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Musik der Perestroika

Ende März 2019 hat die britische Trip-Hop-Band Massive Attack beim sowjetischen Musik-Underground „abgekupfert“: Die Briten gaben bekannt, einzelne Lieder auf Röntgenbildern herauszubringen und so an einer Aktion gegen Zensur teilzunehmen. Tatsächlich war benutzter Röntgenfilm für die Musikliebhaber der Sowjetunion ein beliebtes Material gewesen, auf dem sie dem verbotenen Sound des kapitalistischen Westens lauschen konnten. Vinyl war nicht zu bekommen, Röntgenbilder aber schon – also kopierten die Melomany die wenigen ins Land geschmuggelten Platten darauf: Rock auf Knochen hieß der Tonträger, oder schlicht Knochen.
Der Sound war schlecht, dafür konnte man die Röntgenfolien aber zusammenrollen. Dies war beispielsweise bei Miliz-Kontrollen ganz nützlich, denn Hören und Pressen „ideologisch untragbarer“ Musik hatte Strafen zufolge: vom Schulrauswurf bis zum Gefängnis. Noch 1982 startete der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU Juri Andropow eine Anti-Rock-Kampagne. Rock schien für den ehemaligen KGB-Chef offensichtlich etwas, das sein wichtigstes Ziel gefährdete – den Erhalt der Stabilität.

Der 2018 herausgekommene Film Leto (dt. Sommer) veranschaulicht den staatlichen Umgang mit der Rockszene der frühen 1980er Jahre. Der seit August 2017 unter Hausarrest stehende Regisseur Kirill Serebrennikow drehte eine Art Biopic über die Kultfiguren der damaligen Rockszene: Viktor Zoi und Mike Naumenko. Einige Filmkritiker und Zeitgenossen von Zoi warfen dem Regisseur vor, die musikalische Protestkultur der 1980er Jahre nicht authentisch darzustellen. Wie aber war die Musik der Perestroika?

Links – 1986 war auch für den sowjetischen Pop eine Zäsur, rechts – „Rock auf Knochen“ – benutzter Röntgenfilm war ein beliebtes Material für verbotenen Sound aus dem Westen / © Dmitry Rozhkov unter CC BY-SA 3.0

Repertoire, Aussehen, Bühnenverhalten – alles an der offiziellen sowjetischen Musik Estrada musste von Behörden gebilligt werden. Der Underground lehnte sich schon in den 1960er Jahren gegen diese Orchestrierung auf. Ab den späten 1970er Jahren ging es der musikalischen Protestkultur aber auch darum, mit Rock und Pop das Fundament des Regimes zu erschüttern und Voraussetzungen für politische Veränderungen zu schaffen.

Wenn man Wladimir Rekschanan glaubt, dann hat sie das geschafft: Der Rockmusiker behauptet nämlich, dass Rock der sowjetischen Ordnung ab 1985 am meisten zusetzte – viel mehr noch als etwa Solschenizyns Archipel GULAG.1 Auch der Musikkritiker und Rockpionier Artemi Troizki strich in seinem frühen Standardwerk Rock und Subkultur in der UdSSR die Bedeutung von Rock für die Perestroika heraus.2 Die Musik und der Lebensstil, den sie transportierte, wurden im Lauf der Perestroika von der Gegen- zur Massenkultur. 

Kanalisierung des Rock

Bevor es jedoch dazu kam, wurde die „ideologisch untragbare“ Musik verboten und gejagt. Underground aufzuspüren und zu zerstören war offenbar nicht leicht, also versuchten die Behörden auch, ihn in staatliche Bahnen zu lenken. 1980 durften sowjetische Rockmusiker zum ersten Mal bei einer offiziellen Veranstaltung auftreten. Auf einem Festival in Tbilissi trafen sowohl bereits bekannte Bands wie Maschina Wremeni und Aquarium aufeinander als auch solche Exoten wie Sipoli aus der lettischen Stadt Jurmala und Gunesch aus dem turkmenischen Aschhabat.3

Im Jahr darauf gründete man den Leningrader Rockclub. Auch diese Institution war vom KGB kontrolliert und reglementiert. Zu den bedeutendsten Künstlern des Clubs zählten Boris Grebenschtschikow und Mike Naumenko. Kultstatus genossen Viktor Zoi und seine legendäre Band Kino. Auch in Moskau, Swerdlowsk, Ufa und anderen Städten entstanden in den folgenden Jahren Rockclubs. 

Doch trotz systematischer Kanalisierungs-  und Umerziehungsversuche wurde die dynamische Szene für den KGB gewissermaßen zum Geist, den er rief: Die teilweise Legalisierung führte zur Popularisierung des Rock; schon über das Festival in Tbilissi berichteten sowjetische Medien, was viele wohl als eine Wende empfanden. Außerdem konsolidierten die Behörden gewissermaßen die Szene: Die aus dem Underground geholten Musiker konnten sich zum ersten Mal miteinander vernetzen, was die Entwicklung des Rock vorantrieb. Der einstmals verbotene Sound schien gezähmt, doch fanden viele Musiker auch Schlupflöcher, durch die sie Andeutungen verbreiten konnten.

Aus der Grauzone

Schlupflöcher taten sich auch durch Blat auf: 1987 gründete der Musiker und Produzent Stas Namin im Moskauer Gorki-Park ein Zentrum, in dem er junge Musiktalente betreute. Namin ist ein Enkel des prominenten Parteifunktionärs und stalinschen Ministers für Außenhandel Anastas Mikojan. Mit diesem Status und seinen Beziehungen zur Parteiführung konnte er eine alternative Art der Organisation von Rockmusikern anrollen: Namins halb offizielles Studio im Grünen Theater des Gorki-Parks brachte solche Rockbands hervor wie Brigada S und Kalinow Most. Die bekannteste von allen war Gorky Park – die erste sowjetische Rockband, die im Ausland auftrat.

1989 organisierte Namin das legendäre Peace Music Festival, das oft mit Woodstock verglichen wurde und zu dem solche westlichen Stars wie Ozzy Osbourne, Bon Jovi, Scorpions oder Cinderella kamen. Es fand im Moskauer Olympiastadion vor zehntausenden Zuschauern statt und gilt heute als eine Veranstaltung, die den Eisernen Vorhang erst richtig öffnete. In dieser Atmosphäre und infolge Klaus Meines Besuchen in Namins Zentrum entstand der legendäre Hit der Scorpions Wind of Change, der 1990 veröffentlicht wurde und im Westen als die Hymne der Perestroika gilt.

Hymnen der Perestroika

Die Frage nach der Hymne der Perestroika ist auch im heutigen Russland umstritten. Viele halten Viktor Zois Chotschu Peremen! (dt. „Ich will Veränderungen!“) dafür. 1986 erklang es zum ersten Mal: im Leningrader Rockclub schlug es mit seiner Wut wie eine Bombe ein. Im April 1989 kam es mit dem Album Posledni geroi (dt. „Der letzte Held“) auf den Markt.

Demgegenüber ging das 1986 entstandene Aerobika der 1983 gegründeten Band Alisa einen Schritt weiter: Es forderte keine Veränderungen, es stellte sie fest, „aber nur fast“. 
Das erste Rock-Video, das im sowjetischen Fernsehen gezeigt wurde, drehte der heutige Generaldirektor des russischen Zentralfernsehens Konstantin Ernst. Er zeichnete eine Atmosphäre der Underground-Ästhetik: Das Video beginnt in einer ranzigen Kommunalwohnung, an der Wand hängt ein Poster von Pink Floyd und aus dem Fernseher ist der Slogan „Es lebe unsere ruhmreiche sozialistische Heimat“ zu hören. Der punkige Protagonist und Bandleader Konstantin Kintschew kommt in Jeans und zerrissenem T-Shirt aus dem Bett, schaut sich im Spiegel an, spuckt auf sein Spiegelbild und verlässt die Wohnung. Lange geht er durch dunkle Kellerräume, bis er auf einer großen Konzertbühne vor zahlreichem Publikum erscheint. Der Text dazu lautet: „Wir können schon fast aufrecht stehen, wir haben schon fast alle Türen geöffnet, wir schreien schon fast nicht mehr SOS, wir hören schon fast auf keine Befehle mehr, es ist fast unmöglich uns [wie Vieh – dek] zu hüten … aber nur fast“. Sein Auftritt wird durch Bilder von Sportparaden der totalitären 1930er Jahre auf dem Roten Platz begleitet, die dann in Aerobic-Übungen umschlagen: Diese liefen zum ersten Mal 1984 im sowjetischen Fernsehen und avancierten alsbald zum begehrenswerten Symbol des US-amerikanischen Lifestyles.


Kurz nachdem Jegor Letow aus der Zwangspsychiatrie entlassen wurde, schrieb er ebenfalls 1986 seinen bekanntesten Hit: Wsjo idjot po planu (dt. Alles läuft nach Plan). Das Lied besteht aus einem psychedelischen Mix aus einander abwechselnden Bildern, entlehnt dem Fernsehprogramm und sowjetischen Losungen. Der Autor bringt darin sarkastisch und voller Stjob seine Unzufriedenheit darüber zum Ausdruck, dass die Veränderungen nur sehr langsam passierten. Ähnlich wie Zoi war Letow eine Legende seiner Zeit. Er dichtete eine Mischung aus Alltagssprache und feingeistiger Philosophie, angereichert mit Mat. Dies, so einige Musikkritiker, sei die eigentliche Sprache des Undergrounds gewesen.

Popsound der Perestroika

Rock mit seinem Freiheitswillen galt als cool, davon wollten auch Popmusiker profitieren. Einige versuchten, die existenzielle Subversions-Ästhetik und die anarchischen Gesten zu übernehmen. Die Grande Dame der Estrada Alla Pugatschowa etwa griff für ihre Liedtexte auf die offiziell verbotenen Autoren wie Marina Zwetajewa und Boris Pasternak zurück. Mit dem Beginn von Glasnost verstieß sie regelmäßig gegen sprachliche Normen, stellte die gewohnten Geschlechterrollen in Frage und machte aus ihrem exzentrischen Privatleben eine öffentliche Performance. Mit dem Lied Ei, Wy tam nawerchu! (dt. Hey, ihr da oben!) appellierte sie schon 1984 an die Machtinstanzen und legte damit einen Grundstein für ihre eigene Subversions-Ästhetik, mit der sie gegen Konventionen des Regimes rebellierte. 1986 trat Pugatschowa mit dem Rockmusiker Wladimir Kusmin bei dem ältesten Popmusik-Wettbewerb Europas in San Remo auf. Die Zusammenarbeit wurde vor allem deshalb als Skandal aufgenommen, weil Pugatschowa eine Affäre mit dem deutlich jüngeren Kusmin hatte.

Alltag und Sexualität

1986 war auch für den sowjetischen Pop eine Zäsur. Die alten Stars der Estrada wurden von der jungen Generation verdrängt. Richtige Furore machten dabei Igor Korneljuk und Igor Skljar. Sie befreiten sich von ideologischen Fesseln und besangen alltägliche Lebenssituationen. So machte sich Korneljuk einen Namen, indem er vom Schwarzfahren in der Tram sang (Bilet na balet, dt. Ticket für Ballett).


Skljar ging noch weiter und kündigte an, dass er einfach so mitten in der Arbeitswoche für ein paar Tage wegfährt (Na nedelku do wtorogo, dt. Für eine Woche bis zum Zweiten). Tunejadstwo (dt. etwa: Müßiggang, Arbeitsscheu und Sozialschmarotzertum) wurde in der Sowjetunion von 1961 bis offiziell noch 1991 strafrechtlich verfolgt, und Freizeit war vor allem dazu da, um sich für die Arbeit zu regenerieren. Mit seinem demonstrativen Hedonismus versuchte Skljar, dieses Konzept zu sprengen – und spielte dabei für die Sowjetunion eine ähnliche Rolle wie es die Gammler der frühen 1960er Jahre für Westdeutschland taten.4

Der Rocksänger Kris Kelmi brach ein anderes Tabu: Sex. Sein Video Notschnoje randewu (dt. Nächtliches Rendezvous) von 1989 schilderte eine Beziehung zu einer Prostituierten und enthielt sehr freizügige Bettszenen. Im Gegensatz zum Video war der Text allerdings eher zurückhaltend und abstrakt.

Die lettische Sängerin Laima Vaikule schlug in dieselbe Kerbe. Sie fiel durch ihren betont maskulinen Kleidungsstil auf und brachte damit eine besondere Note in die Popszene mit ein. Das Duett mit dem homosexuellen Sänger Waleri Leontjew brachte sie für lange Zeit in die Charts.


Nachdem Kelmi, Vaikule und Leontjew das Sex-Thema salonfähig gemacht hatten, griffen es auch zahlreiche Girl- und Boybands auf. Damit explodierte das enge Korsett der sowjetischen Zensur endgültig, und die musikalische Revolution entlud sich in knalligen Musikvideos. So trällerte etwa die sexy gekleidete Solistin der Band Kombinazija darüber, dass russische Frauen vom Sex mit US-amerikanischen Männern träumten und bereit seien, ihr Glück außerhalb der Sowjetunion zu versuchen.


Boybands wie Laskowy mai und die gayfriendly Na-Na brachen bei ihren Konzerten alle Besucherrekorde. Nicht orchestrierte Banner, Interaktionen mit den Zuschauern und emotionale Reaktionen waren bei sowjetischen Konzerten streng verboten. Das Aufheben der Verbote war eine markante Wende und gilt heute als Anfang des Showbusiness.

Freiheit der Liebe und Liebe zur Freiheit

Während ab Mitte der 1980er Jahre Zensur und Konzertverbote allmählich nachließen, etablierten sich neue politische und marktwirtschaftliche Selektionsmechanismen. Es fing die Epoche der „wilden 1990er“ an. Als symbolisches Ende der Perestroika kann vor diesem Hintergrund die Ermordung des Sängers Igor Talkow im Jahr 1991 betrachtet werden. Talkow wurde auf der Bühne wegen krimineller Auseinandersetzungen im Showbusiness erschossen.5 Im gleichen Jahr starb auch der Leader der Band Zoopark Mike Naumenko.

Sowohl Naumenko als auch Zoi besangen in ihren Liedern vor allem die Freiheit der Liebe und die Liebe zur Freiheit. Genau darüber drehte Serebrennikow seinen Film Leto. Diese künstlerische Freiheit sollte man dem Regisseur gewähren. Genauso wie die Freiheit des Standpunkts über die Zeit, in der die sowjetische Musik lernte, „aufrecht zu stehen“. 
Serebrennikow kündigte kürzlich an, sein nächstes Projekt Alla Pugatschowa zu widmen. 


1.Sobaka: 30 let perestrojke: glavnye simvoly vremeni 
2.Troickij, Artemij (1989): Rock in Russland: Rock und Subkultur in der UdSSR, Wien 
3.Troickij, Artemij (2008): Gremučie skelety v škafu, tom 2: Vostok aleet, Sankt Petersburg 
4.vgl. Siegfried, Detlef (2006): Time is on my Side: Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 
5.YouTube: Istorija rossijskogo schou-biznesa 
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