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Hass im Donbas

Dieses Warum beschäftigt mindestens Europa seit mehr als zehn Jahren: Warum haben russische Propaganda, Geld und Waffen in den ukrainischen Donbas-Regionen Donezk und Luhansk so viel stärker verfangen als in anderen Gebieten? Es kann nicht nur an der russischen Sprache oder dem früher hohen Anteil der sich als Russen identifizierenden Menschen liegen, betonen ukrainische Wissenschaftler und Publizisten. Denn dies trifft auch auf Teile der Regionen Odesa, Charkiw und Saporischschja zu.  

Vielmehr sei schon der Begriff eines vermeintlich homogenen Donbas’ ein Teil der (pro-)russischen Propaganda, während die gesamte Region vielfältiger sei, sich im ländlichen Raum viel mehr ukrainische Traditionen und Sprache sowie Minderheiten wie etwa die griechische Gemeinschaft fänden. Das Warum-im-Donbas erklären sie mit einer besonders aggressiven Propaganda, die eine laute Minderheit zum Volkswillen erhebt.  

Wie sich das genau entwickelt hat, skizziert auch Konstantin Skorkin: In seinem Artikel für die russischsprachige Ausgabe von The Moscow Times beschreibt er die Ursprünge und Entwicklungsstufen der russischen Einmischung in die politische Entwicklung der ostukrainischen Regionen bis zum Beginn des Kriegs 2014. Der Journalist Skorkin stammt selbst aus Luhansk und berichtet seit Jahren aus seiner Heimat, später aus Moskau, mittlerweile aus dem westlichen Ausland über den Donbas. 

Источник The Moscow Times
Graffiti mit dem Schriftzug Noworossija und PTN und den Farben der sogenannten Volksrepublik Donezk © ZUMA Press / Imago

Dem Krieg im Donbas ab 2014 ist eine jahrelange mediale Hassspirale vorausgegangen. So sehr der Euromaidan selbst auch polarisiert haben mag, ohne ein schrittweise gefestigtes ideologisches Fundament hätte es nie zu diesem durch Russland militärisch unterstützten Separatisten-Aufstand kommen können. Der Donbas wird in die Geschichtsbücher eingehen als Paradebeispiel: So erzeugt man künstlich einen bewaffneten Konflikt – durch Missbrauch lokalpatriotischer Bewegungen und medialen Hass. 

Bergmann im Donbas statt Bürger der Ukraine  

Beim Referendum 1991 stimmte noch die Mehrheit der Bewohner des Donbas für die ukrainische Unabhängigkeit – jeweils fast 84 Prozent in den Oblasten Donezk und Luhansk. Doch diese anfängliche Unterstützung wich schnell einer wachsenden Unzufriedenheit. Dafür gab es mehrere Gründe:  

Erstens litt der Donbas stärker als andere Regionen unter dem Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft. Viele Unternehmen hier waren stark auf den gesamtsowjetischen Absatzmarkt ausgerichtet und erwiesen sich als ineffizient für den geöffneten Weltmarkt.  

Zweitens spielte – aufgrund der industriellen Prägung der Region [die viele Arbeiter aus allen Teilen der Sowjetunion in die industriellen Zentren des Donbas’ brachte – dek] – die sowjetische Ideologie eine große Rolle. Später erfasste die verarmte Bevölkerung dann schnell eine UdSSR-Nostalgie. Bis 2004 galten die meisten Sympathien dort der Kommunistischen Partei der Ukraine.  

Drittens: Es überwiegt eine russischsprachige Bevölkerung mit einer verwaschenen Identität, die stärker in einem lokalen oder beruflichen Selbstverständnis wurzelt – „Wir aus dem Donbas“, „Wir Bergleute“ – als in einer Identifikation mit der Gesamtukraine. Ebenso in Bezug auf Russland. 

Der japanisch-amerikanische Historiker Hiroaki Kuromiya, der sich auf den Donbas spezialisiert, bezeichnete die Region einmal als „Problemkind“ von Kyjiw und Moskau. 

Was lockt den Donbas gen Osten? 

Bereits in den späten 1980er Jahren strebten im Donbas erste Organisationen eine Autonomie oder sogar Abspaltung der Region von der Ukraine an, etwa die Internationale Bewegung des Donbas in Donezk oder die Volksbewegung der Region Luhansk – häufig unterstützt von lokalen Gruppen der Kommunistischen Partei, die versuchten, ein Gegengewicht zur ukrainischen national-demokratischen Bewegung zu schaffen. Sie blieben jedoch eine marginale Kraft, die nach der Gründung der unabhängigen Ukraine wieder verschwand.  

Mit der Stabilisierung der sozioökonomischen Lage des Landes ging dieser regionale Separatismus zurück, verschwand aber nie völlig. 

Mit der Zeit aber nutzten die lokalen Eliten die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung für ihre Zwecke: Während der Bergarbeiterstreiks 1993/94 forderten sie unter anderem die Schaffung einer ostukrainischen Autonomie und die Erhebung des Russischen zur Amtssprache. Es gab sogar ein regionales Referendum zu diesen Fragen, dessen Ergebnisse jedoch nie offiziell anerkannt wurden. Mit der Stabilisierung der sozioökonomischen Lage des Landes ging dieser regionale Separatismus zurück, verschwand aber nie völlig. 

Später räumten die Donbas-Aktivisten selbst ein, dass der wichtigste Faktor für das Scheitern der ersten Abspaltungsversuche die fehlende externe Unterstützung durch Russland gewesen sei. In den Beziehungen zwischen Kyjiw und Moskau war in den 1990er Jahren eher die Krim der Zankapfel. Erst 2004 änderte sich die Situation dramatisch. 

Wahlen, Angst und Hass im Donbas 

Da standen sich bei den Präsidentschaftswahlen der regierungsnahe Kandidat Viktor Janukowytsch, ehemaliger Gouverneur der Oblast Donezk, und Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko gegenüber. Die Kandidaten verkörperten zwei gänzlich unterschiedliche Entwicklungsrichtungen der Ukraine: Juschtschenko setzte sich für eine europäische Integration ein, während Janukowytsch sich an Russland orientierte.  

Der Kreml machte Juschtschenko das Leben schwer: Ein Trupp Polittechnologen unter der Leitung von Gleb Pawlowski reiste nach Kyjiw. Da Juschtschenko in den westlichen Regionen der Ukraine mehr Unterstützung genoss, setzte Janukowytschs Stab unverfroren auf eine Spaltung des Landes, indem er den russischsprachigen Südosten gegen den national ausgerichteten Westen ausspielte. 

Die Propaganda machte aus Viktor Juschtschenko – einem gemäßigt liberalen Banker mit einer Leidenschaft für ukrainische Geschichte – einen radikalen Nationalisten. Als Juschtschenko dann zu einem Treffen mit Anhängern nach Donezk kam, erwarteten ihn in den Straßen riesige Plakate, die ihn in Nazi-Uniform zeigten. 

Ein regionaler Fernsehsender in Luhansk zeigte zweiminütige Hass-Sendungen à la Orwell.  

Die Flut der „schwarzen“ Negativ-PR nahm nach Beginn der Proteste auf dem Maidan im Herbst 2004, die als Orangene Revolution in die Geschichte eingehen sollten (Orange war die Wahlkampffarbe Juschtschenkos), noch weiter zu. Während die landesweiten Medien nach und nach auf die Seite der Revolution wechselten, verbreiteten die von Janukowytsch-Anhängern kontrollierten regionalen Fernsehsender in den südöstlichen Regionen Hass und Propaganda.  

So zeigte beispielsweise ein formell staatlicher regionaler Fernsehsender in Luhansk zweiminütige Hass-Sendungen à la Orwell: Protestierende Ukrainer wurden mit wilden Tieren und Nazis verglichen. Bilder vom Maidan wurden zu einer suggestiven Videosequenz zusammengeschnitten. „Da wurden heulende Wölfe gezeigt, marschierende Militäreinheiten, eine Gottesanbeterin in Angriffshaltung, springende Affen, Obst, das im Zeitraffer verfaulte“, erinnert sich ein Luhansker Journalist. Viele zweifelten schon damals, ob solch ausgefeilte Beispiele hybrider Kriegsführung wirklich von einem Provinzsender produziert werden konnten. 

Gleichzeitig wurden lokale Oppositionelle massiv unter Druck gesetzt. So wurde [Ende November 2004 – dek] Juschtschenkos Hauptquartier in Luhansk angegriffen. Einige Tage später ging eine Gruppe angeheuerter Hooligans mit Baseballschlägern auf eine „orange“ Kundgebung im Zentrum von Luhansk los. Im Grunde wurde im Donbas 2004 eine Strategie angewandt, die 2014 landesweit ausgeweitet wurde: Ihr Ziel war organisiertes Chaos und Polarisierung. 

Trotz allem: Juschtschenko gewann die Wahlen, Janukowytsch verlor. 

Die Spaltungsideen nahmen neue Formen an. Am 28. November 2004 fand in Sewerodonezk (Oblast Luhansk) ein Kongress mit Lokalpolitikern statt, auf dem eine neue autonome Südost-Republik konzipiert wurde – ihre vorgesehenen Grenzen deckten sich übrigens mit dem vom Kreml 2014 verkündeten Konzept Noworossija (dt. Neurussland). Am Kongress nahm auch der damalige Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow teil. Russische Sender, die im russischsprachigen Teil der Ukraine traditionell beliebt waren, präsentierten diesen Kongress als Ausdruck des Volkswillens.  

Vom Maidan zum Euromaidan – eine Eskalation  

Den Sieg des ersten Maidan fasste der Kreml als existenzielle Bedrohung auf. Der amerikanische Politikwissenschafter Paul D'Anieri schrieb, die orange Revolution habe der Erwartung vieler Russen, die Ukraine würde eines Tages doch „wieder heimkommen“, einen Dämpfer verpasst und ihren möglichen, unwiederbringlichen Verlust vor Augen geführt. Daher erhielten von nun an alle prorussischen und separatistischen Bewegungen im Donbas jede größtmögliche Unterstützung vonseiten Moskaus. Der Donbas gilt seitdem – wie die Krim – als Vorposten des russischen Einflusses. 

Einschlägige Organisationen schossen wie Pilze aus dem Boden – wie Donezkaja respublika (dt. Donezker Republik) in Donezk, Molodaja gwardija (dt. Junge Garde) in Luhansk. Trotz ihrer verfassungsfeindlichen Rhetorik drückten die regionalen Behörden ein Auge zu und förderten sie sogar heimlich. Alle diese Organisationen bekamen Unterstützung von ultrarechten Bewegungen in Russland, die wiederum vom Kreml gesteuert wurden – allen voran von Alexander Dugins Eurasische Union. Pawel Gubarew, später Mitbegründer der selbsternannten „Donezker Volksrepublik“, ließ sich in Lagern der Russischen Nationalen Einheit ausbilden.  

Die Region wurde von einer massiven Propagandawelle überschwemmt, die den lokalen Donbas-Patriotismus über den gesamtukrainischen Patriotismus setzte und ständig die angeblich besonderen Beziehungen des Grenzgebiets zu Russland unterstrich. So wurde zum Beispiel in Luhansk ein Denkmal für „die Opfer der UPA“, errichtet. Dabei waren OUN–UPA praktisch nie im Donbas aktiv gewesen (abgesehen von episodischen Ausflügen, die Vertreter dieser Organisation während des Zweiten Weltkriegs unternahmen). Das war eine zutiefst propagandistische Geste. Sie zielte darauf ab, die Bewohner des Ostens und des Westens, die die dunklen Kapitel der ukrainischen Geschichte auf unterschiedliche Weise wahrnehmen, gegeneinander aufzuhetzen.  

Eine Partei provoziert medialen Schlagabtausch 

Zur wichtigsten Plattform dieser spalterischen Ideen entwickelte sich die Partei der Regionen, die im Donbas praktisch ein Machtmonopol innehatte. Der Rat der Oblast Luhansk beschloss zum Beispiel das regionale Programm Patriot Luganschtschiny (dt: Patriot des Luhansker Landes), in dem eine ganze Reihe kultureller Symbole aus Sowjetzeiten als Alternative zum nationalen Projekt der Ukraine präsentiert wurden.  

Solche lokalen Bemühungen stützten sich auf Beistand aus Russland: Regelmäßig fanden im Donbas runde Tische zu Themen wie „Föderalisierung des Landes“ [als Kontra-Forderung gegen den Euromaidan – dek] oder „Schutz der russischen Bevölkerung“ statt, an denen immer auch Gäste aus Moskau teilnahmen. Die Stiftung Russki Mir (dt. Russische Welt) eröffnete in Luhansk eine Filiale.  

Die über die Jahre entstandene Entfremdung des Donbas und das hohe Maß an Identifikation mit der Region boten diesen polittechnologischen Übungen eine gute Angriffsfläche. 2014 verstanden sich laut einer Studie der Luhansker Nationalen Universität 35,8 Prozent der Bevölkerung der Oblaste Donezk und Luhansk in erster Linie als Bewohner ihrer Region, während sich nur 28,1 Prozent als ukrainische Staatsbürger fühlten. Ein weiterer beliebter Identitätsmarker war die Antwort „Sowjetmensch“ mit 14,4 Prozent.  

Zur Verstärkung dieser Spaltung übten sich Wortführer der Partei der Regionen in einer Rhetorik der feindseligen und diskriminierenden Sprache. Der Regionen-Politiker Nikolaj Lewtschenko aus Donezk sagte: „Ukrainisch ist die Sprache der Folklore. Wenn Russisch Amtssprache ist, dann gibt es einfach keine Notwendigkeit mehr, Ukrainisch zu sprechen. […] Seien wir doch realistisch. Die zweite Amtssprache ist lediglich pro forma. In der Ukraine soll es nur eine Amtssprache geben, nämlich Russisch.“ Sein Kollege Juri Boldyrew formulierte es noch radikaler: „Ich bin dafür, dass die Ukraine Galizien loswird. Wenn man Galizien aus meinem Land entfernt und die echte Ukraine mit dem Donbas und der Krim übrig lässt, dann wird sie jenes erste [und echte] Russland sein […] Galizien ist eine Geschwulst am Leib der Ukraine.“  

Darauf folgte eine Welle negativer Reaktionen aus der patriotischen ukrainischen Intelligenzija und von Vertretern des westlichen Teils der Ukraine. Diese Konfrontation verhärtete sich besonders nach Janukowytschs erfolgreicher Revanche bei den Präsidentschaftswahlen 2010, die er größtenteils den Wählerstimmen aus dem Süden und Osten zu verdanken hatte.  

Durch ihr Misstrauen, ihre Geringschätzung und Verachtung gegenüber der Bevölkerung und Kultur des Donbas‘ hatte Russland leichtes Spiel.

Der prominente ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch, gebürtig aus Iwano-Frankiwsk, erklärte 2010, die Ukraine solle eher den Donbas und die Krim abschütteln, deren Bevölkerung die Ukraine fremd sei. Sein mit dem Schewtschenko-Preis ausgezeichneter Kollege Wassyl Schkljar schlug noch schärfere Töne an: „Wenn die Nation krank ist und dieses Territorium nicht verträgt, nicht verdauen kann, dann ist es besser, sich davon zu verabschieden.“  

Der Historiker Hiroaki Kuromiya sieht darum auch bei den ukrainischen Intellektuellen einen Teil der Schuld an der ukrainischen Spaltung: „Durch ihr Misstrauen, ihre Geringschätzung und Verachtung gegenüber der Bevölkerung und Kultur des Donbas‘ – als ob das, sozusagen, die unzivilisierten Hinterhöfe der Ukraine wären –, hatte Russland leichtes Spiel.“ 

So verstärkte sich die Spaltung. Bis kurz vorm Euromaidan Russlands Bemühungen praktisch offene Formen annahmen: Im September 2013 fuhr Putins Berater Sergej Glasjew nach Luhansk zu einer bizarren Parade prorussischer Kräfte, nämlich einer Konferenz über die Perspektiven der Ukraine, der Eurasischen Zollunion beizutreten. Die Veranstaltung wurde von Viktor Medwedtschuks Bewegung Ukrajinski wybor (dt. Ukrainische Wahl) organisiert. Viele der Delegierten sollten ein halbes Jahr später zum aktiven Kern der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk gehören. 

Wichtigster Destabilisierungsfaktor: Russland 

Im Laufe eines Jahrzehnts hatte sich im Donbas immer mehr Hass angestaut. Feindselige Rhetorik und eine Politik der Polarisierung führten zu einem bewaffneten Konflikt. Dabei trafen unterschiedliche Faktoren aufeinander: Politiker und Intellektuelle, die aus einem Zwiespalt politisches Kapital schlagen wollten, alte Traumata und Komplexe, Probleme bei der Entwicklung des ukrainischen Staates. Doch der schwerwiegendste Destabilisierungsfaktor war eine externe Macht: Putins Russland. Ohne dessen Einmischung hätten sich selbst die heftigsten Spannungen zwischen Kyjiw und dem Donbas, zwischen Osten und Westen gelöst – nämlich im Zuge der Evolution einer vielfältigen ukrainischen Gesellschaft. 

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Sergej Kirijenko

Etwa 500 Schüler und Studenten aus ganz Russland sitzen auf bunten Sitzkissen im Halbkreis. Sie sind Teilnehmer des exklusiven Coaching-Programms Neue Horizonte, mit dem sich die staatsnahe Stiftung Snanije (dt. Wissen) an die russische Elite von morgen wendet. Der Mann in der Mitte, dem alle gebannt zuhören, erzählt von den 10 Prinzipien einer effektiven Führungskraft.1  

Dass es dabei dem Namen nach nicht um einen effektiven Manager geht, ist wahrscheinlich kein Zufall – denn dieser Begriff ist im russischen Politjargon sehr mehrdeutig: Manche verbinden ihn (galgenhumorig) mit Stalin oder Berija, andere assoziieren damit den Vortragenden selbst, Sergej Kirijenko. Der Erste stellvertretende Leiter der Präsidialadministration hat zudem noch ganz andere Spitznamen: Kinderüberraschung etwa, oder Vizekönig von Donbass.

Unumstritten sind diese Zuschreibungen nicht. Der Vortrag verdeutlicht aber, dass Kirijenko ein sehr guter Redner ist: Er spricht zielgruppengerecht, interagiert mit dem Publikum und holt es immer wieder mit aktuellen Beispielen aus dem Donbas ab. Es ist ein Heimspiel für Kirijenko, denn er ist der zivile Statthalter der 2022 annektierten ukrainischen Gebiete. Zudem ist Kirijenko neben Alexej Gromow für die (Des-)Informationsagenda sowie die Medien- beziehungsweise Propagandapolitik Russlands zuständig. In seiner Eigenschaft als Erster stellvertretender Leiter der Präsidialadministration steuert er die Innenpolitik Russlands. Mit dem Aufbau von Kaderschmieden, Initiativen und gelenkter Zivilgesellschaft richtet sich seine Politik vor allem an die jüngeren Menschen. Die Grundzüge patriotischer Erziehung, die Kirijenko in sein Management-Coaching einflicht, wirken anders als die aggressive Kriegspropaganda in den Staatsmedien. Ruhig und heiter vermittelt er seine Inhalte: Hart in der Sache, sanft im Ton. Hier formt er mit Begeisterung die nächste Generation der Verwaltungselite. Womöglich erweckt dies in ihm Erinnerungen an den Komsomol, die Jugendorganisation der kommunistischen Partei, wo auch seine Karriere einst begann.     

Der Komsomolze

1962 in Suchumi geboren, wuchs Sergej Kirijenko in Sotschi auf. Anschließend ging er zum Studium nach Nishni Nowgorod. Dort leitete sein Vater an der Technischen Universität für Wassertransport den Lehrstuhl für wissenschaftlichen Kommunismus – und war so direkt für die Indoktrination der Studierenden zuständig.2 1984 absolvierte Kirijenko das Institut als Schiffbauingenieur, trat in den Komsomol ein und beendete anschließend seinen Militärdienst in der ukrainischen Stadt Mykolajiw (Nikolajew).3 1986 nach Nishni Nowgorod zurückgekehrt, leitete Kirijenko als Meister eine Arbeiterbrigade in den traditionsreichen Schiffsbauwerken Krasnoje Sormowo. Dort beteiligte er sich an der Fertigung von Atom-U-Booten.

Sein Aufstieg ist auch Thema des besagten Vortrags: Immer wieder betont Kirijenko die Wichtigkeit des effizienten Lernens. In einer sich stetig wandelnden Welt sei die Fähigkeit, sich schnell umzuorientieren, für den Wettbewerbsvorteil entscheidend. Er erzählt von seiner Ingenieursarbeit in Krasnoje Sormowo, bei der er seine Parteikarriere verfolgte und sich schnell als Komsomol-Sekretär etablierte – zunächst nur für die Schiffsbauwerke, dann für das ganze Stadtgebiet Gorki.

Der Komsomol bot während der Perestroika ambitionierten jungen Menschen nicht nur Aufstiegschancen in der Parteihierarchie und Verwaltung. Er war zugleich eine Art Schule des Unternehmertums, wo die späteren Oligarchen, wie etwa Michail Chodorkowski, ihre ersten Gehversuche in der Marktwirtschaft machten.4 Auch Kirijenko eröffnete Ende der 1980er Jahre zusammen mit anderen Komsomolzen eine Import-Export-Firma mit dem klangvollen Namen Aktienkonzern der Jugend (AMK – akzionerny molodeshny konzern). Auch in dieser Position mauserte er sich schnell zum Generaldirektor. Gleichzeitig startete er seine politische Karriere: Mutmaßlich mit Hilfe seines Vaters, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwei PR-Agenturen in Nishni Nowgorod eröffnet hatte, wurde er 1990 als Abgeordneter in den Landtag von Gorki gewählt. Parallel dazu ließ er sich an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst (RANCHiGS) zum Finanzwirt ausbilden. 1993 wurde er Vorstand der Bank Garantija: Die größte Bank der Stadt führte unter anderem die Rentenkonten der Regionalverwaltung. Faktisch stand ihr damals Boris Nemzow vor, jüngster Gouverneur Russlands. Für Kirijenko erwies sich diese Bekanntschaft fortan als größter Karriereantrieb.  

Der Premierminister

Nemzow genoss überregionale Popularität als charismatischer liberaler Reformer und potentieller Nachfolger für das Präsidialamt. Noch bevor er 1997 von Boris Jelzin in die Zentralregierung auf den Posten des Ersten Vize-Ministerpräsidenten mit Schwerpunkt Energiewirtschaft berufen wurde, ernannte Nemzow seinen Vertrauten Kirijenko zum Direktor des staatlichen Energiekonzerns Norsi-Oil in Nishni Nowgorod. Schon bald folgte Kirijenko Nemzow nach Moskau; zuerst als sein Stellvertreter, wenige Monate später als Energieminister. Doch viel Zeit, sich in seine neue Rolle einzugewöhnen, hatte er nicht. Innerhalb eines Jahres überflügelte Kirijenko seinen Förderer, als Jelzin ihn im März 1998 zum Premierminister ernannte. Mit 35 Jahren war er der jüngste Regierungschef in der russischen Geschichte. Seitdem haftet ihm der Spitzname „Kinderüberraschung“ an. Er blieb nur fünf Monate im Amt.

War Kirijenko ein Bauernopfer, das den Default abfedern sollte? Die Geschichte scheint dafür zu sprechen: Die Währungskrise in Asien 1997 hatte auch in Russland eine Kapitalflucht ausgelöst. Internationale Anleger entschieden sich dazu, ihr Geld lieber in stabilere Ökonomien zu investieren. Der russische Staat war gezwungen, die Zinsen für Staatsanleihen zu erhöhen, um die so entstandenen Löcher im Haushalt zu stopfen. Dadurch verschlechterten sich die Bedingungen für Umschuldung. Gleichzeitig verringerte ein Preiseinbruch auf den internationalen Rohstoffmärkten, insbesondere bei Öl und Gas, die Staatseinnahmen. Hinzu kam, dass der Rubel überbewertet und sein Wechselkurs fest war, was wirtschaftliche Akteure zum Verkauf der russischen Währung animierte. Trotz massiven Einsatzes von Währungsreserven zur Stützung des Rubels konnte die Situation nicht unter Kontrolle gebracht werden. Am 17. August 1998 war Kirijenko gezwungen, den Staatsbankrott zu erklären, den Rubel freizugeben und damit seine Abwertung einzuleiten.

In der Folge verloren viele Sparer ihr Geld, Präsident Jelzin entzog dem jungen Premierminister das Vertrauen. Viele Menschen in Russland verbinden den Default als existenzbedrohende Erfahrung seither mit Kirijenkos Namen. Heute gilt der Staatsbankrott als eine von „Liberalen“ verschuldete Katastrophe der wilden 1990er Jahre.     

Der Technokrat

Kirijenkos Amtszeit als Ministerpräsident war zwar kurz, aber bewegt. Besonders eine Personalentscheidung Jelzins, deren Verkündung Kirijenko oblag, sollte sich als besonders folgenreich erweisen: Rund ein Monat, bevor er den Hut nehmen musste, verkündete er, dass Jelzin seinen Ersten stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration, Wladimir Putin, nun zum Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB ernannt hat. Knapp ein Jahr später, im August 1999, war Putin bereits Premierminister. In dieser Eigenschaft traf er im Dezember 1999 erneut mit Sergej Kirijenko zusammen, der bei Putin nun für die von ihm mitbegründete Union der rechten Kräfte (SPS) werben wollte. Heute kann man dieses Treffen als Geburtsstunde der sogenannten Systemopposition im postsowjetischen Russland betrachten: Gemeint sind Parteien, die vom Kreml geschaffen wurden, um zum Schein die Rolle der Opposition zu spielen. Offizielles Ziel der SPS war eine Neuaufstellung der liberalen Kräfte in der russischen Politik. Kirijenko stand persönlich für einen dezidiert pro-europäischen Kurs der SPS. Bei den Wahlen zur Staatsduma 1999 erreichte die SPS fast neun Prozent der Stimmen und zog ins Parlament ein. Kirijenko wurde Fraktionsvorsitzender. Bei den gleichzeitig stattfindenden Bürgermeisterwahlen in Moskau unterlag er jedoch mit 11,3 Prozent deutlich dem Amtsinhaber Juri Lushkow. 

Kurz nachdem Putin zum Jahreswechsel 2000 das Präsidentenamt übernommen hatte, holte er Kirijenko in die Präsidialadministration. Die Arbeit am Abbau der Gewaltenteilung begann, Putin rezentralisierte Russland und beschnitt die Kompetenzen der Föderationssubjekte. Schon im Mai führte er per Dekret damals sieben Föderationskreise ein. Kirijenko wurde zu Putins bevollmächtigtem Vertreter für den Föderationskreis Wolga. Damit beendete er seine politische Karriere und begann eine neue als hochgestellter Beamter der Präsidialverwaltung.

An seiner alten Wirkungsstätte Nishni Nowgorod konnte Kirijenko auf ein dichtes Netz an Bekanntschaften zurückgreifen, die ihm eine effektive Steuerung der Regionalpolitik im Sinne des Kreml ermöglichten. Besonders beeindruckend für Putin erwies sich dabei wohl der beharrliche Ansatz Kirijenkos im Umgang mit den eigenwilligen Regionaleliten von Tatarstan und Baschkirien, die er trotz Widerstände in die Machtvertikale integrieren konnte.5

Mit solchen Erfolgen empfahl sich Kirijenko für einen höheren Posten im Staatsapparat. Im November 2005 wurde er schließlich zum Leiter der Föderalen Agentur für Atomenergie. Er gestaltete die Behörde in die Staatsholding Rosatom um und verwandelte sie innerhalb von knapp elf Jahren zu einem globalen Player im Aufbau von Energieinfrastruktur. In dieser Zeit knüpfte Kirijenko auch enge Beziehungen zu dem Bankier Juri Kowaltschuk, der als „Putins Brieftasche“ bekannt ist.     

Der Polittechnologe

Doch nach knapp elf Jahren an der Spitze von Rosatom war Kirijenko den Beobachtern eine weitere Überraschung schuldig. 2016 ernannte Putin ihn zum Еrsten stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration mit dem Aufgabenschwerpunkt Innenpolitik.6 Laut Einschätzung des Journalisten Andrej Perzew haben Kirijenkos Vorgänger auf diesem Posten, Wladislaw Surkow und Wjatscheslaw Wolodin, immerhin mit dem russischen Elektorat zusammengearbeitet, um die Unterstützung für den Regierungskurs und Putin persönlich zu mobilisieren – wenn auch in höchst manipulativer Manier. Kirijenko hingegen ging direkt zur Inszenierung (zivil)gesellschaftlicher Unterstützung über, zur Herstellung von Akklamation, die exklusiv die Erwartungshaltung Putins bedienen sollte.7 

Die unmittelbar anstehende Parlamentswahl 2016 wurde zur Bewährungsprobe für Kirijenko. Dabei musste zum ersten Mal auch die annektierte Halbinsel Krim in die Wahl der Staatsduma „integriert“ werden. Im Endergebnis sicherte Kirijenko mit 54,2 Prozent ein überragendes Ergebnis für Einiges Russland, indem er unter anderem Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst zu Propagandaveranstaltungen delegierte und ihnen durch engmaschige Kontrolle die richtige Wahlentscheidung diktierte.8 Die auf diese Weise entwickelten Instrumente der Masseninszenierung, die letztlich auf Zwangswahlen hinausliefen, verfeinerte Kirijenko anschließend bei der Präsidentschaftswahl 2018 und bei der Abstimmung zur Verfassungsänderung 2020. Das eine sicherte Putins Wiederwahl mit 76,69 Prozent, das andere bescherte ihm die Aussicht auf weitere 16 Jahre an der Macht. 

Inszenierungen, Manipulation der öffentlichen Meinung und Einsatz der sogenannten Adminressource gelten als übliche Technologien von Spin Dictatorships.9 Für diese Instrumente des Machterhalts sind im Kreml vor allem zwei Bürokraten zuständig: Kirijenko und sein gleichrangiger Kollege Alexej Gromow. Gromow verantwortet unter anderem die Überwachung und Propaganda in analogen Medien, Kirijenko entwirft und lenkt als oberster Polittechnologe und Eventmanager die Imitationen zivilgesellschaftlicher Institutionen, treibt die Professionalisierung der Verwaltungsabläufe voran und steuert die russische Internet-Politik. Zusammen entscheiden die beiden über die sogenannten metoditschki – Leitfäden, die die mediale Berichterstattung vorgeben.

Dieses polittechnologische Handwerkszeug nutzt und entwickelt Kirijenko schon so lang wie auch seine Verbindungen zu den Methodologen. Um dieses Netzwerk der bereits in sowjetischer Zeit entstandenen Schule um Georgi Schtschedrowitski, in deren Umfeld die für Putins aggressiven Expansionskurs grundlegende Ideologie der „Russischen Welt“ entstanden ist, macht er kein Geheimnis.10 Die Netzwerke der Methodologen umspannen immer noch den engsten Kreis der Putin-Vertrauten.11

Der Okkupant

Anders als die sowjetischen Dissidenten setzten die Methodologen darauf, den Parteiapparat und vor allem seine Jugendorganisation Komsomol zu infiltrieren, um die sowjetische Verwaltung und Marktwirtschaft zu reformieren. Die spielerische Aufmachung von Management-Coachings galt als eines der effektivsten Ansätze der Methodologen, auch Kirijenko soll die Methoden weiterentwickelt haben. Vor allem die Steuerung der Bewegung der Ehrenamtlichen und Trainings für die Verwaltungselite erwiesen sich wohl als nützlich, als Kirijenko die Aufgabe zufiel, die besetzten ostukrainischen Gebiete in die Russische Föderation zu „integrieren“.12

Für den Einsatz in der Ostukraine bereitet Kirijenko im Mai 2022 auch seine Zuhörer vor. In Allgegenwart des zu einem Z stilisierten Logos der Stiftung Wissen (russ. Znanie), spricht er über die sogenannte militärische Spezialoperation: Kirijenko interagiert zielgruppengerecht, schaut in die Gesichter der zukünftigen Verwaltungselite, die er aufgebaut hat und auf die er sich schon morgen stützen kann – es ist sein persönlicher Komsomol.  

Kirijenko betont immer wieder: Der Donbass erhält materielle Hilfe von russischen Regionen. Aber die russischen Regionen erhalten auch etwas vom Donbass: Die Region lehrt Patriotismus, Willen zur Selbstbestimmung und Glauben. 

Glaube – das ist die Krönung seiner 10 Prinzipien des effektiven Managements. Er beendet seine Ausführungen mit einem anschaulichen Beispiel: Wenn man Mäuse in einen halb gefüllten Wassereimer hineinwirft, dann halten sie sich etwa 15 Minuten über Wasser, bevor sie erschöpfen und ertrinken. Wenn man sie kurz vor dem sicheren Tod aus dem Wasser herausnimmt, sie etwas zu sich kommen lässt und später erneut hineinwirft, halten sie 60 Stunden durch – weil sie hoffen und glauben. „Nun stellt euch vor, was die Kraft des Glaubens mit Menschen ausrichten kann“, sagt Kirijenko und schaut die jungen Menschen auf den bunten Sitzkissen an. Schon bald werden auch sie in den Krieg hineingeworfen.


1. Rossijskoe obščestvo Znanie: Kak stat' ėffektivnym upravlencem.
2. Die Wolga-Metropole Nishni Nowgorod, während der Sowjetzeit in Gorki umbenannt, hatte wegen hoher Konzentration von Rüstungsbetrieben den Status einer „geschlossenen Stadt“. Sie durfte von Ausländern nicht besucht werden und unterlag einer sehr strengen Kontrolle durch die Geheimdienste. Seit 1980, während der Studienzeit Kirijenkos, war die Stadt darüber hinaus als Verbannungsort des bekanntesten sowjetischen Dissidenten, Nobelpreisträgers und Menschenrechtlers, Andrej Sacharow, bekannt. 
3. kremlin.ru: Kirienko, Sergej Vladilenovič
4. Kaminskij, Konstantin (2017): Another Life of the Soviet Intelligentsia and the Subconscious of Neo-Russian Liberalism. In: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 21,2 (2017), S. 13-40. 
5. meduza.io: Nemnogo strašnovato za buduščee
6. carnegie.ru: Goskorporacija UVP: čto privelo Kirienko v Kreml', a Volodina v Dumu
7. meduza.io: Isčerpyvajuščij putevoditel' po kar'ere Sergeja Kirienko
8. rbc.ru: Činovniki podključilis' k mobilizacii graždan na prajmeriz «Edinoj Rossii»
9. Guriev, Sergei/Treisman, Daniel (2022): Spin Dictators: The Changing Face of Tyranny in the 21. Century, Princeton. 
10. meduza.io: Stancuem val's bol'šoj vojny
11. proekt.media: Zvezda Putina
12. meduza.io: Vice-korol' Donbassa
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