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Russland und Europa

Wie sonst nur Großbritannien hadert Russland mit seinem schwierigen Verhältnis zu Europa. Die britische splendid isolation findet ihr Gegenstück in der geographischen Teilung Russlands in ein europäisches und ein asiatisches Territorium. Kulturell und politisch gibt es mehr Fragen als Antworten. Der russische Begriff Jewropa ist keineswegs eindeutig und kann verschiedene, ja gegensätzliche Konnotationen aufweisen. Das Präfix jewro- – etwa in den Wörtern jewroremont (Euro-Renovierung) oder jewroobuw (Euro-Schuhe) – impliziert spätestens seit den 1990er Jahren hohe, „nicht-sowjetische“ Qualität. Wenn man in Russland „wie in Europa“ leben will, dann ist das positiv gemeint, und „europäische Luft“ gilt als Synonym für Freiheit. Gleichzeitig gibt es in Russland eine lange Denktradition, die Europa fehlende Spiritualität, Krämergeist und politische Schwäche vorwirft. Verbreitet ist auch die Vorstellung, Russland habe Europa vor dem Mongolensturm beschützt und die europäischen Usurpatoren Napoleon und Hitler besiegt.


In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

Die Frage „Gehört Russland zu Europa?“ erhitzt bis heute die Gemüter der Intellektuellen. Neben das faktische Problem tritt das normative. Ebenso intensiv wird die Frage „Soll Russland zu Europa gehören?“ diskutiert.

Fenster nach Europa

Russlands Verhältnis zu Europa wurde von Peter dem Großen (1672–1725) zuoberst auf die politische Tagesordnung gesetzt. Seine Reformen revolutionierten das alte Ständesystem, indem die Rangtabellen für den Staats- und den Militärdienst eingeführt wurden. Damit wurden die sozialen Hierarchien nicht mehr durch Familientraditionen, sondern durch bürokratische Beförderungssysteme definiert. Gleichzeitig hielt die westeuropäische Kultur Einzug in Russland – am augenfälligsten waren die Neuerungen in der Mode und in der Architektur.

Die 1703 gegründete neue Hauptstadt St. Petersburg, die äußerlich den westeuropäischen Hauptstädten sehr ähnlich ist, wird nach Puschkins Formulierung oft als „Fenster nach Europa“ bezeichnet. Dieser bekannte Ausdruck ist aber selbst zum Gegenstand von Sprachwitzen geworden:: „Peter der Große hat doch ein Fenster eingeschlagen, aber keine Tür: Gucken darfst du, aber nicht hinausgehen“.1

Wohlgemerkt betrafen Peters Reformen vor allem den Adel. Im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte ein aristokratischer Russe mehr mit seinem französischen Standesgenossen gemein als mit einem russischen Bauern. Um die adlige Gesellschaft Anfang des 19. Jahrhundert realitätsgetreu darzustellen, baute etwa Leo Tolstoi mehrere Dialoge auf Französisch in seinen Roman Krieg und Frieden ein.

Abklatsch westlicher Vorbilder

Die Verdienste der petrinischen Reformen und „Zwangseuropäisierung“ wurden später zum Gegenstand einer tiefen Reflexion. Napoleons Moskaufeldzug 1812 führte in Russland zur Ausarbeitung einer eigenständigen Nationalkultur.
Die Forcierung der russischen Kulturautonomie stieß bald auf vehemente Kritik. Im 19. Jahrhundert beschäftigte sich die im Entstehen begriffene russische Philosophie vornehmlich mit dem Thema Russland und Europa. Den Ton gab Pjotr Tschaadajew vor.  Sein Erster Philosophischer Brief erschien im Jahr 1836 und war nach Alexander Herzens berühmter Formulierung ein „Schuss in dunkler Nacht“. Auf Französisch kritisiert Tschaadajew die russische Kultur, die nichts Eigenständiges hervorgebracht habe und nur einen Abklatsch westlicher Vorbilder darstelle. Tschaadajew wurde wegen seiner radikalen Russlandkritik von den zaristischen Behörden für verrückt erklärt. Diese Kontroverse steht am Anfang der Debatte zwischen den sogenannten Slawophilen und Westlern, die das gesamte 19. Jahrhundert beschäftigte. Die Spätfolgen wirken noch in den heutigen Diskussionen um Russlands kulturelle Identität nach.

Die Slawophilen und die Westler sind jedoch nur auf den ersten Blick eingeschworene Gegner. Wie komplex die ideologischen Positionen sind, zeigt etwa die Tatsache, dass eine berühmte slawophile Literaturzeitschrift den Titel Der Europäer trug, während ein einflussreiches westliches Organ Vaterländische Aufzeichnungen hieß. Ihre Argumentationsstrukturen sind ähnlich.2 Beide Bewegungen weisen deutlich mehr Ähnlichkeiten miteinander auf, als mit der Theorie der offiziellen Volkstümlichkeit, die mit dem Namen des Bildungsministers unter Nikolaus I. Sergej Uwarow verbunden ist: So verstehen sich beide Seiten als russische Patrioten und treffen sich in der Diagnose, dass Russland reformbedürftig sei. Uneinig sind sie sich nur in der Therapie: Die Slawophilen rufen zur Rückkehr zu den eigenen Wurzeln auf, während die Westler den Anschluss an das fortgeschrittene Europa fordern. Für die Slawophilen wird dabei gerade die kulturelle Rückständigkeit zum Vorteil: Das „alte“ Europa habe bereits den verderblichen Weg des Rationalismus, Individualismus und Kapitalismus eingeschlagen, während das ungeformte Russland noch bereit sei, sich seiner höheren Berufung zu stellen. 

Russland als neuer Kulturtyp

Am detailliertesten hat Nikolaj Danilewski (1822–1885) diese Theorie ausgearbeitet, auch wenn er nicht stellvertretend für alle Unterbewegungen der Slawophilen stehen kann. In seiner umfangreichen Untersuchung Russland und Europa (1869) identifiziert er zehn Kulturtypen, die vom alten Ägypten bis zur „germanisch-romanischen Kultur“ der Neuzeit reichen. Russland kommt in dieser Typologie nicht vor: Es stellt für Danilewski die letzte Synthese dar, die alle religiösen, politischen und ökonomischen Entwicklungen der Weltgeschichte zusammenführen und abschließen wird. 

Aus dieser Perspektive erscheint Russland in einer Doppelrolle: Es erlebt erstens eine eigene Heilsgeschichte jenseits westlicher Ideale. Dadurch wird es zweitens zum erlösenden Vorbild für das fehlgeleitete Europa. Der russische Messianismus gehört zu den romantischen Denkfiguren, die sich im 19. Jahrhundert auch bei Tjutschew oder Dostojewski nachweisen lassen.3 Noch im 20. Jahrhundert bekannten sich Autoren wie Nikolai Berdjajew oder Alexander Solschenizyn zu dieser Idee. 

Der Topos einer vorteilhaften Rückständigkeit Russlands war auch für marxistisch inspirierte Philosophen und Politiker sehr attraktiv. Lenin und Trotzki gingen am Ende des Ersten Weltkriegs davon aus, dass in den industrialisierten Ländern Europas Schlag auf Schlag Revolutionen folgen würden. Die alten Nationalstaaten würden untergehen und neuen sozialistischen Gesellschaften Platz machen. Pikanterweise erfuhr der traditionelle russische Messianismus hier eine marxistische Umdeutung: Die Revolution im unterentwickelten Russland sollte den Befreiungskampf der Proletarier aller Länder einleiten.4 So schien kurz nach dem Oktoberumsturz 1917 das Problem „Russland und Europa“ gelöst zu sein.

Gemeinsames europäisches Haus

Mit neuer Intensität wurde über Zugehörigkeit Russlands zu Europa zu Beginn der 1990er Jahre debattiert, als zwei Europabilder gegeneinander ausgespielt wurden. Europa war aus der ersten Perspektive ein Vorbild für Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Demokratie, das von Russland nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems in „drei Fünfjahresplänen“ erreicht werden sollte. Die zweite Perspektive lehnte das westlich geprägte Europa als fremd ab und hob die eurasische Qualität Russlands hervor: Damit wäre Russland ein eigener europäischer Zivilisationstypus, der gerade nicht in das westliche Muster überführt würde.5

Diese Diskussionen gingen zurück auf Wortmeldungen der letzten Generalsekretäre der Sowjetunion. Berühmt geworden ist Michail Gorbatschows Wendung „unser gemeinsames europäisches Haus“, die er 1984 in einer Rede vor dem britischen Parlament6 und später am epochalen Gipfeltreffen mit Ronald Reagan 1986 in Reykjavik7 prägte.8 Gorbatschow machte aus dieser diplomatischen Floskel auch ein politisches Programm, dem noch in den 1990er Jahren gefolgt wurde. 

Auch zu Beginn der Präsidentschaft Putins hatte der Ausdruck „unser gemeinsames Haus Europa“ noch seine Gültigkeit. Präsident Putin setzte ihn 2001 in seiner berühmten, auf Deutsch gehaltenen Rede vor dem Bundestag ein.9 Dieser versöhnliche Kurs wurde allerdings 2007 aufgegeben, als Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine schärfere Gangart Russlands ankündigte. 

Gayropa

In der Ära Putin kann man im staatsnahen öffentlichen Diskurs eine wachsende Abgrenzung von Europa beobachten. Russische Nationalisten verwenden oft den Begriff Gayropa. Damit soll signalisiert werden, dass Europa seine traditionellen Werte aufgegeben habe und sich von Minderheiten bestimmen lasse. Eine ähnlich polemische Wortbildung ist der Begriff „Liberasten“. Die liberale Grundhaltung der westlichen Gesellschaften hat sich aus dieser Sicht selbst ad absurdum geführt: Wer sogar „Päderasten“ toleriert, gibt seine europäischen Identität auf.

Auch akademische Philosophen beschäftigen sich etwa mit der Frage, warum eine europäische „Ideologie“ wie der Liberalismus für Russland schädlich sei. So weist der Petersburger Politikwissenschaftler Wladimir Gutоrow (geb. 1950) in einer langen Einleitung zu einem Band mit dem Titel Liberalismus. Pro et contra (2016) darauf hin, dass liberale Politiker etwa in der Provisorischen Regierung 1917 und unter Jelzin in den 1990er Jahren „die russische Staatlichkeit an die Grenze zur Katastrophe“ gebracht hätten.10 

Der langjährige Chefideologe des Kreml, Wladislaw Surkow, kündigte in seinem Artikel für das regierungsnahe Journal Russia in Global Affairs den Anfang einer andauernden Einsamkeit Russlands an und suchte nach einem „dritten Weg“, einem „dritten Zivilisationstypus“, einem „dritten Rom“.
Die Ablehnung der europäischen Kultur taucht auch in offiziellen Dokumenten wie den Grundlagen der Kulturpolitik der Russischen Föderation (2015) auf. Die „Erhaltung eines einheitlichen Kulturraums“ wird als oberstes Ziel genannt. 

Wie wirksam dieser Diskurs ist, ist unklar. Eine Umfrage des Lewada-Zentrums zeigt jedenfalls, dass die Zustimmung zur Aussage „Russland ist ein europäisches Land“ 29 Prozent beträgt. Im Jahr 2008 erreichten die entsprechenden Werte noch 56 Prozent.11
Es scheint, dass das Fenster, das Peter der Große geöffnet hatte, langsam wieder zugeht. 

 

Aktualisiert am 21.12.2021


1.Es handelt sich um eine Anmerkung des Künstlers Ivan Kuskov (1927–1997), die vom Literaturwissenschaftler Michail Gasparov aufgeschrieben wurde, vgl.: Gasparov, Michail (2001) Zapiski i vypiski, Moskau
2.Uffelmann, Dirk (1999): Die russische Kulturosophie: Logik und Axiologie der Argumentation. Frankfurt am Main, S. 389 
3.Schelting, Alexander von (1948): Russland und Europa im russischen Geschichtsdenken, Bern, S. 180-187
 4.Albert, Gleb J. (2017): Das Charisma der Weltrevolution: Revolutionärer Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917-1927, Köln, Weimar, Wien, S. 74-87 
5.Neuman, Iver B. (1999):  Uses of other. "The East" in European identity formation. Minneapolis, S. 165f.
6.Šlykov, Konstantin V. (2014): Pervyj vizit M. S. Gorbačeva v Velikobritaniju: Vzgljad čerez 30 let, in: Vestnik MGIMO-universiteta, 35, S. 99
7.Gorbačev, Michail (2008): Sobranie sočinenij, IV, Moskva, S. 134
8.Weniger bekannt ist allerdings die Tatsache, dass der Ausdruck bereits von Leonid Breshnew 1981 bei einer Rede in Bonn und von Außenminister Andrej Gromyko an einer Pressekonferenz ebenfalls in Bonn 1983 verwendet wurde. Gromyko, Andrej A. (1984): Leninskim kursom mira, Moskva, S. 461
9.Kremlin.ru: Vystuplenie v bundestage FRG
10.Gutorov, V. A. (2016): Rossijskij liberalizm kak istoričeskij i političeskij fenomen: ot utopii k real'nosti, in: Liberalizm: Pro et contra: Russkaja liberal'naja tradicija glazami storonnikov i protivnikov: Antologija, Sankt-Peterburg, S. 14
11.Levada.ru: Rossija i Evrosojuz; Rossija i Evropa

Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa.

Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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