Großgewachsen, durchtrainiert, mit einem konzentrierten Gesichtsausdruck und traurigen, aufmerksamen Augen. Ein Veteran des Tschetschenienkriegs, der als solcher anerkannt und geschätzt wird – keiner der nur labert, sondern zupackt. Einer, der nachdenklich am Steuer eines Transporters durch die zerbombten Straßen des Donbass humanitäre Hilfe zu den Separatisten bringt, die ihn als einen der ihren willkommen heißen. So präsentiert sich Sachar Prilepin, einer der populärsten und meistgelesenen Autoren Russlands, in seinem Dokumentarprojekt Ne tschushaja Smuta: Odin Den – odin God (dt. „Keine fremden Wirren: Ein Tag – ein Jahr“).
März 2017: Zurück in Moskau, casual look, Prilepin stellt sein neuestes Buch vor, die Essaysammlung Wswod (dt. „Trupp“) über die Militärdienstzeit klassischer Autoren der russischen Literatur – von Dershawin bis Puschkin, non Fiction. Prilepin (re-)konstruiert damit eine literarische Tradition des martialisch-expansionistischen Kosakentums, als deren jüngster Repräsentant er sich versteht. Der Autor stellt sich in die europäische Tradition der romantischen Paramilitärs, der poeti condottieri (Dichterkrieger), die vor allem die europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts für sich einnahmen.1
Bereitschaftspolizei und Literatur
Militärdienst und Literatur sind aber kein neues Thema in seinem Werk. In der Biographie Prilepins sind diese auf das Engste verflochten: Der 1975 in einem Dorf in der Rjasaner Oblast geborene Prilepin absolvierte parallel zum literaturwissenschaftlichen Studium in Nishni Nowgorod die Ausbildung bei der Bereitschaftspolizei OMON, einer Sondereinheit der russischen Polizei, die damals unmittelbar dem Innenministerium unterstand. Zwischen 1996 und 1999 nahm Prilepin an Einsätzen im Ersten Tschetschenienkrieg und im Dagestankrieg teil. Im Jahr 1999 kehrte er ins zivile Leben zurück, quittierte den Polizeidienst, schloss sein Studium ab und widmete sich der journalistischen Arbeit.
Die Kriegs- und Militärerfahrung ist schließlich auch der Gegenstand seiner Literatur und polarisiert die Leser bereits seit seinem Debüt Patologii (dt. „Pathologie“, 2005). In dem Roman setzt sich Prilepin in dichter Prosa mit seinen Erfahrungen aus dem Ersten Tschetschenienkrieg auseinander. Die nüchterne und zugleich verklärende Schilderung des Kriegsalltags sowie die meisterhafte Beschreibung von Schlachtszenen brachten dem Debütanten auch breite Anerkennung ein. An diese konnte er 2006 mit seinem ebenso umstrittenen Roman Sankya2 anknüpfen. Während Patologii einen Insider-Blick in die soziale Organisation der Bereitschaftspolizei im Kriegseinsatz darstellt, bietet Sankya eine feinfühlige und dynamisch erzählte Innenansicht in das Milieu der Nationalbolschewistischen Partei (NBP)3 Eduard Limonows, der Prilepin seit 1996 angehörte.4
Eine Rebellion ohne Ziel
Prilepin, der als Heranwachsender den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebt hat, zeichnet in Sankya das literarische Abbild einer desorientierten, regimekritischen Generation, die von einem großen Revolutionsereignis träumt und von Polizeitruppen in Kleinkämpfen aufgerieben wird. Eine Rebellion ohne Programm und ohne Ziel, angerührt aus einem kruden rot-braunen Ideenbrei und berechtigter Empörung – so ließe sich das in dem Roman verarbeitete Lebensgefühl der Limonow-Anhänger und ihrer aktionistischen Provokationen beschreiben. Spätestens seit der Angliederung der Krim im März 2014 gehören viele von Limonows einst radikalen Ideen, die auch Prilepin teilte, allerdings zum Mainstream in der russischen Politik und den russischen Medien.
Versöhnung mit der Macht
Limonows politischer Ziehsohn Prilepin hat seit seinem Romandebüt 2005 eine steile Karriere gemacht. Heute gehört er nicht nur zu den meistgelesenen Autoren Russlands, sondern auch zu den bekanntesten Mediengestalten. So ist er seit November 2017 einmal wöchentlich in der Sendung Sachar Prilepin. Russischstunde auf NTW zu sehen, in der er aktuelle Themen kommentiert. Mit dem in Russland mehrfach ausgezeichnetem Lagerroman Obitel (dt. „Kloster“) fand Prilepin 2014 auch breite Zustimmung im staatlich-patriotischen Literaturbetrieb. Gleichzeitig verkündete er seine „persönliche Versöhnung mit der Macht“5 und engagierte sich aktiv im Ukraine-Konflikt auf Seiten der prorussischen Separatisten. Für die sammelte er medienwirksam Geld und Hilfsgüter und stellte als Kriegsberichterstatter ihre Sicht der Ereignisse dar. Offiziell war er zunächst als Berater des Separatistenführers der sogenannten Donezker Volksrepublik (DNR) tätig, dann gründete er laut Komsomolskaja Prawda ein eigenes Freiwilligenbataillon, dem er als Major vorstand.6 Er selbst sieht sich dabei in der Tradition russischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, allen voran Puschkins, der sich, so Prilepin, mit Sicherheit seinem Bataillon im Donbass angeschlossen hätte.7
Bei der Buchpräsentation von Wswod nach seinem Engagement im Donbass gefragt, antwortet Prilepin: „Ich vertrete die Prinzipien der liberalen Demokratie: Wenn sich ein überwältigender Teil der Bevölkerung im Donbass und auf der Krim der Russischen Welt zugehörig fühlt [...] wer ist dann berechtigt, ihnen diese Rechte zu nehmen? Sprache ist mehr als nur ein Kommunikationsmittel, das ist Physiologie, das ist alles, was wir sind.“8
Im Juli 2018, einen Monat vor dem Tod des ehemaligen Regierungschefs der selbsternannte Volksrepublik, Alexander Sachartschenko, verließ Prilepin allerdings die DNR. Einer der Anführer der ostukrainischen Separatisten, Igor Strelkow, ließ unlängst verlauten, Prilepin habe dort überhaupt nicht an Kampfhandlungen teilgenommen, sondern PR für Sachartschenko betrieben und an einem Buch über diesen gearbeitet, von dem nicht klar sei, ob es „mehr versteckten Spott über den Chef oder mehr Arschkriecherei“ enthielte. Prilepin wies diese Vorwürfe scharf zurück. Seine Zeit im Donbass sei allerdings vorbei: „Ich will nicht weiter für die Interessen des großen Business kämpfen. Ich will nicht für den Kapitalismus kämpfen.“9
Konservativ-patriotisches Theater
Insofern trifft es sich gut, dass Prilepin Anfang Dezember 2018 eine neue Stelle in Moskau antreten konnte. Unter der Führung des Produzenten und Regisseurs Eduard Bojakow wird er künftig stellvertretender Leiter und Verantwortlicher für den Bereich Literatur am Gorki-Künstlertheater Moskau (MChAT) sein. Dritter im Bunde ist der Schauspieler und Regisseur Sergej Puskepalis, der die künstlerische Arbeit am Theater koordinieren wird. Alle drei sind dem Spektrum konservativ-patriotischer Kunstschaffender zuzuordnen, die sich nach der Angliederung der Krim zur Politik der russischen Führung bekannten. Verkündet wurde diese Personalie von niemand geringerem als Wladimir Medinski, dem russischen Kulturminister. Das MChAT ist eines der traditionsreichsten Theater Russlands, in den letzten Jahren machte es aber kaum noch von sich reden, der Kritik galt es als altmodisch. Medinski bezeichnet es lieber als „patriotisch“ und verspricht der neuen Führung eine Aufstockung der Mittel.10 Prilepin verkündet derweil, man plane keine Revolutionen, wolle das Theater aber noch konservativer machen.11 Auf weitere Überraschungen Prilepins, der erfolgreich zwischen der Rolle des authentischen Rebellen und des loyalen Nationalisten hin und her pendelt, darf man gespannt sein.