Für den russischen Propagandisten Timofej Sergejzew ist das Problem klar: Die Ukrainer seien größtenteils „passive Nazis“. Lösung: Umerziehung, Repressionen und Zensur. Das ist, zusammengefasst, laut Sergejzew, Was Russland mit der Ukraine tun muss. Sein gleichnamiger Artikel, der am 3. April auf RIA Nowosti erschien – zeitgleich mit Bekanntwerden der Gräueltaten an Zivilisten in Butscha –, sorgt international für viel Aufsehen.
Für Manche ist es das Manifest des (missionarischen) Putinismus, andere sehen darin den ideologischen Leitfaden für den russischen Krieg gegen die Ukraine. Nicht zuletzt wird er auch als ein Programm für den Genozid an Ukrainern gelesen, zur „Endlösung der Ukrainerfrage“. Laut dem Leserzähler von RIA hatten den Text bis Mitte April schon fast anderthalb Millionen Menschen angeklickt (in der Zwischenzeit wurde der Zähler genullt).
Wer aber ist Timofej Sergejzew? Wie wichtig ist er für das System Putin? Spricht er gar im Namen des Kreml? Wie wurde sein Text in Russland selbst rezipiert? Und in welchem Zusammenhang steht er zu den russischen Verbrechen in der Ukraine?
dekoder bringt kontextualisierte Ausschnitte aus dem Text und Kommentare aus der Debatte russischer Liberaler in den sozialen Netzwerken.
Das Veröffentlichungsdatum: In welchem Zusammenhang steht der Artikel zum Massaker in Butscha?
Die Entnazifizierung ist notwendig, wenn ein wesentlicher Teil der Bevölkerung – wahrscheinlich die Mehrheit – unter dem Einfluss des Nazi-Regimes steht und in seine Politik hineingezogen wird. Das heißt, wenn die Hypothese „das Volk ist gut – die Regierung böse“ nicht mehr greift. Die Anerkennung dieser Tatsache ist die Grundlage der Entnazifizierungspolitik und all ihrer Maßnahmen, ihr Gegenstand ist die Tatsache selbst.
Денацификация необходима, когда значительная часть народа — вероятнее всего, его большинство — освоено и втянуто нацистским режимом в свою политику. То есть тогда, когда не работает гипотеза "народ хороший — власть плохая". Признание этого факта — основа политики денацификации, всех ее мероприятий, а сам факт и составляет ее предмет.
So beginnt Sergejzews Artikel Was Russland mit der Ukraine tun muss, der nur wenige Tage nach der Aufdeckung der russischen Verbrechen in Butscha auf der Seite der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti erschienen ist. In welchem Zusammenhang steht der Artikel zum Massaker? Schiebt der Autor eine Roadmap hinterher oder liefert er eine Ideologie, um das Verbrechen zu rechtfertigen? Die offizielle Haltung des russischen Verteidigungsministeriums zu der Gräueltat von Butscha ist: Das sei alles vom Westen inszeniert, eine weitere „ukrainische Provokation“.
Vielleicht war das Vorgehen orchestriert, vielleicht nicht, vielleicht ist der Artikel Baustein der üblichen Desinformationsstrategie, die folgendem Muster entspricht: Es werden so viele (sich teilweise widersprechende) Geschichten zu einem Ereignis geliefert, dass Zweifel entstehen – am Ende erscheint dann nichts als wahr und alles als möglich.
Der Autor jedenfalls stellt keinen direkten Zusammenhang zu den Gräueltaten in Butscha her, er erwähnt die Ereignisse nicht. Er spricht vor allem davon, dass die Ukraine eine „totale Lustration“ brauche. Der im Russischen etablierte Begriff bezeichnet eine politische Säuberung belasteter Kader, benutzt wird er vor allem im liberalen Diskurs: historisch im Sinne der Aufarbeitung der sowjetischen Diktatur und aktuell in der Debatte um das Russland nach Putin.
Will Sergejzew den Begriff Lustration umpolen, gar Deutungshoheit darüber erlangen, indem er ihn, einmal auf den Kopf gestellt, in den offiziösen Diskurs einführt? Denn Sergejzew greift im Weiteren (ungewollt?) den liberalen russischen Diskurs auf, in dem es um die Frage geht, ob allein Mitglieder des Systems Putin sanktioniert werden sollen oder auch die gesamte Gesellschaft Russlands – allerdings kehrt er auch diese Debatte um, indem er sie auf die Ukraine anwendet:
Was wird gesagt – und wie?
Die Taktik der Verdrehung und Umpolung ist ein probates Mittel der russischen Außenpolitik: So sei etwa die Angliederung der Krim, wie Außenminister Lawrow schon bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 ausführte, mit der deutschen Wiedervereinigung vergleichbar, bei der, so setzte er hinzu, habe allerdings nicht einmal ein Referendum stattgefunden.
Auch Sergejzew bedient sich offenbar dieser Umpolungstaktik. Journalist Andrej Loschak kommentiert:
Wir haben schon oft gehört, dass „Verbote“ jetzt als „Freiheit“ gelten und „Krieg“ als „Frieden“. Jetzt kommt ein neues Oxymoron dazu: „Entnazifizierung“ ist Nazismus – denn im Grunde schlägt der Autor des Artikels vor, auf den „befreiten“ Gebieten Konzentrationslager zu errichten, in denen die Ukrainer jahrzehntelang gewaltsam russifiziert werden sollen. Vergleichbares machen die Chinesen bereits seit vielen Jahren mit Uiguren und Tibetern. Die gewaltsame Russifizierung heißt im Artikel euphemistisch „Enteuropäisierung“. Die Ukrainer sollen offenbar alle Anzeichen der westlichen Zivilisation ablegen und werden wie die russischen Soldaten: Sie sollen plündern, saufen, stehlen, morden, den Zaren lieben, sich aus der Politik heraushalten, jedem wahnsinnigen Befehl ohne Widerspruch gehorchen und vor allem niemals, unter keinen Umständen, selbständig denken. Und wenn die Ukrainer das in zwanzig Jahren gelernt haben, dann wird man sie feierlich Russen nennen.
Auch der Historiker Andrej Subow sieht in Sergejzews Traktat ein Programm, …
Das Medium: Wer liest RIA Nowosti?
RIA Nowosti ist Teil der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja, die als eine wesentliche Säule der russischen Staatspropaganda gilt. Laut Similarweb ist die Website im Traffic-Ranking des Runet die Nummer Eins der Nachrichtenanbieter, monatliche Reichweite – rund 260 Millionen Klicks im März 2022, etwa 85 Prozent davon aus Russland.
Laut Umfragen vom April 2022 beziehen 70 Prozent der Menschen ihre Informationen allerdings vorwiegend aus dem Fernsehen, auch bei der Frage nach dem Medienvertrauen rangieren Onlinemedien (für 30 Prozent die primäre Nachrichtenquelle) weit abgeschlagen dahinter. Sicher dürfte sein, dass die Leser von Sergejzews neuestem Text nicht nur aus Russland stammen: Auch im Ausland – in der Ukraine, aber auch in Deutschland und den USA – fand er viel, wenn auch negative, Aufmerksamkeit.
Wer spricht?
Auf RIA Nowosti sind bislang seit 2014 rund 30 Artikel von Timofej Sergejzew veröffentlicht, keiner davon hatte je nur annähernd so viele Klicks wie der vom 3. April. Die meisten seiner Texte handeln von der Ukraine oder von Russland und seinem Verhältnis zu den (feindlich gesinnten) USA. Solche Texte variieren das Narrativ von der Ukraine als Söldner des Westens, die gemeinsam Russland schaden wollen.
Tatsächlich ist das Jahr 2014 – das Jahr, in dem Russland die Krim angliederte und der Krieg im Osten der Ukraine begann – ein Schlüsseljahr der russischen Propaganda: In diesem Jahr sind zahlreiche neue Formate von Polit-Talkshows entstanden, bestehende Talkshows bekamen deutlich mehr Sendezeit, der beliebte (Sonntag-)Abend mit Wladimir Solowjow im Staatssender Rossija 1 erscheint seitdem täglich außer samstags. Die Ukraine ist entsprechend häufiges Thema in diesen Polit-Talkshows, die laut Umfragen von 60 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal wöchentlich geguckt werden.
Sergejzew ist unterschiedlichen Quellen zufolge Mitglied im Sinojew-Klub der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja, aus dem die Polit-Talkshows oftmals ihre Gäste rekrutieren – und dürfte der russischen Öffentlichkeit eher aus dem omnipräsenten Staatsfernsehen bekannt sein.
So listet Timofej Sergejzew in seiner Biographie zahlreiche Referenzen zur Ukraine: Als Polittechnologe soll er unter anderem 2004 das Wahlkampfteam von Viktor Janukowitsch beraten haben und 1999 im Wahlkampfteam von Leonid Kutschma gewesen sein. Er ist als Drehbuchautor des Films Matsch (2012) genannt. Der Spielfilm spielt im von der Wehrmacht okkupierten Kiew von 1942 – seine Ausstrahlung wurde in der Ukraine 2014 wegen einseitiger Darstellung und „russischer Propaganda“ verboten.
Außerdem, so suggerieren seine Autorenportraits, entstammt er der sogenannten Methodologen-Schule. Um die Methodologen ranken sich viele Mythen: Für die einen handelt es sich dabei um eine Denkschule, die den politischen Kurs Russlands bestimmt: zu den prominentesten Methodologen wird der stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Sergej Kirijenko gezählt, auch der Duma-Vorsitzende Wjatscheslaw Wolodin und der ehemalige sogenannte Kreml-Chefideologe Wladislaw Surkow sollen dazu gehören. Die anderen halten sie für eine Art intransparente Sekte, über die sich nichts Konkretes sagen lässt, der aber durchaus einiges zugemutet werden könne.
Auch über die Philosophie der Methodologen gibt es keine einhellige Meinung: Manche halten sie für Scharlatanerie, andere verkürzen das Denkschema nicht selten auf eine Art Social Engineering. Nicht zuletzt wird den Methodologen auch das Konzept des sogenannten Russki Mir zugeschrieben.
Narrative und Tonalitäten: Worin liegt das propagandistische Potential einer „Entnazifierung”?
In seiner ideologisierten Form wird das Kulturkonzept nicht selten auch zur Legitimierung des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum eingesetzt. Es betont die soziale Bindungskraft der russischen Sprache und Literatur, der russischen Orthodoxie und eine gemeinsame ostslawische Identität. Eine wichtige Rolle spielt in dieser Ideologie auch der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. Der Kampf gegen das Nazi-Deutschland lässt sich vor diesem Hintergrund als eine Art Ursprungsmythos der sogenannten russischen Welt lesen.
Vielleicht knüpft Sergejzew hier an, wenn er in seinem Artikel knapp 90 Mal den Wortteil -nazi- benutzt, vowiegend im Zusammenhang mit der Formel Entnazifizierung der Ukraine. Da die Ukrainer für ihn eine Kollektivschuld tragen, müsse die Entnazifizierung total sein: In letzter Konsequenz, so schlussfolgert er, werde sie also eine Entukrainisierung sein müssen. Das Präfix Ent-/de- taucht insgesamt über 40 Mal auf, auch in analog oder parallel benutzten Begriffen der Enteuropäisierung und Entkolonialisierung.
„Je bestimmter eine Behauptung, je freier sie von Beweisen und Belegen ist, desto mehr Ehrfurcht erweckt sie. [...] Die Behauptung hat aber nur dann wirklichen Einfluß, wenn sie ständig wiederholt wird, und zwar möglichst mit denselben Ausdrücken.“ In Psychologie der Massen beschrieb der französische Denker Gustave Le Bon 1895 damit die Mittel, „um der Massenseele eine Idee einzuflößen“. Rezipiert wurde Le Bon auch im Nationalsozialismus, insgesamt wurde sein Werk laut einzelnen Historikern nicht selten als ein Leitfaden zur Wirkungssteigerung der Demagogie gelesen.
Sergejzews Artikel strotzt nur so vor Wiederholungen und haltlosen Behauptungen. Zentral ist dabei die Formel Nazismus.
Und tatsächlich lässt sich im Laufe des Krieges eine gewisse Begriffserweiterung in der russischen Propaganda feststellen: So sagte eine ihrer wichtigsten Protagonistinnen, die Chefredakteurin des staatlichen Auslandssenders Margarita Simonjan vor kurzem auf NTW: „Wir haben unterschätzt, wie tief der Nazismus die ukrainische Gesellschaft durchdrungen hat.“
Soziologe Grigori Judin hat schon früh vor einer solchen Ausdehnung des Begriffsinhalts gewarnt. Auf Twitter skizziert er, wie dies nun vor sich geht:
Also heißt Befreiung Säuberung.
Therefore, liberation means purification.
Eine solche Säuberung ist bei Sergejzew ein „gerechter Krieg“. Die orwellsch-anmutenden Umpolungen sind nicht seine Erfindung, sondern fester Bestandteil der langjährigen russischen Propaganda-Praxis. Demagogische Methoden wie wortgewaltige Behauptungen und Wiederholungen kann man auch bei den Propagandisten Wladimir Solowjow und Dimitri Kisseljow finden. Margarita Simonjan wiederum verbreitet die Behauptung, dass der Nazismus die gesamte ukrainische Gesellschaft durchdrungen habe. Was ist dann überhaupt neu an Sergejzews Artikel? Journalist Stanislaw Kutscher kommentiert:
Zweitens kann dieser Text, der wie eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für die Entnazifizierung der Ukraine geschrieben ist, ohne Weiteres als Anleitung zur Entnazifizierung einer jeden Gesellschaft gelesen werden, die tatsächlich mit dem Virus des Nazismus infiziert ist und einen Krieg im Namen einer menschenverachtenden Ideologie führt. […] Wer anderen eine Grube gräbt … Noch nie klang dieses Sprichwort passender und verheißungsvoller.
Für wen spricht der Autor?
Sie wirken „emotional unterstützend auf eine bereits vorherrschende Stimmung, die durch (...) Politiker geschaffen wurde und beeinflussen die öffentliche Meinung“ – so beschreibt Magdalena Kaltseis in ihrer Gnose Wesen und Auftrag der russischen Polit-Talkshows. Dies kann auch für einen Propaganda-Text wie den Timofej Sergejzews gelten. Er ist Ausdruck einer zunehmend enthemmten Rhetorik in Propaganda und Politik – die mit der verschärften kriegerischen Aggression, den Massakern in Butscha, Kramatorsk und Mariupol einhergeht. Ob Sergejzew dabei im Auftrag des Kreml spricht, sein Text auf Geheiß von oben entstand oder publiziert wurde, ist unklar und muss es bleiben. In jedem Fall ist er im Geist des Kreml verfasst.
dekoder-Redaktion