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„Überall treten Verschwörungstheorien an die Stelle von Ideologien“

2014 brachte der britische Fernsehproduzent und Journalist Peter Pomerantsev sein Buch Nothing Is True and Everything Is Possible (Nichts ist wahr und alles ist möglich, 2015) heraus. Darin beschreibt er, wie russische Staatspropaganda funktioniert. Das ist keine Propaganda (Originaltitel: This is not Propaganda) heißt sein neues Buch, das nun auch in Deutschland und Russland erschienen ist, und in dem er den Fokus öffnet: Er nimmt nicht mehr nur Russland, sondern mehrere Länder unter die Lupe, wie etwa auch die Philippinen und Syrien.

Warum Pomerantsev dabei das Wort Propaganda vermeidet, wie Desinformation unsere Welt verändert und was man dagegen tun kann, falls man überhaupt was tun kann, das erzählt er im Interview mit der Novaya Gazeta.

Источник Novaya Gazeta

Peter Pomerantsev © Wikipedia/Vogler CC BY-SA 4.0

Ilja Asar/Novaya Gazeta: Der Titel Ihres Buches lautet Das ist keine Propaganda, wobei das Wort „keine“ unterstrichen ist. Was ist es denn dann?

Peter Pomerantsev: Der Titel bezieht sich auf das berühmte Gemälde von Magritte, das eine Pfeife zeigt, und darunter steht geschrieben: „Dies ist keine Pfeife“. Für mich hat das Bild immer bedeutet, dass man die Verbindung zwischen Wort und Sinn durchtrennen kann. Vielleicht waren die 1920er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ebenfalls eine Zeit der Wirren. Das ist ein Thema, das in meinem Buch immer wieder auftaucht: Dass wir in einer ähnlichen Zeit leben, einer Zeit, in der alle Begriffe, die früher eine klare Bedeutung hatten – Demokratie, Europa, der Westen und so weiter –, ihre Bedeutung verloren haben, weil verschiedene Kräfte versuchen, sie umzudeuten. Am raffiniertesten machen das vielleicht gerade die neuen Rechtsextremen.

Und was ist mit der Propaganda?

Das Wort Propaganda verwende ich im Buch nicht. Es wird so unterschiedlich interpretiert, dass es gar nicht mehr möglich ist, damit etwas zu erzählen. 

Begriffe, die früher eine klare Bedeutung hatten – Demokratie, Europa, der Westen –, haben ihre Bedeutung verloren, weil verschiedene Kräfte versuchen, sie umzudeuten

Was sich ganz real verändert hat, das sind – abstrakt gesprochen – die Formeln und Axiome, die für uns das Konzentrat des demokratischen Informationsraumes waren, das, was ihn von einem diktatorischen unterschied. Das sind einfache Dinge: Dass der Pluralismus etwas Gutes ist, dass die Meinungsfreiheit etwas Gutes ist, dass sich auf dem Markt der Ideen die besten Ideen durchsetzen werden. Zum Beispiel die vom freien Bürger, der Gedichte liest, Jazz hört und sagen kann, was er denkt.

Das Wort Propaganda verwende ich nicht. Es wird so unterschiedlich interpretiert, dass es gar nicht mehr möglich ist, damit etwas zu erzählen 

Jetzt beobachten wir, dass der Pluralismus zu einer extremen Polarisierung geführt hat und die Chancen für echte Diskussion dahinschwinden. In den USA wie in anderen Ländern.
Im Buch sehen wir am Beispiel der Philippinen, dass die Kräfte, die früher den Informationsraum durch Zensur beschneiden wollten, sich jetzt [bei ihrer Desinformation] ausgerechnet auf die Meinungsfreiheit berufen. Es ist schwierig, dem etwas entgegenzusetzen, vor allem juristisch.

Wenn das Ideal verschwindet, dass alle miteinander reden und einander respektieren und dass in Debatten die besten Ideen gewinnen, dann ist unklar, wie unsere Zukunft aussieht. Das ist ein strukturelles Problem und der Westen (und besonders der angelsächsische Westen) hat noch nicht geschafft, es neu zu denken.

Russland hat ja seit der Sowjetzeit Probleme mit den Begriffen Demokratie und Freiheit. Heißt das, der Westen nähert sich Russland an?

Ja, in gewisser Weise erleben wir jetzt Prozesse, die Russland in den 1990er Jahren durchgemacht hat. Zumindest auf sprachlicher, kultureller, politischer Ebene, nicht auf Regierungsebene natürlich.

Gleb Pawlowski spricht in Ihrem Buch von einem „Proto-Putinismus“ im Westen.

Ja, aber ich glaube, er will auch provozieren. Er spielt damit. In dem Interview [im Buch – dek] geht es um etwas ganz Konkretes: Wenn es keine eindeutig linken oder rechten Ideen mehr gibt, keine ideologischen Debatten über die Zukunft, wenn einstige soziale Identitäten verschwinden, kommt den Polittechnologen die Aufgabe zu, neue Identitäten, neue Ideen für die Mehrheit zu erschaffen.

Wenn das Ideal verschwindet, dass alle miteinander reden und einander respektieren, dann ist unklar, wie unsere Zukunft aussieht

Ich wollte in meinem Buch ganz verschiedene Länder und auf den ersten Blick verschiedene Situationen nebeneinanderstellen – wie bei einer Montage –, um aufzuzeigen, welchen Rhythmus sie zusammen bilden; dass es im Chaos des Informationsraums zwar keine Logik, aber doch eine Art ZEITGEIST (im Orig. deutsch – dek) gibt.

Wenn das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Nostalgie war, dann sind das in Russland vor allem nostalgische Gefühle für die Sowjetunion, für Breschnew oder für Stalin, jedenfalls die Sehnsucht nach einer starken Hand. Aber was ist es in Europa? Doch nicht die starke Hand?

Das Imperium. In dieser Hinsicht harmonieren England und Russland im Rhythmus. Beide waren Kolonialreiche, sie betrachteten sich seit jeher als Imperien am Rande Europas und nicht als Länder. So wie bei euch im Jean-Jacques früher diskutiert wurde, ob die Russen Europäer sind oder nicht. Das Gleiche gilt für England. Das ist eine ewige Streitfrage.
Zwei Kulturen, die versuchen, damit klarzukommen, dass sie nicht mehr der Nabel der Welt sind. Russland hat es da vermutlich schwerer.

Aber was ist eigentlich Nostalgie? Bei Nostalgie geht es nicht so sehr um die Vergangenheit, sondern darum, dass es kein Gefühl für die Zukunft gibt und die Gegenwart unbequem ist. Die Vergangenheit ist dabei immer irgendwie mythisch. Interessanterweise sind in Westeuropa die größten Nostalgiker die jungen Leute.

Bei Nostalgie geht es nicht so sehr um die Vergangenheit, sondern darum, dass es kein Gefühl für die Zukunft gibt

In Frankreich ist das eine Nostalgie nach einem ethnisch reinen Frankreich – das es nie gegeben hat. Das hat eine aggressive und rassistische Komponente. 
In Deutschland ist das etwas anders, dort geht man vorsichtiger mit der Vergangenheit um, aber auch da gibt es das. 
In England hängt das eher mit dem Empire zusammen, aber auch mit einem Gefühl von Einzigartigkeit, Exzentrik. Es muss nicht sein, dass das [in Westeuropa] in Aggression mündet, es könnte auch zu etwas Selbstzerstörerischem werden.

In Russland ist diese Nostalgie in die Krim und den Donbass gemündet, und die Menschen haben die Rückkehr der Gebiete ins Imperium begrüßt. Aber es ist ja kaum davon auszugehen, dass sich England Indien zurückholt?

Das sind unterschiedliche Systeme. Und selbst wenn jemand das wollte, [in England] spielen viele andere Faktoren noch mit rein. Aber in gewisser Weise – ich mache hier keinen qualitativen Vergleich –, wenn wir uns die britischen Abenteuer im Irak genauer ansehen, hat da natürlich das Gefühl eine große Rolle gespielt, dass wir noch wichtig sind, dass das einmal unser Territorium war. Vielleicht auch moralische Erwägungen: dass wir dort Anfang des 20. Jahrhunderts Chaos angerichtet haben und jetzt wieder dorthin müssen. Und Frankreich kämpft nicht umsonst ständig in Nordafrika.

Nostalgie ist nicht per se etwas Schlechtes

Aber wichtig ist etwas anderes. Svetlana Boym spricht von Nostalgie als dem Verlust der Gegenwart und als einer mythischen Vergangenheit. Sie nennt dabei zwei Formen der Nostalgie: Die erste ist aggressiv und versucht ihre mythische Vergangenheit in der neuen Welt zu errichten. Die zweite ist ironischer, weicher; sie blickt auf die Vergangenheit und versteht, was sich seither verändert hat. Nostalgie ist also nicht per se etwas Schlechtes.
Ich habe gerade die US-Wahlwerbung gesehen, und, siehe da, sowohl die Demokraten als auch die Republikaner spielen mit der Nostalgie. Bei Trump ist es dieser unglaublich aggressive Slogan – „Make America great again“ –, mit russischem Beigeschmack, aber auch Biden sagt: „Erinnern wir uns daran, wer die Amerikaner sind, erinnern wir uns, wer wir sind.“ Hier geht es auch um Nostalgie, aber in einer softeren Form, als Sehnsucht nach einer Zeit, als es noch eine Zukunftsvision gab.

Russland benutzt die Nostalgie, damit die Menschen sich wohler fühlen

In Russland geht es im Grunde nicht um die Sehnsucht nach einem autoritären Regime – es gibt ja immer noch ein autoritäres Regime. Russland benutzt die Nostalgie, damit die Menschen sich wohler fühlen. Sogar für meine Eltern, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind, ist die Krim das Paradies, die Kindheit, da gibt es eine tiefe Verbundenheit.

Zum Thema Donbass: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass man früher Kriege führte, um Gebiete zu erobern und seine Flagge zu hissen, wogegen es in diesem Krieg um Legendenbildung gehe: Moskau wolle zeigen, dass die Farbrevolutionen zum Krieg führen, und Kiew, dass Separatismus zu Leid führt. Wie universell ist das?

In dieser Hinsicht ist das Buch War in 140 Characters sehr interessant, in dem geht es darum, wie sich das Gleichgewicht verändert hat und die Informationskomponente immer wichtiger geworden ist. 
[Der Autor – dek] David Patrikarakos beginnt mit dem jüngsten Krieg in Gaza. Er schreibt, dass die israelische Armee in dem Konflikt zwar im Prinzip gesiegt hat, aber trotzdem habe sie verloren, weil die Palästinenser in Sachen Storytelling mehr Sympathien einfahren konnten. Und das, was vor Ort passierte, war gar nicht das Entscheidende.

Und was haben die Palästinenser davon? Gut, die Sympathien sind auf ihrer Seite, aber den Krieg haben sie trotzdem verloren, ihre Lebensbedingungen verschlechtern sich zunehmend.

Ich bin kein Nahost-Experte, aber was wir sehen ist, dass Israel sich von dem Mainstream im Westen entfernt. Niemand weiß, wie das alles ausgeht, aber während Israel früher Unterstützung aus dem ganzen politischen Spektrum bekam, ist das jetzt nicht mehr so.

Wenn im Donbass etwas passiert, bastelt sich jede Seite innerhalb von einer Sekunde ihre eigene Version zurecht

Der Krieg im Donbass ist natürlich echt, Menschen sterben. Das ist nicht einfach und nicht nur ein Informationskrieg, aber es war ein sehr merkwürdiger Konflikt. Wenn dort etwas passiert, bastelt sich jede Seite innerhalb von einer Sekunde ihre eigene Version zurecht. So war es schon immer, nur dass es jetzt sofort passiert.

In Ihrem Buch geht es auch um Syrien.

Das ist das schwierigste Kapitel für mich. Ich weiß noch, dass es während des Kosovokriegs öffentliche Proteste gab, als Bilder von Gefangenen in Lagern veröffentlicht wurden, die öffentliche Meinung nahm irgendwie Anteil. Derzeit gibt es massenhaft Aufnahmen von himmelschreienden Verstößen gegen das internationale Recht, aber es interessiert sich keiner mehr dafür.

Ich wollte zeigen, dass die Menschen Propaganda als Vorwand benutzen, nichts zu unternehmen. [Der ehemalige britische Außenminister] David Miliband, der die humanitäre Hilfsorganisation International Rescue Committee gegründet hat, bezeichnete unsere Epoche als „Age of Impunity“, ein Zeitalter, in dem alle straflos davonkommen. Früher beteuerten die Politiker, nichts über den Holocaust oder den Völkermord in Ruanda gewusst oder erst zu spät davon erfahren zu haben, jetzt passiert alles direkt vor aller Augen, doch niemand schert sich darum. Pawlowski erwähnt [den Historiker und Philosophen Michail] Gefter, der vorausgesehen hat, dass es in Zukunft „schwarze Löcher“ geben würde – Räume der totalen Gesetzlosigkeit.

Das heißt, wenn der Holocaust jetzt passieren würde, würde sich niemand darum scheren?

Für Gefter war der Holocaust bereits so ein Moment des Verlusts allgemeingültiger Regeln in der Weltgeschichte. Das geschieht in Zyklen, allgemeine Regeln entstehen und verschwinden wieder.
 
Wenn man das Kapitel über die Philippinen in Ihrem Buch liest, ist man entsetzt über das, was dort geschieht, all diese Morde … Da scheinen die ständigen Verweise auf Russland im Buch etwas ungerecht, es gibt immerhin schlimmere Regime als Putins.
 
Es gibt Kulturen, in denen die Tradition, dass man die Armen umbringen darf, nicht verschwunden ist. Auf den Philippinen ist der Wert eines Menschenlebens sehr gering – geringer als in Russland, wo er auch schon klein ist. Auf den Philippinen werden viele Menschen umgebracht, und jetzt hat sich die Situation verschärft, erlebt eine Art Crescendo. Auch in Lateinamerika ist die Sterblichkeit viel höher, in dieser Hinsicht ist Russland näher an den europäischen Ländern. Andererseits: Eine derartige Dominanz über die Medien [wie der Kreml] hat [der philippinische Präsident Rodrigo] Duterte nicht. Und es gibt auf den Philippinen ein echtes Parteiensystem.

Interessanter ist der Vergleich zwischen Russland und der Türkei. Es wird viel diskutiert, wer schlimmer ist: Putin oder Erdogan? Die Türkei ist immerhin noch in der NATO. Einerseits werden in der Türkei deutlich mehr Journalisten verhaftet, andererseits sind die Medien flexibler, was die Themen angeht, und es gibt ein echtes Mehrparteiensystem. Es gibt echte Wahlen, genauso wie auf den Philippinen. Das ist wie ein Spiel: Wer ist besser, wer schlechter? Doch ich weiß nicht, wie man es spielt, wofür man wie viele Punkte vergeben soll.
 
Schenken Sie Russland mehr Aufmerksamkeit, weil es auf der internationalen Bühne agiert?
 

Zum Einen geht es in meinem Buch auch um Geschichte, und es ist kein Zufall, dass Russland als Eckpfeiler des Kalten Krieges jetzt wieder auf den Plan tritt. 

Das ist wie ein Spiel: Wer ist besser, wer schlechter? Doch ich weiß nicht, wie man es spielt, wofür man wie viele Punkte vergeben soll

Es gibt nicht viele Länder, die in der Lage sind, eine Idee vorzulegen, einen Ton oder Stil, die dann die ganze Welt beeinflussen. Russland ist eines der ganz wenigen Länder, die eine große Idee haben und sie in den globalen Diskurs werfen können. Früher war das der Kommunismus, jetzt ist es der Triumph des Zynismus.

Meinen Sie die Trollfabrik?

Ich meine die Technologie dahinter. So zeigt Russland, dass es kampfbereit ist, auf Krawall gebürstet. Es gibt überall Trolle, nur dass Russland eine Außenpolitik daraus gemacht hat, beziehungsweise eine Finanzpolitik im Sinne der Beziehung zwischen Regierung und Oligarchen, aber in der einen oder anderen Form gibt es überall Trolle.

Die eigentliche Frage ist für mich, warum unsere Idee von Meinungsfreiheit nicht in der Lage ist, mit den Trollen fertig zu werden. Duterte und andere Trollfabrik-Dirigenten reden ständig von Meinungsfreiheit. Das Ziel der Trollfabriken ist es, den Menschen ihre Rechte zu nehmen. Das sind ja keine großen Demokraten, sie wollen zum Schweigen bringen und diskreditieren, mitunter sogar zu Gewalt verführen. Man hat lange darüber nachgedacht, wie man sie und dieses Verhalten regulieren soll, ohne dabei auf das Ideal der freien Meinungsäußerung zu verzichten, im Rahmen des internationalen Rechts. 

Die eigentliche Frage ist für mich, warum unsere Idee von Meinungsfreiheit nicht in der Lage ist, mit den Trollen fertig zu werden

Von der brillanten Forscherin Camille François stammt der Gedanke, dass man abrücken müsse von der Idee eines Contents, den man regulieren will. Die Menschen müssen das Recht haben zu sagen, was sie wollen. Regulieren muss man den massenhaften Betrug, die Fabriken, weil genau sie dem Menschen das Recht nehmen zu verstehen, was gerade passiert. Denn niemand weiß mehr: Ist das ein einzelner Mensch oder eine ganze Armee?

Aber wie?
 
Massenhafter Betrug wird illegal. Facebook spricht bereits davon, doch bislang gibt es kein Gesetz, also tun sie es von sich aus. Man darf nicht tausend Avatare erstellen, die wie Menschen aussehen und wie Menschen reden. Alle NGOs sind sich einig, dass das das Wichtigste ist. Die Konzerne versuchen irgendwie dagegen vorzugehen. Wie effektiv das ist, weiß noch niemand.
Außerdem sind die Strafen sehr gering. Wie soll man Trollfabriken bestrafen? Die USA werden wegen Prigoshin nicht Sankt Petersburg bombardieren, soviel steht fest. 
Doch was ist die angemessene diplomatische Konsequenz? Und was die juristische? Wir haben noch keine adäquate Antwort darauf gefunden.

Überall treten Verschwörungstheorien an die Stelle von Ideologien

Das Buch – das ist meine Reise weg aus Russland, dem Land meiner Vergangenheit. Ich versuche die große Welt zu verstehen, nicht Russland, England oder die USA, die ich alle gut kenne. Ich finde es spannend – und deswegen spreche ich nicht nur über Mord und Menschenrechte –, bis zu welchem Grad sich die Krisen des Informationsraumes überall ähneln. 
Überall treten Verschwörungstheorien an die Stelle von Ideologien. Überall wird versucht, die Menschen nicht mehr von einer höheren Idee zu überzeugen, sondern sie zu täuschen und in die Irre zu führen.
Die große Entdeckung für mich war, dass sich auf den Philippinen wie in Mexiko, in Demokratien, Diktaturen und hybriden Regimen dieselben Muster wiederholen.
 
Wie könnte eine neue Idee aussehen? Im Moment ist es eher ein Zurückrudern. Brexit, die Grenzschließungen wegen des Coronavirus …
 
Mein Spezialgebiet ist eng gefasst: Information und Propaganda. Ich kann sagen, wie wir demokratische Medien neu denken können, wie wir versuchen können, im 21. Jahrhundert ein Forum zu schaffen, das eine solche Zukunftsvision hervorbringen könnte.

Die große Entdeckung für mich war, dass sich auf den Philippinen wie in Mexiko, in Demokratien, Diktaturen und hybriden Regimen dieselben Muster wiederholen

Für den Diskurs über die Zukunft der Medien gibt es viele Ansätze und es wird viel darüber geschrieben. Die Art, wie wir in Demokratien derzeit Medien gestalten, trägt nicht dazu bei, Ideen zu entwickeln oder konstruktive Debatten zu führen, aus denen eine Zukunft entstehen könnte. Der ganze Sinn von Debatten während der demokratischen Primaries in den USA läuft auf Angriff und Beleidigung hinaus.

Es gibt eine ganze Schule der konstruktiven Berichterstattung. Konstruktiver Journalismus ist ein Ansatz, bei dem das Ziel der Redaktionspolitik darin besteht, immer nach Auswegen und Lösungen zu suchen. Jeder Artikel ist nicht nur ein Breittreten von Konflikten und Schreckensnachrichten. Natürlich verbietet keiner investigativen Journalismus und das Graben nach wichtigen Staatsgeheimnissen, aber es muss immer auch einen Blick in die Zukunft geben, um das Gespräch anzuregen. Das funktioniert zwar [nur] theoretisch sehr gut, aber wenigstens wird darüber nachgedacht. Wir müssen versuchen, das, was wir tun, neu zu denken, damit diese Debatte in die Gänge kommt.

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Sowjetnostalgie und Stalinkult

„Ihr habt vieles, worauf ihr stolz sein könnt“ – so schließt der US-amerikanische, russischstämmige Schauspieler David Duchovny 2014 auf YouTube seine Werbung für eine russische Biermarke. Im Spot durchlebt der Zuschauer mit Duchovny seinen alternativen Lebenslauf à la „was wäre, wenn seine Großeltern nicht ausgewandert wären“. Er öffnet ein Familienalbum und ein angeblich typisch russisch-sowjetisches Leben zieht an ihm vorbei: sein Portrait auf der Jahrgangsseite eines sowjetischen Schulalbums, als Langläufer im verschneiten Birkenwald, bei der Schulabschlussfeier mit Klassenkameraden auf dem Roten Platz. Seine Karrieremöglichkeiten zeigen ihn als Kosmonauten, als Choreografen im Bolschoi Theater, als erfolgreichen Schauspieler vor sowjetischen Kinoplakaten und als Eishockeyspieler mit Zahnlücke. Er feiert ausgelassen mit Freunden in einer Banja, singt mit ihnen Sowjet-Hits und rezitiert das bekannte Kindergedicht Rodnoje (dt. Verwandte): „Ich lernte, dass ich eine große Familie habe: den Pfad, das Wäldchen, jede Ähre auf dem Feld.“

Worauf man also in Russland laut Werbespot nebst beworbenem Produkt noch stolz sein darf? Auf Heldentaten in Schnee und Eis, Gagarin, Ballett, Kameradschaft und Spaß – auf die zentralen Themen der Sowjetnostalgie.

David Duchovny, dessen Name von russ. duchowni (dt. geistreich, beseelt) stammt, schwelgt in vergangenen Utopien, in nicht gelebten und nicht überprüfbaren Möglichkeiten. Die Gegenwart bleibt interessanterweise ausgespart, es geht auch nicht um die Geschichte, sondern um Atmosphäre und Kultur.

Vom „Geist einer Epoche“ und der Sehnsucht nach vergangenen Utopien

Kunst und Kultur des Sozrealismus zelebrierten überschwänglich das Gefühl, Teil einer „besonderen Epoche“ zu sein. Betrachtet man die liebevoll rekonstruierten Erinnerungsräume, den Phantomschmerz einer UdSSR 2.0 offline und im Netz, auf patriotischen Seiten, die Back in UdSSR oder Unsere Heimat UdSSR heißen1, so taucht dort zwischen den in den sanften Glanz des Vergangenen getauchten Bildern sowjetischer Werbeplakate, Kochbücher und Warenkataloge der 1950er bis 1970er Jahre immer wieder der Begriff des „Geistes jener Epoche“ auf – gemeint ist die große sowjetische Epoche, das „Land, das wir verloren“. Die schiere Größe seiner Geschichte als respektierte, ja gefürchtete Weltmacht reißt wie eine Naturgewalt alles mit sich. 

Das Erhabene und das Heroische kommen dem menschlichen Bedürfnis nach Sinnsuche entgegen. Angesichts des seit Jahren stagnierenden russischen Alltags birgt die Sowjetära mit ihren utopischen Zielsetzungen für einige junge Menschen neues Sehnsuchtspotenzial.



Quelle: Lewada

Vor allem ältere Menschen denken nostalgisch an die Sowjetunion zurück. Sie erinnern die „goldenen 1970er“ Jahre unter Breshnew als eine Zeit, in der es alles gab: bescheidenen Wohlstand, soziale Sicherheit, Arbeit, Großmachtstatus und gemeinschaftlichen Stolz auf das Erreichte. Zahlreiche Retro-Produkte, versehen mit den Prüfnummern der längst versunkenen staatlichen sowjetischen Prüfstelle GOST, knüpfen an solche Werte und an einen spezifisch sowjetischen Konsumstil an. Dieser war durch informelle Beschaffungsnetzwerke, Gefälligkeiten und Tauschsysteme (russ. blat) geprägt. Die zentrale Währung war das Vertrauen, nicht die anonymen und abstrakten Kräfte des westlichen Kapitalismus. Der vertrauens- und beziehungsbasierte Konsumstil gilt als dem entfremdeten „kapitalistischen“ Konsumstil moralisch überlegen.

Wie der Konsumstil so waren auch sowjetische Konsumgüter bald den westlich-kapitalistischen vorzuziehen: Die Sowjetbürger, durch die schlechte Qualität der lang ersehnten Importwaren enttäuscht, hörten bald von Gerüchten über abgelaufene Lebensmittel, die nach Russland geliefert würden. Zum Symbol kapitalistischer Machenschaften, der Erniedrigung der einstmals großen Nation, wurden die im Rahmen von Not-Krediten gelieferten US-amerikanischen Hühnerkeulen, die unter der Bezeichnung „Bush’s Keulchen“ bis heute durch die Medien geistern. Sie seien mit Hormonen und Chemie verseucht gewesen und hätten Allergien verursacht.

So wuchs die Überzeugung, dass die reichen westlichen Länder Russland grundsätzlich mit minderwertiger Ware belieferten. Parallel zu diesen Ängsten, zur Erosion des Rubels und steigenden Preisen für Importe wuchs die Aura der eigenen Lebensmittel und Güter. Sowjetische Eiscreme ist eine exemplarische nostalgische Speise, die mit Reinheitsvorstellungen, Kindheitserinnerungen und starken Emotionen verbunden ist. Sie wird von vielen explizit als Geschenk des sowjetischen Staates an seine Kinder erinnert.

Warum bedauern Sie den Zerfall der UdSSR in erster Linie?


Anteil der Respondenten, die angegeben hatten, den Zerfall der UdSSR zu bedauern. Quelle: Lewada

Güter und Atmosphären für den Heilungsprozess 

Durch die Erfahrungen aus der frühen postsowjetischen Zeit unterscheiden WissenschaftlerInnen hinsichtlich des Umgangs mit der zurückliegenden Sowjetära verschiedene Phasen: Eine erste Phase der postsozialistischen Distanznahme von der Symbolwelt, in der die einst so mächtigen Ikonen des Sozialismus zu Kitsch wurden. 
Eine zweite Phase brachte Mitte der 1990er Jahre die Rückbesinnung auf die materielle Kultur des sozialistischen Alltags. Sowjetische Güter standen nun für bestimmte Werte und erschienen in einer Gegenposition zum entzauberten Westen. 
Der dritte Typ nostalgischer Praktiken betraf die Rekonstruktion von Atmosphären, Werten und Stimmungen des Spätsozialismus. Dazu gehörten geteilte Erfahrungen wie Ferienlager oder die Populärkultur. 
Ein vierter Typus war die zunächst objektfixierte Stil-Nostalgie der jungen Generation. Die Nostalgie galt der entzauberten Utopie vom Westen ebenso, wie dem Verlust der respektierten Großmacht Sowjetunion. Die Südosteuropahistorikerin Maria Todorova sprach von der heilenden (restaurativen) Funktion der Nostalgie.

Die 1990er Jahre dagegen galten vor allem als Jahre des chaotischen Zerfalls des Sowjetreiches, der Entsolidarisierung der Gesellschaft und grassierender Kriminalität, während der Staat und die parlamentarische Demokratie versagten. Die ehemaligen Sowjetbürger erfuhren die 1990er Jahre als Dauerkrise und sprachen in Metaphern des Bröckelns und des Einsturzes darüber. Die Silowiki erfuhren den schmerzlichen Verlust des Großmachtstatus, ein Gefühl, das Putin in die Formel der „geopolitischen Katastrophe“ goss.

Sowjetnostalgie und symbolische Re-Stalinisierung

Spätestens seit Mitte der 2000er Jahre ist die Sowjetnostalgie Teil des patriotischen Projekts Russlands, den verlorenen imperialen Status wiederzugewinnen. Die politische Rhetorik sprach zwar von Erneuerung und Modernisierung – vor allem während der Präsidentschaft Medwedews –, benutzte aber die sowjetische Vergangenheit zur Legitimierung ihrer Politik. Das „Sowjetische“ war dabei historisch diffus und wurde zu einem gemeinsamen „kulturellen Erbe“. Diese Politik wertete Nostalgie als positive gesellschaftliche Kraft. Im offiziellen russischen Diskurs kursieren die Schlüsselbegriffe „traditionelle Werte“, „russische Kultur“, „Spiritualität“ und „historische Vergangenheit“. Die sowjetische Matrize erlaubt das Ausblenden ethnischer, religiöser und sonstiger regionaler Unterschiede und schafft eine alle umfassende „russische Kultur“. Leider stimmen die Grenzen der so erneuerten russischen Zivilisation zuweilen nicht mit den aktuellen Staatsgrenzen überein. Die nationale Kultur wird als historisch gewachsener „Organismus“ imaginiert, dem die rational fassbare Gegenwart und die nicht absehbare Zukunft weniger entsprechen als die Vergangenheit.

Betrachtet man die mediale Umsetzung, spielt Sowjetnostalgie eine zentrale Rolle, um diese gemeinsame Kultur mit vertrauten Bildern, Worten und Klängen zu illustrieren. Dazu gehörte zu Beginn der 2000er Jahre die Wiedereinführung der Melodie der sowjetischen Nationalhymne, die unter Stalin entstanden war.

Auch sowjetische Sehnsuchtsorte werden restauriert. Ferienheime, Pionierlager, die Metro und das 1939 eröffnete Gelände der Allunions-Landwirtschaftsausstellung WDNCh waren märchenhafte Geschenke des Staates – und Stalins – an seine Bürger. Das Messegelände der WDNCh wird seit einigen Jahren aufwendig restauriert, die erhaltenen Pavillons aus der Stalinzeit erstrahlen bereits in neuem Glanz. Auf der paradiesischen Krim befand sich das berühmteste aller Pionierlager, Artek, das mit der Annexion der Krim vor dem Verfall gerettet und sogleich unter die persönliche Schutzherrschaft Putins gestellt wurde.

Putin belebte das sowjetische Staatsmodell, zentralistisch und autoritär, mit starker Kontrolle durch die Sicherheitskräfte. Ein Rückgriff auf stalinistische Formeln ist die Belagerungsmentalität: Wir sind von Feinden umzingelt, der Faschismus lebt wieder auf.

Stalin – ein diffuser Erinnerungsdiskurs 

Mit dem paternalistischen Staatsmodell kam auch Stalin zurück. Mindestens zwei TV-Serien zeigen Stalin als „geschniegelten Opa, der sich auf sein luxuriöses Landgut zurückgezogen und im trauten Kreis der Seinen den Frieden mit sich selbst gefunden hat“2. Oder als strengen, aber freundlichen Vater, der absolute Autorität in allen Wissenschaften besaß, den Krieg gegen Nazideutschland gewann und für sein Volk sorgte.

Stalin verkörpert den Archetyp der Führerfigur, den strengen, aber gerechten Vater der Völker, er ist ein Symbol der Autorität und nationalen Stärke, eine Art Alleinstellungsmerkmal einer gedemütigten Nation. Seine Bewertung ist widersprüchlich: Umfragen des Lewada-Zentrums belegen die verbreitete Meinung, Stalin sei ein weiser Führer gewesen, der die Sowjetunion zu Macht und Wohlstand führte. Dieselben Befragten befanden aber auch, der Große Terror sei ein politisches Verbrechen gewesen, das sich nicht rechtfertigen lasse. Die Mehrheit meinte, das Wichtigste sei, dass unter Stalins Führung die Sowjetunion den Krieg gewonnen habe.

Obwohl die Gesellschaft Russlands die gewalthafte Natur der stalinistischen Politik kennt, fällt es ihr schwer, den Repräsentanten absoluter Macht zu verurteilen. Am meisten lieben ihn ältere, bildungsferne, ärmere BürgerInnen in strukturschwachen und ländlichen Gegenden. Entlang dieser Linien gruppiert sich auch die Wählerschaft Putins. Widersprüchlich ist auch die Bewertung des Stalinismus im politischen und wissenschaftlichen Diskurs, der zwischen der Verurteilung stalinistischer Verbrechen und deren Minimierung zugunsten der Größe und Stärke Russlands schwankt. Es gibt zwar keine offizielle Glorifizierung Stalins, und die stalinistischen Verbrechen werden von den Kremloberen nicht geleugnet. Aber sie werden klein gehalten, und Stalins Leistungen etwa als Generalissimus sind in populären Buchpublikationen weit präsenter als seine Verbrechen.

Es gibt kein konsistentes Narrativ Stalin und den Stalinismus betreffend, weder ein offizielles noch ein inoffizielles. Nationale Größe und kollektive Werte wie Einigkeit, Prestige und Ehre sind in der Wahrnehmung untrennbar mit brutaler Gewalt verbunden. Die Opfer sind bekannt, aber sie werden durch die Verdienste des Tyrannen aufgewogen: Die Anziehungskraft, die nationale Größe und ruhmreiche Geschichte auf einfache Bürger ausüben, verbindet sich mit der Legitimation despotischer Macht.

Die diffuse, rückwärtsgewandte offizielle Rhetorik kommt der Deutung der eigenen Geschichte in mythischen und sakralen Kategorien entgegen – nicht in Kategorien von Schuld und Verantwortung, sondern in solchen von Schicksal und Tragödie. So haben sich sowjetische Interpretationsmuster im russischen Erinnerungsdiskurs gehalten. Im Schulunterricht erscheint etwa der Gulag als Tragödie ohne identifizierbare Täter.3 Stalin war kein gewöhnlicher Mensch, er wurde zum Teil der Verklärung und Nostalgie.


Weiterführende Literatur:
Dubin, Boris (2005): Goldene Zeiten des Krieges: Erinnerung als Sehnsucht nach der Brežnev-Ära, in: Osteuropa 4-6/55, S. 219-233
Humphrey, Caroline (1995): Creating a culture of disillusionment: Consumption in Moscow, a chronicle of changing times, in: Miller, Daniel (Hrsg.): Worlds Apart: Modernity through the prism of the local, London/New York, S. 43-68
Kalinin, Ilya (2011): Nostalgic Modernization: The Soviet Past as "Historical Horizon", in: Slavonica 17/2, S. 156-166
Kalinin, Il’ja (2015):  Prazdnik identičnosti: Russkaja Kul’tura kak nacional’naja ideja, in: Politekonomija povsednevnosti 101/3, S. 250-261
Kravets, Olga/Örge, Örsan (2010): Iconic Brands: A Socio-Material Story, in: Journal of Material Culture 15/2, S. 205-232
Nadkarni, Maya/Shevchenko, Olga (2004): The Politics of Nostalgia: A Case for Comparative Analysis of Post-Socialist Practices, in: Ab Imperion 2/4, S. 487-519 
Sabonis-Chafee, Theresa (1999): Communism as Kitsch. Soviet Symbols in Post-Soviet Society, in: Barker, Adele Marie (Hrsg.): Consuming Russia: Popular Culture, Sex, and Society since Gorbachev, Durham, S. 362-382
Todorova, Maria (2010): Introduction: From Utopia to Propaganda and Back, in: Todorova, Maria/Gille, Zsuzsa (Hrsg.): Post-communist Nostalgia, Oxford/new York, S. 1-13
Zubarevič, Natal’ja (2012): Russlands Parallelwelten: Dynamische Zentren, stagnierende Peripherie, in: Osteuropa 62/6-8, S. 263-278

1.online unter: Back-in-ussr-com (10.10.2014). Als Gruppen in den sozialen Netzwerken Livejournal, Odnoklassniki und VKontakte sowie unzählige andere Webseiten und Blogs, z. B. Istoria SSR, Homeland.su, Rodina usw. 
2.Neue Zürcher Zeitung: Diktatur als Volksherrschaft? 
3.Neue Zürcher Zeitung: Sich im unbedingten recht fühlen. Ist der Gulag wirklich ein russisches Trauma? Oder nur „tragischer“ Teil einer großen Ära? 
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