Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Wladislaw Surkows Name gleich an erster Stelle der US-Sanktionen stand, gleich einen Tag nach dem sogenannten Referendum über die Angliederung der Krim. Genauso wenig war es Zufall, dass Surkow rund zweieinhalb Jahre später an Putins Seite mit Merkel und Steinmeier im Kanzleramt saß, obwohl er eigentlich auch nicht in die EU einreisen darf.
Kaum eine Abhandlung über ihn kommt aus ohne „Strippenzieher“, „Graue Eminenz“ oder „Chefideologe“. Das Konzept der Souveränen Demokratie hat er ersonnen, genauso wie das Programm zur russischen politischen Kultur.
Im April 2018 nahm er sich im Magazin Russia in Global Affairs einer Mammutaufgabe an: der jahrhundertealten Identitätsfrage, ob Russland denn zu Europa gehöre. Viele Denker haben sich an dieser Frage den Kopf zerbrochen. Die Zeichen der Zeit scheinen für Surkow allerdings eine neue Antwort zu fordern. Denn Russland, so der Autor, stehen „hundert (zweihundert? dreihundert?) Jahre geopolitischer Einsamkeit bevor“.
In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa
Der beruflichen Tätigkeiten gibt es viele. Einigen kann man nur in einem Zustand nachgehen, der vom normalen leicht abweicht. Nehmen wir etwa den Proletarier der Informationsindustrie, den gewöhnlichen Nachrichtenlieferanten: In der Regel ist das ein Mensch mit zerzaustem Hirn, jemand, der sich sozusagen im Fieberwahn befindet. Kein Wunder, denn im Nachrichtengeschäft ist Eile geboten: Es gilt, Neuigkeiten vor allen anderen zu erfahren, vor allen anderen zu verbreiten und vor allen anderen zu interpretieren.
Die Erregung der Informierenden überträgt sich auch auf die Informierten. Menschen im Erregungszustand verwechseln ihre Erregung oft mit einem Denkprozess und ersetzen das Eine durch das Andere. Deshalb kommen langfristig nutzbare Dinge wie Überzeugungen oder Prinzipien außer Gebrauch und werden durch Einweg-Meinungen ersetzt. Deshalb erweisen sich jegliche Prognosen als hinfällig, was übrigens niemandem besonders peinlich ist – das ist eben der Preis für schnelle und aktuelle Nachrichten.
Kaum jemand vernimmt das spöttische Schweigen des Schicksals, übertönt vom ständigen Hintergrundlärm der Medien. Kaum jemand interessiert sich dafür, dass es auch noch die langsamen, gewichtigen Nachrichten gibt, die nicht von der Oberfläche des Lebens, sondern aus der Tiefe stammen – von dort, wo sich geopolitische Strukturen und historische Epochen bewegen und aufeinandertreffen. Erst mit Verspätung wird uns ihr Sinn zugänglich. Doch ist es nie zu spät, ihn zu erkennen.
Das Jahr 2014 ist durch Großtaten von hoher und höchster Bedeutung im Gedächtnis geblieben. Alle kennen sie, und es ist alles dazu gesagt worden. Doch das bedeutsamste der damaligen Ereignisse erschließt sich uns erst jetzt – die langsame, tiefgreifende Nachricht erreicht erst gerade jetzt unsere Ohren. Das besagte Ereignis bildet den Abschluss der epischen Reise Russlands in Richtung Westen, den Schlusspunkt der zahlreichen und fruchtlosen Versuche, ein Teil der westlichen Zivilisation zu werden und in die „gute Familie“ der europäischen Völker einzuheiraten.
Das Jahr 14 unseres Jahrhunderts ist der Beginn einer neuen Ära von unbestimmter Dauer – die Epoche 14 +, in der uns hundert (zweihundert? dreihundert?) Jahre geopolitischer Einsamkeit bevorstehen.
Das Jahr 2014 ist der Beginn einer neuen Ära von unbestimmter Dauer – die Epoche 14 +, in der uns hundert (zweihundert? dreihundert?) Jahre geopolitischer Einsamkeit bevorstehen
Die Verwestlichung ist vom falschen Dimitri leichtsinnig begonnen und von Peter dem Großen entschlossen fortgesetzt worden – über 400 Jahre wurde alles auf jegliche Art probiert.
Was hat Russland nicht alles getan, um mal Holland zu werden, dann Frankreich, mal Amerika, dann wieder Portugal. Von allen erdenklichen Seiten hat Russland versucht, sich in den Westen hineinzudrängen. Alle Ideen, die von dorther kamen und alle Erschütterungen, die sich dort ereigneten, hat unsere Elite mit großer, teils vielleicht zu großer Begeisterung aufgenommen.
Die Autokraten heirateten eifrig deutsche Frauen, und der kaiserliche Adel und die Bürokratie wurden emsig mit „umherziehenden Fremdlingen“ aufgefüllt. Doch während die Europäer in Russland rasch und gründlich russisch wurden, wollten die Russen sich einfach nicht europäisieren.
Die russische Armee kämpfte siegreich und aufopferungsvoll in allen großen Kriegen des Kontinents, der, wie die Erfahrung gezeigt hat, wohl mehr als alle anderen zu Massengewalt und Blutrünstigkeit neigt. Die großen Siege und die großen Opfer haben Russland viele westliche Gebiete eingebracht, aber keine Freunde.
Die großen Siege und die großen Opfer haben Russland viele westliche Gebiete eingebracht, aber keine Freunde
Um der europäischen Werte willen (die zu jener Zeit religiös und monarchisch waren) wurde St. Petersburg zum Initiator und Garanten der Heiligen Allianz der drei Monarchien Russland, Österreich und Preußen. Und es hat seine Bündnispflichten gewissenhaft erfüllt, als es galt, die Habsburger vor der ungarischen Revolution zu retten. Als sich dann jedoch Russland selbst in einer schwierigen Lage befand, verweigerte Österreich seinem Retter nicht nur die Hilfe, sondern wandte sich sogar gegen ihn.
Später wurden die europäischen Werte in ihr Gegenteil verkehrt. In Paris und in Berlin kam nun Marx in Mode. Gewisse Leute aus Simbirsk und Janowka wollten, dass es bei ihnen so ist wie in Paris. Sie fürchteten so sehr, hinter dem vom Sozialismus besessenen Westen zurückzubleiben. Sie fürchteten so sehr, die angeblich von den europäischen und amerikanischen Arbeitern angeführte Weltrevolution werde ihr Provinznest auslassen. Also gaben sie ihr Bestes.
Nachdem sich die Stürme des Klassenkampfs gelegt hatten, stellte die unter unglaublichen Mühen errichtete UdSSR fest, dass die Weltrevolution ausgeblieben war: Der Westen war keineswegs eine Welt der Arbeiter und Bauern, sondern, ganz im Gegenteil, kapitalistisch geworden. Und die immer stärker zutage tretenden Symptome des autistischen Sozialismus mussten sorgfältig hinter dem Eisernen Vorhang verborgen werden.
Ende des vergangenen Jahrhunderts hatte das Land sein Abgesondertsein satt und fing wieder an, beim Westen vorstellig zu werden. Wobei einige dabei offenbar den Eindruck hatten, dass die Größe eine Rolle spielt: Wir passen nicht in Europa rein, weil wir zu groß und erschreckend raumgreifend sind. Also mussten Territorium, Bevölkerung, Wirtschaft, Armee und Ambitionen auf die Maßstäbe eines mitteleuropäischen Landes zurechtgestutzt werden. Dann würden sie uns bestimmt als ihresgleichen aufnehmen.
Wir stutzten alles zurecht. Begannen, genauso fanatisch an Hayek zu glauben wie früher an Marx. Wir halbierten das demografische, industrielle und militärische Potenzial. Wir trennten uns von den Unionsrepubliken und begannen uns von den autonomen Republiken zu trennen ... Doch auch ein derart verkleinertes und herabgesetztes Russland eignete sich nicht für die Hinwendung zum Westen.
Endlich beschlossen wir, mit dem Verkleinern und Sich-Herabsetzen aufzuhören und darüber hinaus Rechte anzumelden. Die Geschehnisse im Jahr 2014 wurden unausweichlich.
Endlich hörten wir mit dem Verkleinern und Sich-Herabsetzen auf und meldeten Rechte an. Die Geschehnisse 2014 wurden unausweichlich
Das russische und das europäische Kulturmodell haben bei aller äußeren Ähnlichkeit unterschiedliche Software und inkompatible Schnittstellen. Sie fügen sich nicht in ein gemeinsames System. Heute, wo dieser uralte Verdacht zur offenkundigen Tatsache geworden ist, werden Vorschläge laut, wir sollten uns in die andere Richtung aufmachen, nach Asien, nach Osten.
Besser nicht. Und zwar deshalb nicht, weil Russland da schon einmal war.
Das Moskauer Protoimperium entstand in einem komplexen militärisch-politischen Coworking mit der asiatischen Horde, das manche als Joch, andere lieber als Union bezeichnen. So oder so, freiwillig oder unfreiwillig: Der östliche Entwicklungsschwerpunkt ist ausgewählt und erprobt worden.
Sogar nach dem Stehen an der Ugra blieb das russische Zarenreich im Grunde ein Teil von Asien. Es annektierte bereitwillig Gebiete im Osten. Es beanspruchte die Nachfolge von Byzanz, dem asiatischen Rom. Es stand unter starkem Einfluss hochstehender Familien, die der Goldenen Horde entstammten.
Russland ist vier Jahrhunderte lang Richtung Osten und weitere vier Jahrhunderte lang Richtung Westen gegangen. Weder da noch dort hat es Wurzeln geschlagen
Höhepunkt des Moskauer Asiatentums war die Ernennung von Simeon Bekbulatowitsch, dem Khan von Kassimow, zum Souverän von ganz Russland. Historiker, die Iwan den Schrecklichen einfach für eine Art Oberiuten mit Monomachkappe halten, schreiben diese Posse lediglich seinem naturgemäßen Hang zu Scherzen zu. Die Realität war ernster. Nach Iwans Tod bildete sich am Hof eine gewichtige Partei, die versuchte, Simeon Bekbulatowitsch nun tatsächlich auf den Zarenthron zu befördern. Boris Godunow musste den Bojaren bei ihrer Vereidigung das Versprechen abnehmen, dass sie „den Zaren Simeon Bekbulatowitsch und seine Kinder nicht als Herrscher wollten“. Der Staat stand also kurz davor, in die Herrschaft einer Dynastie getaufter Dschingisiden überzugehen und das östliche Entwicklungsparadigma zu zementieren.
Doch weder Bekbulatowitsch noch die Godunows, die [laut Legende – dek] von einem Mirza, einem Fürsten der Goldenen Horde abstammten, hatten eine Zukunft. Die polnisch-kosakische Invasion begann, und mit ihr kamen neue Zaren aus dem Westen nach Moskau. Die Herrschaft des falschen Dimitri, der den Bojaren lange vor Peter dem Großen durch sein europäisches Gebaren das Leben schwermachte, und die Regentschaft des polnischen Königssohns Władysław sind trotz ihrer Kurzlebigkeit von hoher symbolischer Bedeutung. Die Zeit der Wirren erweist sich in ihrem Licht als eine Krise, die weniger dynastischen als zivilisatorischen Charakter hat.
Die Rus wandte sich von Asien ab und begann sich in Richtung Europa zu bewegen.
Russland ist also vier Jahrhunderte lang Richtung Osten und weitere vier Jahrhunderte lang Richtung Westen gegangen. Weder da noch dort hat es Wurzeln geschlagen. Beide Wege sind abgeschritten. Jetzt werden Rufe nach der Ideologie eines dritten Weges, eines dritten Zivilisationstyps, einer dritten Welt, eines dritten Rom, erklingen müssen.
Und doch sind wir wohl kaum eine dritte Zivilisation. Eher eine doppelgerichtete und zweigleisige. Die sowohl den Osten als auch den Westen in sich enthält. Wir sind europäisch und gleichzeitig asiatisch und daher weder ganz asiatisch noch ganz europäisch.
Wir sind europäisch und gleichzeitig asiatisch und daher weder ganz asiatisch noch ganz europäisch
Unsere kulturelle und geopolitische Zugehörigkeit erinnert an die unstete Identität eines Menschen, der aus einer Mischehe hervorgegangen ist. Er ist überall ein Verwandter, aber nirgends Familie. Daheim unter Fremden, fremd unter den Seinen. Er versteht alle und wird von niemandem verstanden. Ein Halbblut, ein Mestize, ein seltsames Wesen.
Russland ist ein west-östliches Halbblutland. Mit seinem doppelköpfigen Staatswesen, seiner hybriden Mentalität, seinem interkontinentalen Territorium und seiner bipolaren Geschichte ist es, wie es sich für ein Halbblut gehört, charismatisch, begabt, schön und einsam.
Charismatisch, begabt, schön und einsam
Die denkwürdigen Worte, die Alexander III. nie gesagt hat – „Russland hat nur zwei Verbündete, seine Armee und seine Flotte“ – sind die wohl eingängigste Metapher für seine geopolitische Einsamkeit. Und es ist längst an der Zeit, sie als Schicksal anzuerkennen. Die Liste der Verbündeten kann natürlich nach Belieben erweitert werden: Arbeiter und Lehrer, Öl und Gas, die kreative Schicht und patriotisch gesinnte Bots, General Frost und der Erzengel Michael ... An der Aussage selbst ändert sich dadurch nichts: Wir sind uns selbst die engsten Verbündeten.
Wie wird diese Einsamkeit aussehen, die uns bevorsteht? Werden wir als armer Schlucker eine kümmerliche Randexistenz fristen? Oder erwartet uns die glückliche Einsamkeit des Leaders, der Alpha-Nation, die allen davonzieht und der „die andern Völker und Reiche ausweichen und ihren Lauf nicht hemmen“? Es hängt von uns ab.
Einsamkeit bedeutet nicht völlige Isolation. Unbegrenzte Offenheit ist ebenso wenig möglich. Beides würde bedeuten, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Die Zukunft aber kann die Fehler der Vergangenheit nicht brauchen, sie hält ihre eigenen Fehler bereit.
Russland wird zweifellos Handel treiben, Investitionen anziehen, Wissen austauschen, kämpfen (auch Krieg ist eine Form der Kommunikation), sich an gemeinsamen Projekten beteiligen, in Organisationen vertreten sein, konkurrieren und kooperieren und Angst, Hass, Neugier, Sympathie und Bewunderung hervorrufen. Nur eben ohne trügerische Ziele und Selbstverleugnung.
Es wird schwer werden, und immer wieder wird uns ein Klassiker der russischen Poesie in den Sinn kommen: „Ringsum nur Dornen, Dornen, Dornen ... Sch***e, wann kommen die Sterne?!“
Es wird interessant. Und die Sterne werden kommen.