er einen recht vielsagenden Blick, als würde er etwas wissen, es aber nicht sagen. Drittens schielte er stark, was ihn übrigens nicht daran hinderte, Auto zu fahren, doch es störte mich beim Unterhalten: Ich wusste nie, welches Auge ich anschauen sollte, wenn ich mit ihm redete; eigentlich ja das, was dich anschaut, aber es schauten beide vorbei.

Man muss gerechterweise anmerken, dass ich nicht viel mit Goscha sprach. Er zielte die ganze Zeit darauf ab, mich mit Faina allein zu lassen. Meiner damaligen Wahrnehmung nach lief zwischen Faina und mir auf wundersame Weise alles wie von selbst, ganz unverkrampft von beiden Seiten. Als hätten wir bislang nicht nur eine Stunde miteinander verbracht, sondern ein halbes Leben. Ganz sicher, ohne Hypnose wäre das nicht zu bewerkstelligen gewesen. Zwar bin ich Brust-Facharzt, doch verstehe ich auch etwas von Psychologie. Ich habe sogar eine Theorie zu dem Ereignis, aber ich werde die jetzt nicht ausbreiten. Ich fühlte mich in ihrem Haus unbefangen, und sie war nicht befangen ob meines Erscheinens. Als wäre ein Ehemann nach langer Trennung wieder bei seiner Frau. Und zwar lang erwartet. Ich gehörte in dieses Haus, obwohl ich alles hier zum ersten Mal sah.

Goscha lärmte in der Küche mit den Töpfen, als sie mir mein Zimmer zeigte. Alles hergerichtet, alles geputzt. Ein wenig störte mich, so erinnere ich mich, die knallrote Bettdecke: Konnte diese Farbe etwas bedeuten? Doch ich gebe zu, dass mich in diesem Moment die Breite des Bettes deutlich mehr interessierte, weil man an diesem Parameter indirekt auf die Absichten der Hausherrin schließen konnte. Das Bett war keinesweg ein Einzelbett … Mir schien, als läse Faina meine Gedanken, so warf ich ihr schnell einen Blick zu – und sah, ja, sah den Schatten eines Nachtfalters auf ihren Lippen ... Beinahe hätte sie sich verplappert. Und da nahm sie mich bei der Hand und führte mich in den Korridor. Und flüsterte mir ins Ohr: ‚Weißt du, ich bin sehr froh, dass du gekommen bist.‘ Sie lief den Flur hinunter, ich hinter ihr her, und dort schaffte ich das, was ich damals nicht geschafft hatte am Fahrkartenschalter: Ich umarmte Faina, hielt sie fest. So, um den Bauch herum. Ohne sich umzudrehen, befreite sie sich sanft aus meiner Umarmung und sagte: ‚Auf den Tisch.‘ Es hätte natürlich heißen müssen: ‚Das Essen muss auf den Tisch‘, und sie lief weiter, zog mich hinter sich her in ihrem einzigartigen Spannungsfeld ungetümer Anziehungskraft.

Wir deckten zu dritt den Tisch, ich machte mich ehrlich gesagt eher zum Hampelmann, denn Salat Olivier und Hering im Pelz aus dem Kühlschrank zu holen, erschien mir nicht als schwere Arbeit. Sie hatten viel Essen vorbereitet. In diesem Jahr war, wenn Sie sich entsinnen, in unserem Land die Versorgungslage nicht sehr üppig. Aber ein voller Tisch zu Neujahr ist heilig. Allen. Auch ich hatte etwas mitgebracht, ich weiß noch, eine Dose Kaviar, Wodka und Sekt. Unter den Baum hatte ich unauffällig zwei Päckchen gestellt, Geschenke für die beiden. Aber Goscha entdeckte sie: ‚Sieh an, sieh an, Väterchen Frost war schon da und hat uns was gebracht.‘ Worauf sie mit Fragen antwortet: ‚Und unsere Überraschung von Väterchen Frost? Sollen wir jetzt? Oder später?‘ ‚Ach komm, jetzt‘, sagt Goscha.

Da gebieten sie mir, im Zimmer zu bleiben, und gehen die Überraschung holen. Mir, das will ich nicht verbergen, ist angenehm zumute. Ich warte. Freue mich, wie sie miteinander umgehen.

Gut gehen sie miteinander um. Sehr freundschaftlich. Verstehen einander fast wortlos. Kommunizieren allerdings irgendwie merkwürdig, schauen einander fast nicht an, jedenfalls nicht in meiner Anwesenheit, doch das ist jetzt schon sehr spitzfindig … Damals maß ich dem keine Bedeutung bei, aber jetzt denke ich: Wollten sie deswegen das volle Ausmaß ihres blinden Verständnisses füreinander vor mir verbergen, weil ich sonst den ganzen Komplott durchschaut hätte?

Doch seinerzeit konnten mir solche Gedanken nicht kommen. Ich war so glücklich wie sonst niemand auf der Welt. Und mir schien, dass mit mir gerade etwas außerordentlich Wichtiges und Nötiges geschähe, dass ich ein anderer Mensch würde und nie mehr würde so leben können wie vorher. Eine stille Freude erfüllte mein Sein. Und die ganze Welt erschien mir in diesen Minuten sauber, schön – als wäre der Staub mit einem weichen Pinsel entfernt.

Obwohl, ein Anflug von Merkwürdigkeit blieb, muss man zugeben. Wie auch anders? Es war alles so leicht und glatt gegangen, ohne die geringste Anstrengung.

Ich höre: Oben geht jemand, etwas wird bewegt, die Überraschung geholt.

Da fällt mir ein, dass ich den Wodka nicht ins Eisfach gepackt habe.

Ich nehme die Flasche, gehe zum Kühlschrank, öffne die Kühlschranktür … (Schon einige Male war ich an diesem Abend am Kühlschrank, aber kein einziges Mal hatte ich das Eisfach geöffnet.) Kurz, ich öffnete das Eisfach.

Nuun ja.

Fast ein Jubiläum: Es ist genau fünfzehn Jahre her, dass ich das Eisfach öffnete. Wollte man ganz genau sein, fünfzehn Jahre und vier Stunden, plus minus zehn Minuten.

Viel viel Wasser ist den Fluss hinuntergeflossen, und viel ist passiert! … Zum Beispiel, geheiratet habe ich. … Nun ja … Margarita Makarowna …

Der Nervenschock … Wenn sie nicht gewesen wäre …

Nun gut, Entschuldigung … Ich habe eine ungefähre Vorstellung, welche Gedanken Sie bezüglich des Eisfachs beschleichen – und bestimmt trifft einiges davon zu, aber nur einiges. Ich bin bereit zu wetten, um was Sie wollen, dass Sie auf keinen Fall draufkommen, was da im Eisfach war.

Eben! Zwei Schuhe standen da! Zwei niegelnagelneue schwarze Schuhe! Reifbedeckt!

Da sieh mal einer an!

Ich schloss den Kühlschrank, nicht einmal den Wodka hatte ich reingestellt, setzte mich auf den Stuhl und wollte nachdenken. Völlige Starre! Kein einziger Gedanke. Keine einzige Erklärung! Theoretisch vorstellbar war, dass man im Zustand grenzwertiger Verwirrtheit einen Schuh hineinstellt ... ! Aber nur einen! … Hier aber standen zwei!

Vielleicht ein Scherz? Aber worin lag der Witz?

Mir platzte fast der Kopf. Mir war, als würde ich durchdrehen … Das musste eine Halluzination gewesen sein. Ich traute mir selbst nicht mehr.

Ich öffnete den Kühlschrank noch einmal … die Schuhe! Ich schaute genauer hin und erkannte Socken, die ein kleines Stück aus den Schuhen herausguckten. Ich nahm einen Schuh in die Hand und spürte, dass er keineswegs leer, dass er ausgefüllt war! Ich nahm ihn aus dem Eisfach, schaute hinein und sah eine Eisfläche auf Höhe des oberen Randes … Verstehen Sie? Ein Schnitt, ein glatter, vereister Schnitt! Unmenschliches Grauen durchströmte mich, fast verlor ich das Bewusstsein!

Binnen eines Augenblicks fiel mir Unterschiedlichstes ein: ihr Buch über irgendeinen Schlächter, die blutrote Bettdecke, die Zweimann-Blattsäge, die ich übrigens an der Haustür gesehen hatte … Und kleine Wortwechsel fielen mir wieder ein, wie: ‚Die Tanne steht irgendwie schief.‘ ‚Weil sie schief gefällt wurde!‘ ‚Und wessen Schuld ist das?‘ ‚Wir haben die doch zusammen gefällt!‘ ‚Du bist mir ein schöner Holzfäller.‘ ‚Und du?‘

So einiges fiel mir jetzt noch ein.

Ihre Schritte kamen näher. Sie standen schon an der Tür – mit ihrer unseligen Überraschung. Ich hörte, wie sie einander etwas zuflüsterten, wie sie vor der Tür etwas miteinander besprachen …

Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Es war, als würde mir eine Stimme sagen: ‚Rette dich, du Narr!‘

Und ich stürzte zum Fenster – das Fenster war verschlossen! Mit voller Wucht stürzte ich mich gegen den Rahmen, ein Doppelrahmen, und zusammen mit beiden Rahmen flog ich hinaus, hinein in den Garten! Wie das ohne Schnittwunden abgehen konnte, unbegreiflich!

Ich sprang über den Zaun und weiter durch den ganzen Perwomaisker Neujahrsmatsch ab Richtung Bahnhof! Zum Glück war das Geld in der Hosentasche – und die Jacke, die war halt dageblieben.

Ich hatte Glück: Um viertel vor Zwölf ging ein Zug. Ich löste eine Fahrkarte für den ersten Wagen, dort feiern die Zugbegleiter Neujahr. Niemand sonst, ich bin der einzige Fahrgast! Der einzige im ganzen Zug! Sie schenkten mir Wodka ein, gekühlten. Meine Hände zitterten. Ich erzählte von meinem Erlebnis. Die Zugbegleiter waren verwundert und sagten, ich sei wohl gerade nochmal davongekommen. Das also ist die Geschichte.“

Von Rostislaw Borissowitschs Geschichte ergriffen, verfielen die Zuhörer eine Minute in Schweigen. Die Kerzenflamme zog die Blicke magnetisch an. Man wartete, ob Rostislaw Borissowitsch dem Gesagten nicht noch etwas hinzufügen würde. Er fügte nichts hinzu. Nur ganz leise, kaum merklich schnaufte im Schlaf Margarita Makarowna.

Das Schweigen brach Jelena Grigorjewna aus dem anderen Block, eine Steuerprüferin ersten Ranges. Sie ließ vorsichtig verlauten, dass Rostislaw Borissowitsch das Publikum arglistig düpiert, schlicht gesagt, reingelegt hätte – seine Geschichte sei ja doch recht unwahrscheinlich.

Proteste waren zu vernehmen. Es wurde erklärt, dass die Erzählung Rostislaw Borissowitschs doch viele Details enthalte, die man sich unmöglich ausdenken könne. Beispielsweise, die Schuhe im Eisfach … Wenn er nun im Eisfach keine Schuhe, sondern … etwas Gewöhnlicheres gefunden hätte, ja dann hätte man vielleicht die Glaubwürdigkeit der Geschichte in Zweifel ziehen können … Aber Schuhe! Was soll das? Wofür ist das gut? So etwas kann man sich unmöglich ausdenken!

Man versuchte Rostislaw Borissowitsch das Geheimnis der Schuhe zu entlocken, doch er verweigerte sich der Interpretation seiner eigenen Geschichte, hatte er zu dieser Angelegenheit doch selbst keine sinnvollen Ideen. Außerdem noch diese Überraschung … was für eine Überraschung? Wozu?

„Hier ist vieles sehr irrational“, sagte Rostislaw Borissowitsch. „Ich bin für gewöhnlich ein denkender Mensch, aber hier sollte man das Nachdenken lieber sein lassen.“

Ob er sich denn an die Polizei gewandt habe, wurde er gefragt.

„Nein. Ich weiß nicht warum, aber irgendetwas hat mich davon abgehalten.“

Beklommenheit war zu spüren. Gar Empörung.

Da erhob sich Solowjow, der bislang geschwiegen hatte. Er trat in die Mitte der Halle. Hinter seinem Rücken brannte die Kerze, sein Gesicht lag im Schatten. Doch sogar dem fast unsichtbaren Gesicht Solowjows war anzusehen, wie aufgewühlt er war.

„Rostislaw Borissowitsch, Sie haben völlig richtig gehandelt, dass Sie das nirgends gemeldet haben.“

Klangbild von kollektivem Unverständnis. Lärm.

„Ich bin erschütterter als Sie alle zusammen!“, rief der Sportjournalist Solowjow. „Welch ein unglaublicher Zufall! Welch fantastische Entsprechung! Wissen Sie, wer an all dem Schuld ist? Ich! Ganz allein ich! Doch zunächst eine Bemerkung ... Das, was Sie für Socken hielten, die aus den Schuhen ragten, waren Plastiktütchen, ich versichere es Ihnen! Ich will es erklären! Hören Sie bitte alle zu! Als ich bei der Zeitung gearbeitet habe, leitete ich dort das Ressort: ‚Tipps für den Haushalt‘! Die gab es in allen Zeitungen. Erinnern Sie sich? Nun, ich will es Ihnen erklären … Stühle zerkratzen den Fußboden! Was ist zu tun? Stülpen Sie einfach die Plastikdeckel von Weinflaschen über die Stuhlbeine! Oder: Sie haben Stecknadeln verschüttet? Nehmen Sie einen Magnet. Bitte sehr: Sie wollen Herrenschuhe polieren … Wunderbar! Alte Feinstrumpfhosen, und das Problem ist gelöst! Und wenn die Schuhe drücken? Nun, da fiel mir doch glatt ein, wie noch zu Schulzeiten mein Nachbar vom selben Treppenabsatz mir beigebracht hat, die Schuhe zu weiten … und ich brachte es in der Zeitung! Sehr einfach: Stopfen Sie ein Plastiktütchen in den Schuh, füllen Sie Wasser rein und stellen Sie den Schuh in das Eisfach Ihres Kühlschranks! Das Wasser gefriert und dehnt sich dabei aus.“

„Das darf doch nicht wahr sein!“, bemerkte Rostislaw Borissowitsch laut und stand jäh auf.

„Ich versichere es Ihnen, das ist ein physikalisches Gesetz. Das Eis dehnt sich aus, und die Schuhe weiten sich!  War es vorher Größe 40, so ist es danach Größe 41! Wir hatten dermaßen viele Reaktionen auf diesen Artikel, ich sage Ihnen! Einige wollten es auch nicht glauben, sagten, das könne doch nicht sein, vielleicht dehne sich ja das Eis aus, dafür müsse sich doch aber eigentlich das Leder zusammenziehen?! Nix da! An mir selbst erprobt! Was wollen Sie denn? Damals war nach Perwomaisk nur Größe 40 geliefert worden. Ich weiß das noch. Und was, wenn man 41 hat? Oder 42? Ja, bei uns in Perwomaisk standen nach meinem Artikel in jedem zehnten Haushalt Schuhe im Eisfach! Und Sie reden von ...!“

Die letzten Worte sprach Solowjow schon ohne Rostislaw Borissowitsch.

Rostislaw Borissowitsch, der keinen Mucks mehr von sich gab, verließ die Halle. Niemand bemerkte es, so weggetragen waren alle von Solowjows Monolog.

Das Licht ging an.

Da wachte auch Margarita Makarowna auf.

„Kaum trink ich Sekt, schlaf ich ein.“ Auf ihren Lippen war ein Lächeln entstanden: „Von einem Garten habe ich geträumt … Afrika? Alles voller Zitrus …“

Jelena Grigorjewna, eben jene Steuerprüferin, ging an Solowjow vorbei und ließ nebenbei fallen:

„Das war ja wohl völlig unnötig. Hätte er doch lieber weiter mit seinem Geheimnis gelebt.“

„Wo ist denn mein Mann? Schon wieder verschwunden?“ Margarita Makarowna dämpfte mit der Hand ein unerwartetes Gähnen. „Und was läuft in der Kiste?“

Rostislaw Borissowitsch wurde unterdessen schon in allen Stockwerken gesucht. Er war nirgends aufzufinden.

Margarita Makarowna erhob sich schwer aus dem Sessel und schob sich langsam zum Fernseher.

Der Bildschirm blitzte auf. Es gab die nächste Truppe von Komikern.

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✵ Neujahr ✵ Новый год ✵

Ein geschmückter Tannenbaum mit wechselvoller Geschichte, ein überquellender Festtagstisch und der Fernseher als ständiger Begleiter: Das russische Neujahrsfest versammelt besinnliche und kuriose Traditionen aus verschiedenen Epochen. Nachdem Peter I. versucht hatte, erste Traditionen zum Jahreswechsel zu begründen, hielten im 19. Jahrhundert die europäischen Weihnachtsbräuche in Russland Einzug. Von den Bolschewiki als bürgerlich geschmäht und gleich darauf wieder zum Leben erweckt, verbanden sie sich mit dem konfessionsübergreifenden Neujahrsabend zu einem vergnüglichen, unverwechselbaren Fest.

„Es gibt die Anweisung, das Neujahrsfest fröhlich zu begehen,“ erklärt Genosse Ogurzow, seines Zeichens Verantwortlicher für die Durchführung der Festlichkeiten in einem sowjetischen Kulturpalast. In diesem bürokratischen Ausdruck, der die Zuschauer des Kinofilms Karnevalsnacht (Regie: Eldar Rjasanow, 1956) ohne Zweifel zum Lachen brachte, spiegelt sich die ganze Widersprüchlichkeit dieses Feiertags: Einerseits ist Neujahr ein Familienfest. Es ist der am wenigsten offizielle aller offiziellen Feiertage, das am wenigsten „problematische“1 Fest und daher das einzige, das alle feiern –  unabhängig von Konfession und politischer Einstellung. Es hat „fast alle seine Geschwister des sowjetischen Feiertagskalenders überlebt“.2 Andererseits ist Neujahr mit seinen Traditionen das Ergebnis einer politischen Entscheidung und war mehr als einmal Gegenstand leidenschaftlicher politischer Kämpfe.

In Russland sagt man oft: „Wie du das neue Jahr beginnst, so wirst du es auch verbringen.“ Dieser Aberglaube ist im sowjetischen und postsowjetischen Bewusstsein so tief verankert, dass auch die Vorbereitung des Festes zum präzise ausgeführten Ritual wird. Da das Einkaufen in der Sowjetunion oft keine leichte Unternehmung war, begannen die Vorbereitungen in der Regel schon im November: Ebenso endlose wie unvermeidliche Schlangen waren durchzustehen, um alle Zutaten für Festtagsgerichte und Geschenke für alle Familienangehörigen, Freunde und Arbeitskollegen zu besorgen, und auch das Haus wollte schließlich geschmückt sein. Obwohl in Russland mittlerweile alle Produkte in ausreichendem Maß erhältlich sind, steht man noch immer häufig an.

Der Neujahrstisch muss sich biegen unter den zahllosen Köstlichkeiten. Was genau auf den Tisch kommt, kann durchaus variieren, nicht wegzudenken sind jedoch die Salate – mit Fleisch, Fisch und Gemüse, insbesondere: Salat Olivier und Hering im Pelz – sowie der typische sowjetische Sekt Sowjetskoje Schampanskoje. Natürlich können die im Laufe mehrerer Tage zubereiteten Speisen nicht alle an einem Abend verzehrt werden. Doch der überquellende Esstisch am Silvesterabend hat weitere Funktionen als die Sättigung: Als soziales Symbol steht er für den Wohlstand der Familie, als Ritual für die Sicherung dieses Wohlstands im kommenden Jahr.

Da es in erster Linie ein Familienfest ist, wird das russische Neujahr oft mit dem europäischen Weihnachtsfest verglichen. In der Tat ist es mit Weihnachten verwandt und nimmt die weihnachtliche Symbolik auf – zuweilen wie ein Zerrspiegel. Im Unterschied zu Weihnachten geht das russische Neujahr jedoch auf eine politische Entscheidung zurück. Als Peter I. im Jahr 1699 von seiner Europareise zurückkehrte, verfügte er, den Beginn des Jahres „nach dem Beispiel aller christlichen Völker“ vom 1. September auf den 1. Januar zu verlegen. Auch sollten zum Jahreswechsel künftig Raketen abgefeuert, Feuer entzündet und die Hauptstadt mit Tannengrün geschmückt werden: Peter befahl, „auf den großen Straßen, vor ... Häusern und Toren einigen Schmuck aus Ästen und Zweigen von Fichten, Tannen und Wachholder“3 aufzustellen und bis Jahresanfang stehenzulassen. Doch trotz aller Erlasse wollten die Traditionen nicht greifen. Erst gegen Ende der 1830er Jahre kam die Tanne aus Europa nach Russland, diesmal jedoch als Weihnachtsbaum.

Nach der Oktoberrevolution war das Verhältnis zu den weihnachtlichen Traditionen der vergangenen Ära schwierig. Für die Ächtung und die spätere offizielle Anerkennung weihnachtlicher Symbolik führte man merkwürdigerweise dasselbe Argument an: Weihnachten sei ein Ritual der Bourgeoisie. Aus diesem Grund wollte man die Tradition zunächst ausrotten. Dann jedoch sollte das Proletariat eine Möglichkeit bekommen, an ihr teilzunehmen. Nach jahrelangen Diskussionen forderte der Parteifunktionär Pawel Postyschew am 28. Dezember 1935 in der Prawda: „Irgendwelche ‚linken‘ Störer haben diesen Kinderspaß als bürgerliches Unterfangen in Verruf gebracht. Diese falsche Verurteilung der Tanne muss ein Ende haben. In Schulen, Kindergärten, Pionierpalästen, Kinderklubs, Kinos und Theatern – überall soll eine Tanne stehen!“ Bereits am nächsten Tag standen einige Tannen auf Moskaus Straßen und ein reger Handel mit Bäumen hatte begonnen. Der Tannenbaum war rehabilitiert, und damit begann auch die Eingliederung vorrevolutionärer Weihnachtsbräuche in das neu erschaffene typisch sowjetische Phänomen – das Neujahrsfest.

Natürlich gibt es neben dem Tannenbaum noch andere wichtige Details. Da ist Väterchen Frost, der in sich die Figuren des Heiligen Nikolaus und des wunderlichen Alten aus dem Winterwald vereint, seine Helferin Snegurotschka, die der Sage vom Mädchen aus Schnee nachempfunden ist,4 sowie allerlei Häschen und Schneeflöckchen – die sinnbildlichen Gestalten kleiner Jungen und Mädchen. Ein unverzichtbarer Begleiter des Neujahrsfestes ist seit sowjetischen Tagen auch der Fernseher.5 Er läuft vom frühen Morgen, wenn die Vorbereitungen zum Fest beginnen, ununterbrochen bis nach Mitternacht. Alle Kanäle zeigen sowjetische Komödien, von denen einige zum unbedingten Neujahrskanon zählen – wie etwa Karnevalsnacht oder Ironija Sudby (dt. Die Ironie des Schicksals, Eldar Rjasanow, 1975). Einige Stunden vor Mitternacht beginnen dann Musikshows nach dem Vorbild der sowjetischen Sendung Goluboj Ogonjok (seit 1964, dt. etwa: Blaues Flämmchen).

Der Fernseher läuft im Hintergrund. Die Filme kennen alle auswendig, daher genügt es, bloß den Ton zu hören. Unterdessen kocht man, schneidet Salat, schmückt den Baum, verpackt Geschenke und spricht die besten Stellen mit – manchmal sogar einige Sekunden vorher. Diese rituellen Wiederholungen erzeugen die richtige Neujahrsstimmung, ohne die das Fest nicht auskommt. Ist alles vorbereitet, setzt sich die Familie an den Tisch und verabschiedet das alte Jahr, ruft wichtige Ereignisse in Erinnerung und zieht Bilanz. Einige Minuten vor dem Jahreswechsel richten sich dann alle Augen auf den Staatschef, der auf dem Bildschirm erscheint: von seinem Schreibtisch aus oder vor dem Hintergrund der verschneiten Kremlgebäude beglückwünscht er alle zum Neuen Jahr. Danach zeigt der Bildschirm die große Uhr des Kreml. Sie schlägt zwölf. Zu den Klängen der Hymne erheben sich die Gläser mit Sowjetskoje Schampanskoje und es tönt von allen Seiten:

S Novym godom, s novym stschastjem! Frohes neues Jahr, möge es Glück bringen!

 

P.S.: Die mystischen, hoffnungsvollen Stunden des letzten Abends im Jahr stehen – wie auch bei mancher Silvesterfeier in Deutschland – in ernüchterndem Kontrast zum Anblick der verwüsteten Küche am Neujahrsmorgen. Berge von Geschirr müssen gespült, halbvolle Flaschen schaler Getränke ausgegossen werden. Da nimmt es nicht Wunder, dass man erstmal einfach weiterfeiert, die Zeit für ein paar Tage anhält und den eigentlichen Beginn des Jahres – das Aufräumen – noch ein wenig hinauszögert: Meist dauern die russischen Neujahrsfeierlichkeiten bis zum 10. Januar.


1. Nikolajew, Oleg (2003): Nowy God – Prasdnik ili ozhidanie prasdnika? In: Otetschestwennyje Sapiski, 1. (Russisch)
2. ebd.
3. Zitiert nach Duschetschkina, Elena (2003): Ded Moros i Snegurotschka, in: In: Otetschestwennyje Sapiski, 1. (Russisch)
4. ebd.
5. In dem beliebtem sowjetischen Zeichentrickfilm Winter in Prostokwaschino lehnt einer der Protagonisten es ab, zur Neujahrsfeier Freunde zu besuchen, da dort der Fernseher - der „wichtigste Tischschmuck“ - nicht funktioniert
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