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Kino #10: Oktober

Dieser Film hat das Ziel, die Welt zu erschüttern, zum zweiten Mal nach dem Oktoberaufstand: Im September 1926 beschloss eine Kommission des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei unter dem Vorsitz von Michail Kalinin und Nikolaj Podwoiski, dass zum zehnten Jubiläum der Oktoberrevolution ein solcher „zentraler Film“ gedreht werden solle. Der einzige Regisseur, der hierfür in Frage kam, war Sergej Eisenstein (1898–1948). Das Drehbuch, an dem er ab Januar 1927 arbeitete, wurde mehrmals kritisch diskutiert und verändert. Als Eisenstein von einem amerikanischen Korrespondenten gefragt wurde, wer das Buch zu seinem Oktoberfilm schreibe, antwortete er, ohne mit der Wimper zu zucken: „Die Partei.“1

Der eigentliche Film Oktober entstand aber nach den Dreharbeiten am Schneidetisch von Eisenstein: Hier wurde die Dramaturgie bestimmt, die nicht historische Anekdoten, sondern das dialektische Denken visualisierte.
1917 wurde der Winterpalast politisch erobert. Eisenstein sollte die ästhetische Einnahme dieser Zitadelle der Macht vollenden.2

Quelle dekoder


Unmittelbar nach der Abnahme des Drehbuches Anfang März 1927, brach der Drehstab nach Leningrad auf. In Begleitung der damaligen Kommandeure des Oktober-Aufstandes, Nikolaj Podwoiski und Wladimir Antonow-Owsejenko, besuchte man die Originalschauplätze. Schon im April begannen die Dreharbeiten. 

Revolution als heilige Geschichte

Oktober war eine Mammutproduktion. Erwartet wurde, dass der Film die Welt genauso erschüttert wie der Oktoberaufstand es zehn Jahre zuvor auch getan hatte. Das Budget überstieg das eines sowjetischen Durchschnittsfilms um das 20fache. Cecil DeMilles Superproduktion jener Zeit, Die zehn Gebote (1923), war der Film, mit dem Eisenstein sein Projekt zu vergleichen wünschte. Konnte in Hollywood als Sujet für solche Unternehmungen nur die Bibel herhalten, so war es in der Sowjetunion der 1920er Jahre die Revolution, wobei ihrem Anführer Lenin die Rolle des Erlösers zukam. 

Eisenstein rechnete mit 50.000 bis 60.000 Statisten. Um riesige Menschenmassen vor die Kamera zu bekommen, drehte Eisenstein die Maidemonstration von 1927 als Julidemonstration von 1917 – mit 6000 Menschen. Nur die Losungen wurden ausgetauscht, und Eisenstein choreografierte die Demonstration nach historischen Fotos.

Um große Menschenmassen zeigen zu können, filmte Eisenstein die Maidemonstration von 1927 / Fotos © Mosfilm

Die Bevölkerung der Stadt bewunderte unter der Bewachung berittener Miliz das Geschehen als ein grandioses Spektakel. Als das Team tagsüber die Szenen der aufgezogenen Brücke in Leningrad drehte, legte es damit den Verkehr lahm. Diese Aufnahmen begleiteten viele witzelnde Feuilletons in den Zeitungen: Ein Banküberfall sei offiziell als Filmdreh ausgegeben worden, damit keine unangenehmen Fragen aufkommen.

Kanon aller späteren Darstellungen

Vom 13. Juni an wurde zehn Tage lang die zentrale Episode des Oktober-Aufstandes, die Erstürmung des Winterpalastes, gedreht. Für diese Szenen wurde nichts gebaut – Eisenstein durfte am Originalschauplatz filmen. 90 Scheinwerfer machten die Nacht zum Tage, dafür wurde in der ganzen Stadt das Licht abgeschaltet, um die nötige Amperestärke zu garantieren. Die Aufnahmen wurden wie Kriegshandlungen an der Front – unter Beteiligung der Armee – organisiert und durchgeführt. 5000 Statisten kamen Abend für Abend auf Befehl des Stadtparteikomitees zum Drehort. Die Kameras standen auf Dächern und Säulen oder hingen über Toreinfahrten. Die Assistenten waren auf Motorrädern unterwegs, während Eisenstein das Massenballett mit dem Megaphon dirigierte. 

Dabei waren die Aufnahmen für die historischen Gebäude nicht ungefährlich – zu viel Licht, zu wenig Brandschutz. Noch lange nach Fertigstellung des Films lästerte man, der reale Aufstand hätte bei weitem nicht so viel Schaden angerichtet wie die Dreharbeiten.

Obwohl Podwoiski, der den realen Aufstand angeführt hatte, Eisenstein jeden Tag am Drehort beriet, ließ der Regisseur die Arbeiterbrigaden anders als in der historischen Wirklichkeit nicht über den Seiteneingang, sondern durch das Hauptportal den Palast erstürmen. Diese Erfindung wurde zum Kanon aller späteren Darstellungen: Eisensteins Filmeinstellungen zierten als „historische Fotos“ viele Jahre die Revolutionsmuseen im ganzen Land. 

Perversität der Dinge

In seinem Tagebuch notierte Eisenstein: „Das Winterpalais ist für mich Exotik. Wie ein Kaufhaus. Ein Schlafzimmer: 300 Ikonen und 200 Porzellan-Ostereier. Ein Schlafzimmer, das kein Zeitgenosse psychisch ertragen könnte.“3 Das Palais wirkte wie der Fundus eines Filmstudios, wie ein Museum der Vergangenheit. Eisenstein entdeckte die Absurdität der Macht in der Perversität der von ihr eroberten Dinge. Mit ihnen ließe sich die Revolution gestalten, die zur Befreiung von dieser absurden Welt führte.

Beim Drehen mit Doppelgängern der historischen Figuren, kam Eisenstein die Idee eines zutiefst symbolischen Films

Beim Drehen an den Originalschauplätzen, mit Doppelgängern4 der historischen Figuren und mit deren tatsächlichen Beratern, die den Winterpalast zehn Jahre zuvor erobert hatten, kam Eisenstein mehr und mehr die Idee eines zutiefst symbolischen Films, der jede Art von Symbolik als lächerlichen Fetischismus zerstören musste. Jeder Vorgang wurde als eine metaphorische Handlung begriffen und auch so inszeniert. Nicht die Provisorische Regierung, die seit Juli 1917 im Winterpalast residierte, sondern die leeren Mäntel machtloser Minister wurden im Film verhaftet. Zwei Matrosen durchbohrten mit ihren Bajonetten das Bett im Schlafgemach der Zarin. Damit ließ Eisenstein die Soldaten den Winterpalast wie eine Frau gewaltsam erobern.

Im Rausch der Aufputschmittel

Am 12. September waren die Dreharbeiten in Leningrad vollendet. Nun saß Eisenstein im Schneideraum und sollte aus 49.000 Metern belichteten Materials einen 2000 Meter langen Film montieren. Der Film und seine Dramaturgie entstanden letztendlich erst am Schneidetisch. Eisenstein sah seine Mission nicht darin, die historischen Fakten abzubilden, sondern in der Visualisierung des dialektischen Denkens. Seiner Filmtheorie, die in dieser Zeit entstand, gab er die Bezeichnung „intellektueller Film“. 

Um die pausenlose Tag- und Nachtarbeit durchzustehen, bekam Eisenstein Aufputschmittel verabreicht. Doch die Allmacht schlug bald in körperliche Ohnmacht um: Eisenstein arbeitete so viel, dass er zeitweilig erblindete. Die Ärzte diagnostizierten totale Erschöpfung und befahlen ihm Bettruhe in einem vollständig abgedunkelten Zimmer. In dem Aufsatz Unser Oktober schrieb er, zehn Tage hätten ihm gefehlt, um den Film zum zehnten Revolutionsjubiläum komplett fertigzustellen.

„Oktober“ war keine Ikone toter und lebender Heroen der Geschichte

Am Abend des 7. November wurden im Bolschoi-Theater nur Ausschnitte aus dem Film vorgeführt. Doch davor war es zu einem Eklat gekommen: An diesem Morgen ging die Trotzki-Opposition in Moskau und Leningrad auf die Straße. Eisensteins Assistent schrieb später in seinen Erinnerungen, dass Stalin persönlich gegen 16 Uhr in den Schneideraum gekommen sei. Er habe gefragt, ob Trotzki in dem Film zu sehen sei, und ließ sich diese Szenen zeigen. Stalin unterrichte die Anwesenden über die Aktion der Opposition, woraufhin Eisenstein die Episoden mit Trotzki herausschnitt.5 Diese Nachricht ging sofort durch die internationale Presse. Eisenstein sah in dieser Weisung keine Einmischung in die künstlerische Freiheit, doch seine europäischen und amerikanischen Kollegen nahmen ihm das später nicht ab.

Reproduktion gestellter Bilderrätsel

Oktober wurde schließlich erst im März 1928 fertig, und seine öffentliche Rezeption war keineswegs eindeutig. Die Werbekampagne sah vor, den neuen Eisenstein-Film in eine Art Wettrennen mit Varieté zu schicken, dem „durch und durch erotischen bürgerlichen Schlager“ von Ewald André Dupont. Eisenstein ärgerte sich maßlos darüber. Die Zuschauer blieben weg. Bei der Kritik war das Echo geteilt. Erwartet wurde ja ein zweiter Panzerkreuzer Potemkin
Das radikale Experiment, das Eisenstein mit diesem Film wagte, verstand damals kaum einer. Die Kritiker warfen Eisenstein historische Lüge, schwere ideologische Fehler und ein totales künstlerisches Versagen vor und sprachen über eine Reproduktion gestellter Bilderrätsel (Béla Balázs).6 Nur wenige erkannten, dass es sich bei Oktober um etwas absolut und gewollt Neues handelte.

Film über das Ende der Dinge

Oktober, der den Mythos der Oktoberrevolution festigen sollte, war keine Ikone toter und lebender Heroen der Geschichte geworden. Natürlich vermochte Eisenstein einige Massenszenen beeindruckender zu zeigen, als sie vermutlich abgelaufen waren. Doch der eigentliche Kern seines Films lag nicht in der Einführung eines Darstellungskanons für das Initiationsereignis der sowjetischen Geschichte. Er lag in Eisensteins intellektuellen Montage-Spielen, in denen mal transparente, mal dunkle Metaphern oder sogar obszöne visuelle Witze den Geschichtsmythos demontieren: Der Kornilow-Putsch gegen die Provisorische Regierung ist als eine Gegenüberstellung zweier Spielzeug-Napoleons inszeniert, der Umsturz der Macht als Demontage eines aus Pappe und Gips nachgestellten Zarendenkmals. Orden, verliehen „fürs Vaterland“, wachsen zu einem Müllberg wertloser Abzeichen an. Der damalige Chef der Provisorischen Regierung Alexander Kerenski steigt endlos die Treppe der Macht empor, doch als sich ihm die Türen zum Thronsaal öffnen, tritt er – dank Eisensteins Schnitt – in das Hinterteil eines mechanischen Pfaus. 

Viktor Schklowski, Eisensteins schärfster Kritiker in jenen Jahren, überschrieb 1928 seine Rezension des Films mit Gründe für den Misserfolg. 50 Jahre später gab er zu, dass er den Film erst als alter Mann verstanden habe. Das geschah, nachdem er in den Westen fahren durfte und dort den Wahnsinn des Konsumzeitalters erlebte. Eisenstein sei ihm mit seinem Oktober weit voraus gewesen, da er keine Nachstellung der Revolutionsereignisse von 1917, sondern einen Film über das Ende der Dinge gedreht habe. Bis heute überwältigt dieses Werk die Imagination der Zuschauer, indem er sie zwingt, im Kino nicht nur zu sehen, sondern auch zu denken.

Text: Oksana Bulgakowa
Veröffentlicht am 09.10.2017


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1.Freeman, Joseph (1930): The Soviet Cinema, in: Voices of October: Art and Literature in Soviet Russia, New York, S. 541
2.Russisches Archiv für Kunst und Literatur, 1923- 2-1105, S.75
3.zit. nach Bulgakowa, Oksana (1998): Sergej Eisenstein: Eine Biographie, Berlin, S. 96-97
4.Eisenstein wollte keine Schauspieler besetzen, sondern Doppelgänger der damaligen Politiker Alexander Kerenski oder Lenin finden. Dafür wurden in den Leningrader Zeitungen Anzeigen aufgegeben.
5.Aleksandrov, Grigorij (1976): Epocha i kino, Moskva, S. 117
6.Balázs, B. (1984): Schriften zum Film, Berlin/DDR, Bd. 2, S. 89
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Oktoberrevolution 1917

Eine Woche vor jenem Ereignis, das als „Oktoberrevolution“ in die Geschichte eingehen sollte, notierte der Schriftsteller Maxim Gorki: „Eine unorganisierte Menge, die kaum weiß, was sie will, wird sich auf die Straße wälzen, und in ihrem Gefolge werden Abenteurer, Diebe und professionelle Mörder ‚die Geschichte der russischen Revolution machen‘.“1 Gorkis Furcht vor einer Gewaltexplosion sollte sich bewahrheiten. Die Geschichte der russischen Revolution und des daraus resultierenden Bürgerkriegs war eine Geschichte blutiger Konflikte und brutaler Auseinandersetzungen.

Die radikalsten unter den russischen Sozialisten, die Bolschewiki unter ihrem Führer Wladimir Lenin, waren dabei die treibenden Kräfte. Ihr Staat, die Sowjetunion, entstand aus der erbarmungslosen Gewalt, mit der sie ihren Herrschaftsanspruch durchsetzten und die Bevölkerung des Vielvölkerreichs unterwarfen. Ungeachtet dessen verbanden Menschen in aller Welt mit dem Staatsbildungsprojekt der Bolschewiki das Versprechen auf eine bessere Zukunft. In dieser Perspektive markierte die Oktoberrevolution den Beginn einer neuen Zeitrechnung.

Zu Beginn des Jahres 1917 befand sich das Russische Imperium in einer tiefen Krise. Der seit 1914 andauernde Erste Weltkrieg überforderte das Land in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht. Im Februar gingen in der russischen Hauptstadt Petrograd die Menschen auf die Straße und forderten eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln. Die Unruhen weiteten sich rasch aus und führten innerhalb weniger Tage zum Sturz des letzten russischen Zaren: die Februarrevolution in Russland. Nach der Abdankung Nikolaus‘ II. etablierte sich in Petrograd die sogenannte „Doppelherrschaft“. Formal übernahm eine Provisorische Regierung die Amtsgeschäfte, bis eine konstituierende Versammlung über die Zukunft des Reiches entscheiden sollte. Doch die Regierung war abhängig von den Räten der Arbeiter und Soldaten, den Sowjets. Diese verstanden sich als Vertreter jener, die die Revolution „gemacht“ hatten.

Im Verlaufe des Jahres 1917 radikalisierten sich die Sowjets zusehends angesichts der immer weiter um sich greifenden sozialen und militärischen Krise. Die Bolschewiki, die vor dem Ausbruch der Februarrevolution noch eine wenig bedeutende radikale Splittergruppe waren, profitierten davon. Ihre klaren Forderungen nach Brot, Frieden und Land wirkten anziehend auf viele, deren Hoffnungen sich nach der Februarrevolution nicht erfüllt hatten. Gleichzeitig wurden sie immer wieder als Handlanger der Deutschen bezeichnet; ein Verdacht der durch die spektakuläre Reise Lenins in einem verplombten Waggon durch die feindlichen Linien erhärtet wurde. Doch die öffentliche Meinung interessierte Lenin wenig. Er setzte auf den gewaltsamen Umsturz.

Mythos vom Ansturm auf das Winterpalais

Am 7. November 1917 war es soweit. Nach mehreren Tagen kaum verhüllter Vorbereitungen besetzten Soldaten und bewaffnete Arbeiter strategisch bedeutende Gebäude in der russischen Hauptstadt. Die Provisorische Regierung gebot schließlich nur noch über das Winterpalais am Ufer der Newa. Anders als die bildstarke Mythologisierung durch Sergej Eisensteins Film Oktober nahelegt, gab es keinen Ansturm der revolutionären Massen auf das Gebäude. Die wenig motivierten Verteidiger des Gebäudes ließen sich ohne große Gegenwehr entwaffnen. Lenin proklamierte vor dem in der Nacht zusammengetretenen Zweiten Allrussischen Sowjetkongress die Sowjetmacht. Denjenigen moderaten Sozialisten, die gegen diese Anmaßung protestierten, rief Leo Trotzki hinterher, sie sollten dorthin gehen, wo sie hingehörten: „Auf den Kehrichthaufen der Geschichte.“

Der Bolschewik, Ölgemälde von Boris Kustodijew (1920) © Gemeinfrei

In ihren ersten Beschlüssen griff die neue Regierung, der sogenannte Rat der Volkskommissare populäre Forderungen auf. Die bolschewistischen Machthaber erklärten sich zu sofortigen Friedensverhandlungen ohne jede Vorbedingung mit den Mittelmächten bereit, sie verfügten, dass der Boden jenen gehören sollte, die ihn bearbeiteten, und sie sprachen den Nationalitäten des russischen Imperiums das Recht auf Selbstbestimmung zu. Einige Zeit später wurden überdies die Nationalisierung der Banken sowie die Einführung der Arbeiterkontrolle in den Fabriken dekretiert. Indes verschärfte sich die Krise immer mehr: Der Krieg mit den Mittelmächten dauerte an, die Wirtschaft lag am Boden und die staatliche Ordnung war in weiten Teilen des Imperiums zusammengebrochen. Die Erosion etablierter Hierarchien führte in die Anarchie. Wie Gorki es prophezeit hatte, versank Russland in einem Chaos aus Gewalt, unkontrollierter Massenmigrationen, Epidemien, Versorgungsschwierigkeiten und militärischen Rückschlägen. Rasch wurde die Lage zu einer Bedrohung für die Bolschewiki selbst. Für die meisten Zeitgenossen im In- und Ausland stand deshalb fest, dass die neue Regierung bald der Vergangenheit angehören würde.

Doch die Bolschewiki konnten sich behaupten, weil sie radikaler und entschlossener als ihre Gegner vorgingen. Die im Januar 1918 zusammengetretene Verfassunggebende Versammlung ließen sie bereits nach einem Tag schließen, unliebsame Zeitungen wurden verboten und gegen massiven Widerstand in den eigenen Reihen war Lenin sogar bereit, den Mittelmächten weitreichende territoriale Zugeständnisse zu machen, um eine „Atempause“ für den Kampf im Inneren zu gewinnen. Das Regime errichtete eine brutale Gewaltherrschaft, die sich gegen tatsächliche und imaginierte Feinde richtete. Abertausende Menschen fielen dem Roten Terror zum Opfer und die Angst vor Repressionen trieb unzählige Angehörige der ehemaligen Eliten in die Emigration. Rücksichtslosigkeit war schließlich auch der Schlüssel für den Sieg im 1918 ausbrechenden Bürgerkrieg, der drei Jahre dauerte.  

Handelte es sich beim Umsturz der Bolschewiki um eine Revolution oder war er nichts anderes als ein Putsch? Der Streit darüber ist so alt, wie das Ereignis selbst und er ist bis heute mehr als ein akademisches Problem: Hängt doch die Legitimität des gesamten sowjetischen Projekts nicht zuletzt von der Antwort auf diese Frage ab. Für die sowjetische Geschichtsschreibung war die Sache klar. Hier resultierte die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ zwingend aus der Februarrevolution und markierte den Beginn einer neuen Ära in der Menschheitsgeschichte; den Triumph der unterdrückten Klassen über die kapitalistischen Ausbeuter. Dagegen wurde mehrfach eingewandt, dass der Oktober eine radikale Abkehr von den demokratischen Prinzipien des Februars darstellte und direkt in die Diktatur der Bolschewiki führte. Weitere Forschungskontroversen um die Revolutionen von 1917 entzündeten sich unter anderem daran, ob das Ende des Imperiums systemisch bedingt oder ob der Erste Weltkrieg entscheidend für die Ereignisse von 1917 war. In jüngerer Zeit sind die beide Revolutionen des Jahres 1917 zudem als Teil eines „Kontinuums der Krise“ (Peter Holquist) zwischen 1914 und 1921 interpretiert worden.2 In dieser Perspektive waren die Revolutionen eine Zeit kurzlebiger Hoffnungen und Utopien, vor allem aber waren sie Teil einer umfassenden sozialen und kulturellen Krise.„Doch die Bolschewiki konnten sich behaupten, weil sie radikaler als ihre Gegner vorgingen.“ © Gemeinfrei


1.Gorki, Maxim (1972): Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution, Frankfurt/Main, S. 87
2.Holquist, P. (2002): Making War, Forging Revolution. Russia’s Continuum of Crisis, 1914-1921, Cambridge
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