Was heißt Regieren und Regiert-Werden in Russland? Wie funktioniert das politische System überhaupt, nach welchen Regeln wird hier gespielt? Und hat das alles eine Zukunft?
Wer all diese Fragen beantworten möchte, müsste eigentlich eine Dissertation verfassen. Der renommierte Journalist Maxim Trudoljubow dagegen, Redakteur der Wirtschaftszeitung Vedomosti, vertraut der kurzen Form: In seinem Essay auf Inliberty.ru verdichtet er hochkomplexe Zusammenhänge in starker Metaphorik. Und schreibt dabei unter anderem an einer Debatte zur politischen Ethik fort, die sein Kollege Andrej Archangelski eröffnet hatte – mit der These, dass sich nach dem Ende der Sowjetunion ein breites ethisches Loch aufgetan hätte, auch in der Politik.
MAUS IM LABYRINTH
Läuft eine Maus durch ein Labyrinth, muss sie sich den Gesetzen des Labyrinths unterwerfen – und all ihre Kräfte darauf verwenden, sich in der sich ständig wandelnden Konstruktion zurechtzufinden. Sie muss die nächste Abzweigung suchen und dann weiterrennen. Sie hat keine Leiter, auf die sie klettern und dann schauen könnte, wie die Wege aussehen, die sie entlangrennt. Sie hat keinen Überblick und weiß nicht einmal, dass es sich um ein Labyrinth handelt. Wegweiser oder Beschriftungen gibt es nicht – nur Türen und Gänge, Gänge und Türen. Sie kann die Wände nicht durchbrechen, sie weiß nicht, dass das möglich ist, und sie ist nicht verpflichtet, es zu versuchen. Tut sie es doch, kann sie wegen Beschädigung der Wand bestraft werden. Man kann der Maus also kaum vorwerfen, dass sie nicht versucht, die Wand zu durchbrechen.
Aufgabe der Legislative: Nicht die Experten stören!
Lassen Sie uns eine kleine Zeitreise machen und für einen Moment in die Werkstatt schauen, in der das Labyrinth gebaut wird:
Einer der Architekten ist Igor Schuwalow, der Erste Stellvertretende Premierminister Russlands. Er ist es, der die Idee der Unterordnung der Legislative unter die Exekutive formuliert hat, und zwar in seiner Dissertation Die Regierung der Russischen Föderation im Prozess der Gesetzgebung aus dem Jahr 2004. Er wollte seinerzeit begründen, dass die Regierung der beste Gesetzgeber ist: „Die meisten Entwürfe für föderale Gesetze sollten von der Regierung kommen. Die dortige Praxis und die tatsächlichen Verhältnisse sind derzeit oft der föderalen Gesetzgebung voraus. Die Regierung der Russischen Föderation verfügt über beträchtliche Möglichkeiten und ist in der Lage, diese Prozesse zu verfolgen.“ Sprich: Aufgabe der gesetzgebenden Gewalt ist es, die Experten nicht bei der Arbeit zu stören.
Herrschaft der Technokraten
Schuwalow ging es vor allem um die Gesetzgebung. Die Manager, die mit Medien, NGOs und Unternehmen arbeiteten, haben zwar keine Dissertationen hinterlassen, aber ihre Argumente sind ähnlich: Schafft uns die Demagogen aus den Augen und lasst uns arbeiten, arbeiten, arbeiten. Wir kennen das aus dem, was Alexej Wolin über die Medien gesagt hat und wie sich Wladimir Putin über gesellschaftliche Organisationen äußerte: Gesetze, Medien, Unternehmen und Zivilgesellschaft, das sind Instrumente für die, die wissen, was zu tun ist. Die Schöpfer und Betreiber des derzeit in Russland herrschenden Systems nehmen das System nicht als autokratisch oder als „Putins Diktatur“ wahr, sondern als Herrschaft von Experten, von Meistern, von Leuten, die sich auskennen – also als Technokratie.
Politik der „Projekte“
Was wir um uns herum wahrnehmen, ist das Ausarten einer Expertokratie. Es sind Exzesse einer versuchten Rückkehr zu nutzenorientierter Politik, zu einer Politik in „Projekten“ und dazu, dass der Erfolg von Politik mit den Begriffen effektiv und nicht effektiv gemessen wird.
Die Bürger, die einfachen Beobachter, nehmen dieses System nicht als Technokratie wahr, sondern als Regime einer gewissenlosen Elite, die jedwede Orientierung verloren hat, weil sie nie für irgendetwas bestraft wird. Doch das wiederum will das System nicht verstehen. Die Systemadministratoren denken, dass nur Inkompetente, Unwissende und Zurückgebliebene dort ein Übel vermuten, wo die Administratoren selbst lediglich zu behebende Bugs und entsprechende Kosten ausmachen.
2011 hat die Gesellschaft versucht, wieder ethische Werte in Umlauf zu bringen: Das Gute und das Böse, Wahrheit und Lüge wurden für kurze Zeit zu Maßstäben für die Legitimität der Staatsmacht. In Russland drohte plötzlich die „Gefahr“, dass Ethik im politischen Raum eine Rolle spielen könnte. Und selbst wenn wir der These folgen würden, dass die Proteste zumindest in gewissem Maße von einem einzelnen, abgespaltenen Teil der Elite inszeniert wurden, so ist das zwar ein Versuch „von oben“ – aber eben doch ein Versuch, sich eine Ethik anzueignen.
Mobilmachung entlang der Linie Freund – Feind
Die Systemadministratoren antworteten mit einer punktgenauen Verteilung von Wohltaten und einer eiligen Totalmobilmachung entlang der Linie Freund – Feind. Es begann die Verfolgung ausländischer Förderer, Verleger, Lehrer und ihrer Agenten.
Dann initiierte Russland bewaffnete Konflikte, die die russische Gesellschaft in ihrer Haltung gegenüber den Feinden polarisierten – wer ist nicht alles als Feind gebrandmarkt worden an einer der launischen Biegungen der Generallinie.
Alles ging den Technokraten leicht von der Hand, weil sie wissen, auf welchem Nährboden sie operieren. Die russische (sowjetische) Massenkultur ist vom Feindesmotiv durchzogen. Wo bei den Amerikanern das Böse zu finden ist, ist bei uns der Feind – also muss man einen Krieg anzetteln.
Gefangene einer monströsen Illusion
Die aktuelle Lage ist kompliziert. Nicht, weil Ideologen oder Nationalisten an der Macht wären, sondern weil es „Ultrarealisten“ sind, die das Land führen. Leute, die davon überzeugt sind, dass sie die verrottete Natur des Menschen durch und durch kennen, dass sie über alle Daten zur Gesellschaft und Wirtschaft Russlands verfügen und dass sie in der Lage sind, dem undankbaren Publikum eine ausreichende Menge Nutzen zu bringen. Vielleicht sind diese Leute Zyniker – wer weiß? Gut möglich aber auch, dass sie Gefangene einer monströsen Illusion sind.
Viele Einzelmechanismen, die technische Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern, funktionieren: Die Zentralbank funktioniert, Dokumente durchlaufen Abstimmungsprozesse, Nationale Projekte werden aufgelegt und umgesetzt.
Wobei die Ergebnisse nach unabhängigen Maßstäben, die gerade die technokratischen Leistungen erfassen, katastrophal sind: Die Arbeit unserer staatlichen Verwaltung hält in Hinblick auf ihre Qualität einem Vergleich mit den Nachbarländern nicht Stand, die Staatsausgaben sind ineffizient und wirken sich negativ aus, außerdem wurden keine Wachstumsquellen erschlossen, die von den Rohstoffvorkommen unabhängig wären.
Ein Labyrinth mit sich ständig ändernden Routen
Doch gibt es niemanden, der an das Handeln der „Meister“ eine solche Messlatte anlegt; diejenigen, die das hätten tun können, wurden geschasst. Das Ganze gerät zu einem l’art pour l’art: Diese Konstruktion, geschaffen von Experten zu dem Zweck, sich gegen alternative Bewertungen abzusichern, ist ein Labyrinth mit sich ständig ändernden Routen. Das permanente Verschieben der Verbindungen zwischen den Gängen (das Revidieren von Gesetzen, die Änderung der Spielregeln) ist für die Betreiber notwendig, damit sie keiner bei der Arbeit stört. Ungestörtes Handeln ist ihr Hauptzweck, ein anderes erklärtes Ziel haben sie nicht.
All das geschieht des Labyrinthes wegen: um es weiter umbauen zu können, damit es möglichst wenig Mäuse schaffen, den Kopf zu heben und sich zu überlegen, wie man hinter die Trennwände schauen könnte.
Die in Russland geschaffene Architektur der Gesellschaft ist sinnlos und gleichzeitig äußerst klug. Klug in dem Sinne, dass sie einen bedingungslosen Gehorsam programmiert. Und zwar nicht einen Gehorsam gegenüber einer Idee, sondern gegenüber der Aufgabe, durch Gänge zu rennen, die ständig verschoben werden.
Wenn dem so ist – ist das System dann nicht eigentlich harmlos? Wäre dann nicht das Schlimmste, was es anrichten kann, dass es der Maus Holzlatten und Nägel wegnimmt, wenn sie versucht, sich eine Leiter zusammenzuzimmern, um die Konstruktion von oben zu betrachten? Zumal es manchen Mäusen diese Materialien sogar lässt und sich nicht besonders daran stört.
Revolution ohne Banner
Es gibt hinter den Wänden auch gar nicht viel zu sehen. In der Banalität des Bösen untersucht Hannah Arendt eingehend das Verhalten eines Menschen, der sich weigert, den Kopf zu heben und sich bewusst zu machen, an welchem systemischen Verbrechen er beteiligt ist. Hinter den damaligen Verbrechen standen Führer, die Gesetze waren verbrecherisch und nahmen Millionen Menschen ihre Würde, und alles fand im Zeichen einer für jeden sichtbaren Flagge statt. Auch das sowjetische System hatte seine Flaggen und seine Ideologie; es proklamierte seine eigene Idee des gesellschaftlichen Wohls, auf das jeder seinen Eid abzulegen hatte, der in die führende Partei eintreten wollte, und damit, potentiell, in die Elite.
Unsere Architekten hingegen tragen keinerlei Flaggen, auf denen etwas geschrieben steht, sie stehen nicht für die Idee irgendeines Wohls, nicht einmal eines willkürlich verkündeten. Welche Flagge halten die Präsidentenberater, der Premierminister und seine Stellvertreter denn hoch? Das sind Fachleute, Verwalter, und mehr nicht. Und sie arbeiten immer besser, weil sie auf immer weniger Barrieren stoßen. Schon sind Telegraphenstation, Fernsprechamt, Postämter, Fabriken, Parteien, gesellschaftliche Organisationen, Künstler- und sämtliche anderen Verbände erobert.
Doch halt – ist das alles nicht das Gleiche, was schon vor einem Jahrhundert Menschen taten, die mit einer machtvollen revolutionären Idee gewappnet waren? Es ist ähnlich und unähnlich zugleich, denn es gibt jetzt kein niedergeschriebenes Programm, und die Leute kommen auch nicht in Lederjacken daher, sondern in Anzügen, und das alles hat keinen Namen.
Man verzichtet darauf, die Dinge beim Namen zu nennen
Ja, es hat keinen Namen – und hierin liegt das Geheimnis und der Sinn des Ganzen. Man verzichtet darauf, die Dinge beim Namen zu nennen (Enteignung ist nicht Enteignung, Krieg ist nicht Krieg, ein abgeschossenes Flugzeug ist kein abgeschossenes Flugzeug), und damit auch auf ethische Urteile. Mehr braucht es nicht. Darin besteht schon der Eid – und damit akzeptiert man gleichzeitig ein System, das derart in Freund und Feind unterscheidet.
Das ist selbst in Kleinigkeiten bemerkbar: Die neuernannte Chefredakteurin einer Zeitschrift fühlt sich genötigt, in einem Interview zu erklären, dass sie auf Berufsethos verzichte.
Der Eifer, mit dem das System alle, selbst potentielle, Quellen ethischer Urteile bekämpft, zeugt davon, dass genau hier der Übergang zur Politik stattfindet. Kontrollierte Medien, Organisationen und Prominente verzichten auf Werturteile. Und werden so zu Instrumenten, um Freund, die eigenen Leute, von Feind, den anderen, abzugrenzen.
Gleichzeitig können anscheinend jene, die nicht auszuschalten sind, im politischen Bereich für zehn arbeiten. Die erstaunliche Leistung Alexej Nawalnys besteht darin, dass er – auch wenn er von einer unmittelbaren Beteiligung am politischen Prozess ausgeschlossen ist – dort gleichwohl als Institution präsent ist. Das Gewicht, das seine Untersuchungen und Einschätzungen zu politischen Figuren erlangen, und die Kräfte, die darauf verwandt werden, um die jeweils Betroffenen reinzuwaschen (jetzt ist es der „Architekt“ Igor Schuwalow selbst; zuvor hatte es Juri Tschaika, Maxim Liskutow, Wladimir Jakunin, Andrej Kostin und viele andere getroffen), belegen etwas Wichtiges: Eine Politik zu betreiben, die jegliches moralisches Urteilen über das Regime unmöglich machen will, gelingt nur mit übermäßiger Kraftanstrengung. Der Utilitarismus, der dabei herauskommt, ist ein schadhafter. Und die moralische Entrüstung schafft sich dennoch Gehör. Schließlich ist Nawalny nicht der einzige, der dieses Feld bearbeitet. Ob man es will oder nicht: Es gibt außer ihm auch andere, und es wird sie weiterhin geben.
Das Bedürfnis, das aktuelle Geschehen moralisch zu beurteilen, ist stärker als alle Versuche, eben dieses Bedürfnis medientechnologisch zu neutralisieren. Selbst eine für Ethik taube Gesellschaft wie die russische will einen Austausch darüber, was „gut“ ist, und was „schlecht“. Weil der Mensch eben nicht nur ein politisches Wesen ist, sondern auch ein moralisches.
Büchse der Pandora
Das ist eine gute Nachricht und eine schlechte zugleich: Es bedeutet einen Haufen Risiken für die Zukunft, weil es ein potentielles Schlachtfeld gegen das politische Böse eröffnet. Jene Macht ohne Banner und Namen, die endlos ihr Labyrinth errichtet, um die Versuchsmäuse mit irgendeiner physischen Aktivität beschäftigt zu halten, produziert gleichzeitig eine riesige Büchse der Pandora. Dort stopft sie ihre Verbrechen hinein, Verbrechen, die im Namen vom Nichts begangen und auch nicht als Verbrechen bezeichnet werden, und schöpft ihre Daseinsberechtigung aus der Überzeugung: Was nicht benannt wird, das existiert auch nicht.