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Zuhause im 8-Bett-Zimmer

Backpacking, Kurzurlaub, Studi-Bude zum Semesterstart – ein Hostel ist für die meisten jungen Leute beliebter Anlaufpunkt auf Reisen oder wenn es mal kurzzeitig knapp wird mit Wohnraum. In Russland ist das Hostelleben ebenfalls bei jungen Leuten sehr beliebt. Für manche hat es in einer Millionenmetropole wie Moskau so viele Vorzüge, dass ein Schlafplatz im Achtbettzimmer besser erscheint als eine Wohnung. Manchmal über Monate oder sogar Jahre. Eine Kommunalka unter neuen Vorzeichen? Flucht vor einem Pendler-Leben am Stadtrand? Oder finanziell einfach eine Notwendigkeit?

Das Webmagazin The Village stellt drei junge Männer vor, die aus ihrem Alltag berichten.

Источник The Village

Sergej, wohnt seit über zwei Monaten im Hostel Apricot

Ich komme aus Magnitogorsk. Ich bin Akrobatik-Meister und studiere im zweiten Jahr Sport auf Lehramt. Hier in Moskau lebe ich seit über zwei Monaten in einem Achtbettzimmer. Die Leute wechseln ständig – sowohl Männer als auch Frauen schlafen hier. Meist sind wir zu viert oder zu fünft und im Hostel insgesamt über 30. Da ich schon lange in diesem Hostel lebe und alles weiß, bieten sie mir manchmal einen Nebenjob an der Rezeption an.

Ich wohne hier, weil es viel teurer wäre, eine Wohnung oder ein Zimmer zu mieten. Hinzu kommt noch die Kaution, die man beim Einzug zahlen muss. Vor allem sind relativ günstige Wohnungen nur am Stadtrand zu finden. Und ich finde, wenn ich schon in Moskau lebe, dann auf jeden Fall im Zentrum. Wenn ich etwa nach Chimki rausfahre und mich da umsehe, kommt es mir vor, als wäre ich wieder in meiner Heimatstadt in der Provinz gelandet: genau dasselbe eintönige Leben, dieselben Buden mit Obst und Gemüse. Wozu dann überhaupt wegziehen?  

Keine Frage, das Leben im Hostel bedeutet, dass ich in Moskau nichts Eigenes habe – außer mein Bett. Das steht dafür mitten in der Hauptstadt. Am Abend spaziere ich zum Roten Platz und zurück – das ist schön. Daher habe ich vor, so lang wie möglich so zu leben. Also eigentlich bis ich heirate und Kinder bekomme. Sollte ich vorher schon ordentlich Geld verdienen, werde ich mir trotzdem keine Wohnung mieten – das wäre Unsinn. Dann leg ich das Geld lieber an.

Sergej –  „Wenn ich schon in Moskau lebe, dann auf jeden Fall im Zentrum.“ – Foto © Uwe Brodrecht/flickr.com

In unserem Hostel bekommen wir gratis Tee, Kaffee und Zucker. Und es  gibt ein Schachspiel, ein Damespiel und eine Xbox. Am Abend schlage ich den anderen Bewohnern oft vor, einen Film zu gucken – dann sitzen wir alle auf dem Sofa im Aufenthaltsraum.    

Manchmal kochen wir gemeinsam und essen zusammen zu Abend.

Wenn du lange in einem Hostel wohnst, ist das untere Bett praktischer – also wenn es, wie bei uns, Stockbetten gibt. Ich stehe morgens auf, ziehe meinen Koffer unterm Bett hervor, ziehe mich an und gehe. Ja, hier gibt es keine Schränke, wie übrigens in den meisten Hostels. Aber ich komme auch ohne Schrank gut aus – meine Sachen liegen immer ordentlich im Koffer, ich muss nichts suchen.  

Klar, manchmal würde ich echt gern allein sein. Im Hostel ist das schwierig – überall sind Leute. Deswegen frage ich manchmal an der Rezeption, ob ich für ein Stündchen in ein freies Zimmer kann, einfach nur, um da ein bisschen rumzusitzen.

Ich kriege auch Besuch. Wir kochen gemeinsam, trinken Tee in der Küche, sehen im Aufenthaltsraum fern. Bis 23 Uhr ist das erlaubt.

Es gibt alles Mögliche. Aber am schwierigsten sind nicht Kinder, sondern Leute, die im Hostel absteigen und sich aufführen, als wären sie im Metropol

Außerdem habe ich angefangen, auf eigene Faust Englisch zu lernen. Daher freue ich mich, dass oft Ausländer bei uns im Hostel sind: So kann ich üben. Würde ich eine Wohnung mieten, hätte ich diese Möglichkeit nicht.   

An manche Eigenarten von Mitbewohnern gewöhnt man sich schwer. Bei uns wohnt zum Beispiel eine Vertreterin, die in einem Schneeballsystem arbeitet. Und sie will jeden Gesprächspartner da mit reinziehen. Anfangs schaffte ich es aus Höflichkeit nicht, ihr zu sagen, dass mich das alles nicht interessiert, und ich musste ihr immer wieder stundenlang zuhören.

Dann hatten wir noch einen Gast, der immer gern trank. Er kam besoffen ins Hostel, setzte sich aufs Fensterbrett, rauchte, drehte Musik auf und sang dazu. Vor Kurzem wurde er rausgeschmissen.

Und letztens lebte hier eine Familie aus Jakutien. Zum Frühstück, zu Mittag und zu Abend aßen sie Fleisch. Sie waren mit einem riesigen Koffer angereist, in dem hauptsächlich Fleisch war – damit stopften sie den ganzen Kühlschrank voll. Jeder Morgen begann mit dem Kochen von Fleisch, noch dazu war das irgendein Wild, Hirsch oder so. Der Geruch hing in der ganzen Küche.

Sie hatten auch kleine Kinder, die auf den Sofas herumhüpften, rumschrien, Zeichentrickfilme einschalteten, wenn ich Olympia sehen wollte, und einen beim Schlafen störten. Aber auch die sind ja nun wieder weg.

Es gibt alles Mögliche. Aber am schwierigsten sind nicht Kinder, sondern Leute, die im Hostel absteigen und sich aufführen, als wären sie im Metropol abgestiegen – die rümpfen wegen allem die Nase, mäkeln an allem herum.


Nikolaj, wohnt seit anderthalb Jahren im Hostel Napoleon  

Vor eineinhalb Jahren bin ich aus Rostow am Don nach Moskau gekommen. Der Ableger der Universität, an der ich in Rostow studierte, wurde geschlossen, und so musste ich nach Moskau wechseln. Zuerst wollte ich ins Studentenwohnheim ziehen, aber das war einfach gruselig, ewig nicht renoviert. Also suchte ich auf Booking.com, und dieses Hostel war das erste Suchergebnis. Es heißt Napoleon, weil der Legende nach Napoleon in diesem Haus eingekehrt sein soll. Mit der Uni hat das bei mir irgendwie nicht hingehauen, und ich hab dann eine Arbeit am Empfang eines georgischen Restaurants gefunden.

Im Restaurant arbeite ich in Schichten, von 9 Uhr bis Mitternacht. Ich bekomme dann auch den Schlüssel und kann im Lokal übernachten – so läuft das ein paarmal die Woche. An diesen Tagen zahle ich im Hostel nichts, danach komme ich zurück und nehme irgendein freies Bett. Ich habe also keinen dauerhaften Platz, sondern wechsele immer.   

Wie alle, die ständig im Hostel wohnen, kann auch ich hier im Waschsalon kostenlos Wäsche waschen und trocknen. Zucker, Salz, Waschpulver und Klopapier sind hier auch gratis. Das klingt jetzt nach Kleinigkeiten, aber glauben Sie mir, das Leben wird viel einfacher, wenn man nicht an diese Dinge denken muss. Dazu kommt noch, dass im Hostel die Zimmer geputzt werden, und ich muss nur mein Geschirr spülen.  

Ich wohne in einem gemischten Achtbettzimmer – also mit Männern und Frauen. Abgesehen von den Sommermonaten wohnen hier meistens drei bis vier Personen, hauptsächlich Männer. Weil ich mit dem Personal befreundet bin, darf ich manchmal ein leerstehendes Zimmer allein bewohnen. Außerdem darf ich als Alteingesessener ein paar Tage später bezahlen, obwohl das normalerweise 50 Rubel Strafe pro Tag kostet.    

Dieses Hostel gefällt mir wegen seiner Lage – direkt im Stadtzentrum. Ein Katzensprung bis zum Roten Platz, rundherum Clubs und ein Dixi-Supermarkt.

Ein paarmal habe ich schon erlebt, wie sich unter Dauergästen Pärchen gebildet haben. Im Grunde war ihr Alltag nicht viel anders als bei Paaren, die zusammen leben: Sie kommen von der Arbeit, kochen was, sehen im Aufenthaltsraum fern und gehen schlafen. Nur dass das eben alles im Hostel geschieht und nicht zu Hause. Ich hatte auch schon eine Beziehung mit einem Mädchen aus dem Hostel. Wir kamen zusammen, als ich hier einzog – sie wohnte hier schon mit ihrer Mutter. Wir schliefen zusammen hinter einem Vorhang in einem gemischten Achtbettzimmer. Das ist erlaubt, wenn du für die zweite Person die Hälfte zahlst. Später habe ich dann erfahren, dass sie zusammen mit ihrer Mutter in Bars junge Männer abzockt. Naja, wir waren nicht lange zusammen.

Zuerst wollte ich ins Studentenwohnheim ziehen, aber das war einfach gruselig, ewig nicht renoviert. Also suchte ich auf Booking.com

Unser Hostel ist beliebt, weil hier eine Atmosphäre ist wie zu Hause – man kann sich mit anderen unterhalten, was trinken, gemeinsam rumhängen. Lärm machen wir dabei aber nicht viel – wir setzen uns in die Küche, trinken was und gehen dann aus. Wir lieben Kommunikation und Gemeinschaft: gemeinsam Filme gucken, Pokern oder Videospiele. Voriges Jahr waren viele Franzosen da, wir becherten ordentlich, hatten es lustig, sahen uns Filme an. In anderen Hostels ist alles viel strenger.      

Ich hatte schon mal den Gedanken, in eine Wohnung zu ziehen, aber dann dachte ich: „Was werde ich da tun, allein in meinen vier Wänden?“ Wenn ich ins Hostel komme, schaue ich fern, quatsche ein bisschen mit den Leuten in der Küche, spiele mit irgendwem Videospiele. Also wird es nie langweilig. Es gibt Leute, die das Alleinsein unbedingt brauchen, Privatsphäre. Aber ich bin zufrieden so – ich verhänge mein Bett mit Tüchern, und was rundherum passiert, ist mir egal. Es gab eine Zeit, da wollte ich ausziehen – Frauen mit herzubringen ist schwierig. Die Betreiber des Hostels haben zwar nichts dagegen, aber bei den Frauen kommt das nicht gut an, die wollen das nicht.

Vor einem halben Jahr hatte ich was mit einer Moskauerin am Laufen, die hat vielleicht fünf Mal bei mir im Achtbettzimmer übernachtet. Sie war nicht begeistert davon, dass hier alles gemeinschaftlich ist, sie mochte die Leute nicht. Auch wenn uns das nicht daran hinderte, das Bett mit einem Laken zu verhängen und Sex zu haben, mit allen Geräuschen. Und das, obwohl in dieser Nacht junge Sportler mit uns in einem Zimmer schliefen, Jungs und Mädchen von 13, 14 Jahren, die in Moskau ein Trainingslager hatten.

Ein Doppelzimmer habe ich im Hostel nie gemietet. Wozu auch? Ich kann auch im Achtbettzimmer ungestört tun, was ich will.

Manchmal geniere ich mich zu sagen, dass ich im Hostel lebe. Es kommt vor, dass ich Moskauerinnen kennenlerne, die anbeißen, weil ich attraktiv bin, aber wenn sie erfahren, dass ich im Hostel wohne, verduften sie schnell. Irgendwie hab ich es gut hier, aber manchmal belastet es mich, nichts Eigenes zu haben.


Wladimir, wohnt seit über einem Monat in einem Schlafsaal mit 20 Betten in einem namenlosen Hostel

Ich komme aus Asow. Von Beruf bin ich spezialisiert auf Videoüberwachung in Casinos. Ich habe einen Job im Nahen Ausland angeboten bekommen, aber als ich in die Hauptstadt kam, wurde das Angebot erstmal auf unbestimmte Zeit verschoben. Also beschloss ich, in Moskau zu bleiben, weil man mit dem Flugzeug von hier immer leicht wegkommt, hier ist meine Schnittstelle. Ich weiß nicht, wann ich das nächste Mal zu einem Projekt bestellt werde, deswegen habe ich mir keine Wohnung gesucht, sondern bin ins Hostel gegangen. Da wohne ich nun schon seit über einem Monat und arbeite erstmal auf dem Bau.

Für mich ist das Hostel eher kein Wohnheim, sondern eine Pension. Ich habe schon in verschiedenen Hostels gewohnt, und überall gibt es andere Regeln und Zustände. Zum Beispiel werden in manchen prinzipiell keine Staatsbürger aus dem Nahen Ausland genommen. In meinem vorigen Hostel stand ein klitzekleiner Fernseher, unmöglich, damit fernzusehen. Aber ich bin ein Sowjetbürger, ich bin mit Fernseher aufgewachsen, für mich ist es wichtig, am Abend kurz reinzugucken. Ja, das ist diese gute, alte Schizophrenie – durch die Kanäle zappen. Als ich also in dieses Hostel hier kam und auf einmal abends normal fernsehen konnte, das war mir schon sehr viel wert.  

Die Namen sind nicht wichtig. Die Hauptsache ist, dass man sich mit so vielen Leuten ausquatschen kann, dass es die Illusion gibt, dir hört jemand zu

Hier bei uns wohnen viele, die in Moskau studieren, aber keinen Platz im Studentenheim bekommen haben, sowas in der Art. Oder junge Moskauer, die nicht mehr bei den Eltern wohnen wollen.  

Am besten finde ich, dass am Abend immer jemand in der Küche ist, mit dem man reden kann. Man kann sich hinsetzen und über Politik, Religion, Sport oder das Leben austauschen. In der Küche darf über Gott und die Welt gestritten werden. Dort wird entschieden: Bist du ganz vorne dabei oder bist du Außenseiter? Und es wird gecheckt, bei wem es sich lohnt, zuzuhören. Man diskutiert, beharrt auf seiner Meinung, trennt sich fast als Feind  – und am nächsten Morgen wacht man auf und und raucht zusammen eine, weil man sich ja gestern in der Küche ausgesprochen hat. Der Streit ist vergessen, das war ja gestern.

Wir hier im Hostel vergessen oft die Namen voneinander – es sind zu viele, die einen reisen ab, neue ziehen ein. Es kommt vor, dass ich dieselben Mitbewohner vier Mal im Monat kennenlerne. Aber die Namen sind nicht wichtig. Die Hauptsache ist, dass man sich durch das Zusammenleben mit so vielen Leuten ausquatschen kann, dass es die Illusion gibt, dir hört jemand zu, dass deine Gedanken und Gefühle irgendwen interessieren. Mir ist das wichtig.   

Ich kann gar nicht sagen, wie viel Leute mit mir im Zimmer sind. Alle Betten sind mit Tüchern verhängt, und ich treffe die anderen nicht oft. Mädchen nehme ich nie mit hierher. Das Hostel eignet sich nicht dafür, Sex zu haben, und der einzige Ausweg wäre, sich in die Dusche zu verdrücken. Aber da muss man es schon sehr nötig haben, ein normaler Mensch wird kaum auf die Idee kommen, jemanden für Sex ins Hostel mitzubringen.

Im Grunde ist Moskau eine gute Stadt, mit dem Hostel-Leben bin ich total zufrieden. Solang ich nicht woanders eine Arbeit angeboten bekomme, bleibe ich hier.  

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Kommunalka

„Aber wo wollen Sie wohnen?“ – „In Ihrer Wohnung.” Dieser kurze aber vereinnahmende Dialog auf der Straße zwischen Berlioz und Voland, dem Teufel, in Michail Bulgakows Klassiker Meister und Margarita (1929–1940) lässt erkennen, wie fließend die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen in Sowjetrussland war.

Als dominante städtische Wohnform, als Quintessenz des stalinistischen Alltags, als fortschrittliches „Labor für den zukünftigen Kommunismus“ ist die Kommunalwohnung (auf Russisch kommunalnaja kwartira, kurz kommunalka) der Hauptschauplatz der neuen sowjetischen Lebensweise.

 Die Zuwanderer vom Land brachten ihre dörflichen Traditionen mit in die Städte – Foto © Oleg Iwanow/ITAR-TASS, 1988

Mit der Machtergreifung der Bolschewiken 1917 wurde die Enteignung und Umverteilung bürgerlicher Wohnungen symbolisch inszeniert – gleichzeitig löste man so die Wohnraumkrise, die vor allem durch eine massive Landflucht und Zuwanderung in die Städte ausgelöst worden war. Meist durften die ehemaligen Wohnungseigentümer in ihrer Wohnung bleiben und sich ein Zimmer aussuchen, die restlichen wurden von den lokalen Wohngenossenschaften beliebig an Wohnraumsuchende umverteilt: Ein Zimmer für je eine Familie.

Manchmal wohnten bis zu drei Generationen in einem im Durchschnitt 20m² messenden Zimmer, sodass sich zum Beispiel in einer relativ großen 10-Zimmer-Altbauwohnung bis zu 50 Menschen Küche, Bad und Toilette teilten. Bewohner befanden sich ständig auf der kommunalen Bühne, Nachbarn waren omnipräsent und der Raum transparent.

Bulgakow beschreibt die Situation folgendermaßen:

„Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist: Jedes Mal, wenn ich mich hinsetze, um über Moskau zu schreiben, steht der verfluchte Wassili Iwanowitsch vor mir in der Ecke. Dieser Alptraum in Jackett und gestreifter Unterhose versperrt mir die Sonne. Ich lehne die Stirn an die steinerne Wand, und Wassili Iwanowitsch liegt über mir wie ein Sargdeckel.”1

Mithin herrschten unzumutbar beengte, unhygienische und konfliktreiche Zustände, zumal die Zuwanderer vom Land nicht nur ihre Hühner, sondern auch Ihre dörflichen Ansichts­weisen und Traditionen mit in die städtischen Räume brachten.

Anfänglich war sie als Not- und Übergangslösung gedacht, bald aber etablierte sich die Kommunalka als permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand und soziale Instanz. Was die Kommunalka einzigartig unter den frühindustriellen Arbeiter­quartieren macht, ist nicht nur das erzwungene Zusammenleben einander fremder Menschen unterschiedlichster Schichten, Bildungsgrade, Regionen, Religionen etc. Die extreme Ideologisierung und Politisierung des neuen sowjetischen Alltags schuf einen komplexen und vielschichtigen (Wohn-)Raum.

Manchmal wohnten drei Generationen in einem Zimmer – Foto © Oleg Iwanow/ITAR-TASS, 1988Oft waren es die geräumigen Wohnungen wohlhabender Familien, die in Kommunalwohnungen umgewandelt und für das Zusammenleben mehrerer Familien angepasst wurden. Zwischentüren wurden vermauert oder mit Schränken zugestellt, dunkle, schmale Flure entstanden, die separaten Zugang zu den einzelnen Zimmern boten. Nicht selten wurden Badezimmer in Wohnräume umgebaut, dafür dann in den geräumigen Küchen eine Badewanne installiert. Persönliche Hausgeräte hingen oft, nach Familien geordnet und entsprechend beschriftet, an Nägeln an der Wand: Auf diese Weise waren etwa Küchenutensilien organisiert, aber auch die Toilettensitze im kleinen Raum der Toilette. Die Schwierigkeiten, die eine solche gemeinsame Nutzung der wohntechnischen Infrastruktur mit sich brachte, waren Gegenstand zahlloser Alltagsgeschichten und wurden auch in Literatur und Film immer wieder humoristisch aufgegriffen.

Dieser totale wie ambivalente Raum und die darin handelnden Akteure werden in der Forschung aus zwei grundsätzlich unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, die beide ihre Berechtigung haben: Die eine sieht in der Kommunalka vor allem ein Instrument gesellschaftlicher Kontrolle, der die Bewohner ausgesetzt waren.2 Die andere entdeckt bei den Kommunalkabewohnern eine besondere Handlungsfähigkeit, die den ambivalenten Lebensumständen entsprang: Zwischen der von außen aufgezwungenen Ideologie und der Realität vor Ort gab es gewaltige Unterschiede, also mussten die Bewohner situationsbedingt Lösungen finden, um Diskrepanzen entgegenzuwirken.3

 Dabei hatte natürlich jede/r eine eigene Meinung bzw. ein eigenes Interesse.

Welcher Aspekt auch immer im Vordergrund stehen mag: Die Kommunalka ist eine kollektive Lebensform, an die sich die Bewohner anpassen mussten, ob sie es wollten oder nicht. Als (Schicksals-)Gemeinschaft entwickelten die Bewohner eigene Regeln der Alltagsgestaltung und des Verhaltens, die sich ungeachtet der soziopolitischen und -kulturellen Veränderungen fortsetzen. Auch heute noch: Etwa ein fünftel der St. Petersburger Bevölkerung wohnt in Kommunalkas. „Immerhin waren dies die Universitäten neuer zwischenmenschlicher Beziehungen. Es gibt keinen Zweifel, es waren bittere Lehrjahre, aber es ist etwas mehr von ihnen geblieben als Küchenzank und Kerosin in der Suppe […].“4


Die Kommunalka spielt auch eine wichtige Rolle in unserer Fotostrecke für den Monat Juli. Und noch einen ganz anderen Blick auf die sowjetische Gemeinschaftswohnung gibt es in diesem sehr populären Song aus den frühen 90ern:

https://www.youtube.com/watch?v=D_mVylRi_T0

 

Pop-Band Djuna „Kommunalnaja Kwartira" – humoristischer Song aus den 90ern zum Thema Kommunalka

1.Bulgakow, Michail (1995): Moskau in den zwanziger Jahren, in: Ich habe getötet: Erzählungen und Feuilletons: Gesammelte Werke 7/I, Berlin, S. 74-87, hier: S. 79
2.Siehe Meerović, Mark (2003): Očerki istorij žilishchnoj politiki v SSR i ee realizacij v architekturnom projektirovanii (1917 - 1974 gg.), Irkutsk und Boym, Svetlana (1994): Common Places: Mythologies of Everyday Life in Russia, Harvard
3.Gerasimova, Ekaterina (2000): Sovetskaja kommunal’naja kvartira kak social’nyi institut: Istoriko-sociologičeskii analiz (na materialach Leningrada, 1917 - 1991), Promotion, European University at St. Petersburg und Evans, Sandra (2011): Sowjetisch Wohnen: Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka, Bielefeld
4.Pjecuch, Vjačeslav (1991): Die neue Moskauer Philosophie: Ein russischer Kriminalroman, München 1991, S. 127f.
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