Weltweit wird dieser Tage der Oktoberrevolution vor 100 Jahren gedacht. Doch Russland scheint sich mit diesem Erbe schwerzutun. Den 7. November als Feiertag, wie er zu Sowjetzeiten begangen wurde, hat Putin bereits 2005 abgeschafft. So gab es in Russland am Jahrestag der Revolution „business as usual“. Einige tausend Anhänger und auch Mitglieder Kommunistischer Parteien aus dem Ausland zogen mit Fahnen und Liedern durch Moskaus Innenstadt. Auf dem Roten Platz fand dagegen ein Reenactment der Militärparade vom 7. November 1941 statt – Kriegs- statt Revolutionsgedenken.
In den Medien war der Jahrestag der Revolution kein großes Thema. Unter den Onlineportalen etwa hatten am 7. November überhaupt nur vereinzelte das Revolutionsjubiläum als Aufmacher auf ihrer Startseite. Die staatlichen Sender Perwy Kanal und Rossija 1 hatten jeweils eine Serie zum Thema aufgelegt, die staatliche Agentur TASS eine eigene Multimedia-Site.
War die Revolution gut, war sie schlecht? Was soll da überhaupt erinnert werden? Und was sagt diese Form des (Nicht-)Erinnerns über das Heute aus? dekoder bringt Debatten-Ausschnitte aus russischen Medien.
RIA Novosti: Versöhnt euch!
Der Kommentar von Radiojournalist Ilja Charlamow für die Agentur RIA Novosti ist ganz im Einklang mit der offiziellen „Versöhnungs“-Rhetorik:
Das 100-jährige Oktoberjubiläum – wie sollte es nicht als Anlass dienen, sich zu versöhnen, nein, sich auszusöhnen mit der eigenen Geschichte und den eigenen ideologischen Gegnern. Zumindest sollte man das beharrlich versuchen. Unsere Geschichte ist so wie sie ist. Eine andere gibt es nicht und wird es nie geben.
Столетие Октября – чем не повод помириться, нет, примириться со своей историей и со своими идейными оппонентами. Во всяком случае, настойчиво попытаться это сделать. Она – наша история – такова. Другой нет и никогда не будет.
erschienen am 7. November 2017
Republic: Eine externe Macht war’s
Andrej Archangelski zieht auf Republic Parallelen zwischen dem Umgang mit der Revolution und der Ukraine:
Das hat den Diskurs über die Revolution auf eine neue dialektische Ebene gehoben – genau wie im Fall der antiukrainischen Propaganda, die die Formel „Man hat uns entzweit“ hervorbrachte. Es ist ein Universal-Verfahren in dem Moment, in dem alles Schreckliche schon getan und gesagt ist. Und die Verantwortung wird einer nicht benannten externen Macht zugeschoben.
erschienen am 7. November 2017
Echo: Eine Revolution? Gab es nicht!
Oppositionspolitiker Leonid Gosman dagegen prangert in seinem Blogeintrag, den Echo Moskwy veröffentlicht hat, das offizielle Schweigen an:
Ein Mensch lebt, solange man sich an ihn erinnert. Bei einem Ereignis ist es dasselbe – es lebt, solange man sich daran erinnert.
Wenn nun vor genau 100 Jahren in unserem Land eine Große Revolution stattgefunden hätte, dann hätte sich das derzeitige Staatsoberhaupt heute an die Nation gewandt, hätte gesagt: Das und das sind die Lektionen, Schlussfolgerungen und so weiter. Hat sich aber nicht an die Nation gewandt.
Wenn vor genau 100 Jahren in unserem Land eine Große Revolution stattgefunden hätte, dann hätte es heute eine Schweigeminute gegeben, in Erinnerung der Opfer des damals losgetretenen Bürgerkriegs – Weißer, Roter, zufällig Involvierter. Hat es nicht gegeben. [...]
Die Machthaber haben unsägliche, paranoide Angst vor Revolutionen. Die Erinnerung daran, was vor 100 Jahren passiert ist, verletzt die zarten Seelen unserer Führungsriege. Also hat nichts stattgefunden. Eine Parade zu Ehren von 1941 hat stattgefunden. Hurra, Genossen!
Человек жив, пока о нем помнят. Событие тоже — живо, пока о нем помнят.
Если бы ровно сто лет назад в нашей стране случилась великая революция, то сегодня нынешний глава государства обратился бы в связи с этим к нации — уроки, мол, итоги и прочее. Не обратился.
Если бы ровно сто лет назад в нашей стране случилась великая революция, то сегодня объявлялась бы минута молчания в память жертв развязанной тогда гражданской войны — белых, красных, случайных. Ее не было. [...]
Власть фантастически, паранойяльно боится революции. Воспоминание о том, что случилось сто лет назад, ранит тонкие души нашего начальства. Значит, ничего и не было. А был парад 1941 года! Ура, товарищи!
erschienen am 7. November 2017
Izvestia: Offene Diskussionen
Valentina Matwijenko wiederum, die Vorsitzende des Föderationsrats, findet in ihrem Beitrag in der staatsnahen Izvestia Gründe für das offizielle Schweigen zum 100. Jahrestag der Revolution:
erschienen am 7. November 2017
Snob: Hass und Angst
Fjodor Krascheninnikow hat sich für Snob das Kino- und Fernsehprogramm zur Revolution angeschaut:
Den Mächtigen ist die Revolution auf den Straßen verhasst. Sie drehen fast durch, so hassen sie die, die das „Boot ins Wanken“ bringen und radikale Losungen skandieren. Keinesfalls möchten sie zeigen, dass im Endeffekt die Revolutionäre siegen, und nicht die orthodoxe Monarchie mit ihren Gendarmen, Metropoliten und Kosaken. Deswegen sehen wir auf dem Bildschirm nur Karikaturen von Randfiguren, die aus der Emigration zurückgekehrt und bereit sind, sogar von Vaterlandsfeinden Geld zu nehmen. Aber wir sehen auf dem Bildschirm nicht die wahren Revolutionäre von 1917.
[...]
Власти ненавистна революция на улицах, она до истерики ненавидит тех, кто «раскачивает лодку» и выдвигает радикальные лозунги, и ей совсем не хочется показывать, что в итоге побеждают как раз революционеры, а не православная монархия с жандармами, митрополитами и казачеством. Поэтому на экранах мы увидим лишь приехавших из эмиграции карикатурных маргиналов, готовых брать деньги даже у врагов Отечества. Но мы не увидим на экране настоящих революционеров 1917 года [...]
erschienen am 30. Oktober 2017
7x7: Lenin vs. Stalin
Der Archangelsker Journalist Leonid Tschertok kritisiert auf 7x7 den zunehmenden Stalinkult, auch wenn über die Revolution gesprochen wird:
Man sagt, dass 1991 verantwortungslose Abenteurer an die Macht kamen … und die von 1917 – was waren sie?
Говорят, в 91-м к власти пришли авантюристы… а те, из 17-го, кем были?
erschienen am 7. November 2017
Vedomosti: Zerstörung aller Formen
Der Philosoph Alexander Rubzow meint auf Vedomosti, dass der damalige Verlust einer rechtsstaatlichen Ordnung in gewisser Weise bis heute nachwirkt:
Durch den Oktober 1917 wurde nicht nur einfach eine konkrete Form zerstört, sondern das Verhältnis zu allem Formalen. [...] Eine Revolution bricht stets das Gesetz und ist in diesem Sinne immer verbrecherisch. Doch wenn sie vorüber ist, schafft sie Raum für eine neue Form. Die Revolutionen im Westen waren weder sauberer noch humaner als unsere. Aber sie blieben zeitlich begrenzte Episoden und wurden nicht zur dauerhaften Existenzweise. [...]
Zum Allgemeingut geworden, spiegelt sich die Vernachlässigung und Missachtung der Form überall wieder: Zum Beispiel im Sport, wo ein „klar überlegener Sieg“ „unwesentliche“ Formverstöße psychologisch nichtig werden lässt.
Октябрь 1917 г. обрушил не просто конкретную форму, но само отношение ко всему формальному. [...] Революция всегда нарушает закон и в этом смысле всегда преступна, но, прекращаясь, она уступает место новой форме. Революции на Западе были не чище и не гуманнее нашей, но они были эпизодами, а не способом существования. [...]
erschienen am 6. November 2017
dekoder-Redaktion