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Gulag-Literatur

Im November 1962 erscheint in der sowjetischen Literaturzeitschrift Nowy Mir die Erzählung Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. Ein bis dahin völlig unbekannter Autor hatte sie geschrieben – Alexander Solschenizyn. Der Text schildert auf 65 Seiten einen typischen Tag eines typischen Lagerhäftlings im Jahr 1951: vom morgendlichen Wecksignal bis zum abendlichen Zählappell. 

Die mit ausdrücklicher Genehmigung Nikita Chruschtschows erfolgte Veröffentlichung war eine Sensation: Erstmals durfte in der Sowjetunion verhältnismäßig offen über das harte Leben im Gulag zur Herrschaftszeit Josef Stalins berichtet werden. Zeitgenössische Leserbriefe zeigen, dass die Erzählung nur wenige Leser gleichgültig ließ. Neben Zuschriften, die dem Autor vorwerfen, Lügen zu verbreiten und der Sowjetunion zu schaden, finden sich vor allem enthusiastische Stimmen, die der Redaktion und dem Autor überschwänglich dafür danken, das Thema aufgegriffen zu haben.1 Auch der ehemalige Gulag-Häftling Warlam Schalamow schreibt an Solschenizyn und lobt ihn überschwänglich: „Ich habe zwei Nächte nicht geschlafen – ich habe ihre Erzählung gelesen, noch einmal gelesen, mich zurückerinnert … Die Erzählung ist wie ein Gedicht, alles daran ist vollkommen, alles ist schlüssig.“2

Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch legte den Grundstein für den Ruhm Alexander Solschenizyns, der sich in den Folgejahren zu dem Autor der Gulag-Literatur entwickeln sollte. Der Text unterbrach das staatlich verordnete, fast 30 Jahre währende Schweigen über das sowjetische Repressionssystem. Er wurde zu einem Initiationstext, der viele ehemalige Lagerhäftlinge nicht nur dazu ermutigte, ihre eigenen Erlebnisse aufzuschreiben, sondern sie zur Publikation in Zeitungen und Zeitschriften einzureichen. Auch Warlam Schalamow hoffte darauf, endlich etwas veröffentlichen zu können. In seinem Brief an Solschenizyn heißt es: „Ich habe tausend Gedichte und hundert Erzählungen geschrieben und in sechs Jahren mit Mühe einen Band verkrüppelter Gedichte veröffentlicht, wo jedes Gedicht beschnitten, verstümmelt ist.“3 

Entstehungsgeschichte des Repressionssystems

Die Anfänge der sowjetischen Gulag-Literatur gehen indes bis in die 1920er Jahre zurück.4 Damals erschienen im Ausland erste Texte von russischen Emigranten, die von den Repressionen nach der Revolution handeln und von den chaotischen Zuständen in den ersten Lagern der Sowjetunion, etwa in dem Lagerkomplex auf Solowki. Die Texte, meist Memoiren und häufig in der Sprache des Aufnahmelandes veröffentlicht, wollten über die Herrschaft der Bolschewiki informieren und ihre Leserschaft aufrütteln. Ihren Weg zurück in die Sowjetunion fanden sie nicht, auch nach der Perestroika blieben sie einem russischsprachigen Publikum meistens verschlossen.

Neben den Memoiren und Zeugnissen, die von Repressierten verfasst wurden, entstanden bis Mitte der 1930er Jahre auch literarische Texte, deren Veröffentlichung in der noch jungen Sowjetunion erlaubt und sogar gefördert wurde. In der sogenannten Tschekistenliteratur, die unmittelbar nach der Oktoberrevolution zu entstehen begann, avancierten die Mitarbeiter der staatlichen Sicherheitsorgane zu literarischen Helden. Zwar wird das Lager in diesen Texten nur am Rande erwähnt, sie geben aber einen aufschlussreichen Einblick in die Entstehungsgeschichte des sowjetischen Repressionssystems und in die Mentalität der Exekutive.5 

Umerziehung zu aufrichtigen Sowjetmenschen

Außerdem kamen Texte heraus, die die sogenannten Arbeitsbesserungslager in den Fokus rücken. Berühmtheit erlangte das Kollektivprojekt Der Weißmeer-Ostsee-Kanal »Stalin«. Eine Baugeschichte 1931–1934. Dieses entstand 1934 im Anschluss der Reise einer Schriftstellerdelegation rund um Maxim Gorki an den Weißmeer-Ostsee-Kanal. Der Text vermittelt den Eindruck, dass die sowjetischen Lager erforderliche und gesellschaftlich nutzbringende Einrichtungen seien, in denen „gesellschaftsferne Elemente“ zu aufrichtigen Sowjetmenschen umerzogen werden. Nur so lässt sich erklären, warum sich in dem Buch Details über das junge Gulag-System finden, die mit dem Beginn des Großen Terrors eigentlich streng geheim waren. Bis zum Jahr 1937, in dem die sowjetischen Behörden Der Weißmeer-Ostsee-Kanal aus dem Verkehr zogen, diente der Band anderen Autoren als Prototyp für ähnliche Texte. 

Schreibverbote

Ab Mitte der 1930er Jahre konnten in der Sowjetunion keine Texte mehr erscheinen, die die Lager oder die staatlichen Repressionen thematisierten. Verfasst wurden sie dennoch. Allerdings ist wohl nur ein Bruchteil von ihnen erhalten geblieben und zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht worden. 

Die bekannt gewordenen Texte sind zumeist Aufzeichnungen, die Aufschluss über Details des Lageralltags geben, ihr literarischer Gehalt gilt als gering bis nicht vorhanden. Auch Briefe, die Lagerhäftlinge an ihre Angehörigen schrieben, ermöglichen heute – trotz der Zensurbedingungen, unter denen sie verfasst wurden – einen Einblick in das Lagerleben. Größere Bekanntheit erlangten die Briefe des Priesters, Religionsphilosophen und Wissenschaftlers Pawel Florenski. Von seiner Verhaftung 1933 bis zu seiner Erschießung im Jahr 1937 hatte dieser seiner Familie von verschiedenen Etappen seiner Lagerhaft geschrieben. 1998 wurden die Briefe Florenskis erstmals komplett veröffentlicht.6 

Die literarischsten Texte, die in den Lagern selbst entstanden, waren Gedichte. Sie hatten den Vorteil, dass sie auf kleinstem Raum verfasst, gut versteckt und durch ihre Form leicht auswendig gelernt werden konnten. Unter Umständen konnten sie so – wie auch Lieder – die Haftzeit ihrer Verfasser überdauern und zu einem späteren Zeitpunkt erneut aufgeschrieben und publiziert werden. Die bekannt gewordenen Gedichte, die im Lager entstanden, umfassen ein weites Spektrum: Neben tiefgründigen Reflektionen über das Lagerleben und das eigene Schicksal finden sich hier auch Beschwerden und Spottverse.7 

Verschmolzen zu einem einzigen Hypertext

Nach Stalins Tod und der Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag im Jahr 1956 begannen viele Menschen, ihre Erinnerungen an die Lager aufzuschreiben. Dabei mag es den meisten weniger darum gegangen sein, Memoiren zu veröffentlichen, sondern vielmehr darum, ihre Erinnerungen an das erlittene Unrecht überhaupt zu Papier zu bringen. Das Ablegen eines Zeugnisses (auch gegenüber sich selbst) wurde zum wesentlichen Motivationsmoment des Schreibprozesses. Diese Texte sind nach einem nahezu identischen Muster angelegt, das auf der Chronologie der Ereignisse beruht: Die Autoren schildern ihr Leben vor der Verhaftung, die aufkommende Angst vor einer Festnahme und schließlich die (von einigen fast als Erlösung von ihrem angstvollen Warten empfundene) Verhaftung selbst. Dem folgen Erinnerungen an die Untersuchungshaft, die Verurteilung, die Überführung ins Lager und in unterschiedlicher Ausführlichkeit an das Lagerleben selbst. Schließlich schildern die Autoren ihre Entlassung und die Rückkehr ins zivile Leben. Durch ihre Ähnlichkeit scheinen diese Texte, wie die russische Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Irina Schtscherbakowa treffend feststellte, zu einem „einzigen Hypertext zu verschmelzen“.8

Die Tauwetterperiode währte nur kurz. Solschenizyns Folgewerke, Im ersten Kreis der Hölle, Die Krebsstation und natürlich sein Monumentalwerk Archipel Gulag, erschienen bereits im Samisdat beziehungsweise im Ausland. Ähnlich erging es Warlam Schalamow und Jewgenija Ginsburg, deren Werke durch ihre literarische Qualität aus der Vielzahl der Lagertexte herausstechen. Erst während der Perestroika konnten Schalamows Erzählungen aus Kolyma und Ginsburgs Marschroute eines Lebens in der Sowjetunion frei zugänglich erscheinen, beide erlebten das nicht mehr. 

Neben diesen heute zum Kanon der Gulag-Literatur zählenden Texten erschien zu dieser Zeit eine Vielzahl von Zeugnistexten, die Betroffene zu einem früheren Zeitpunkt verfasst und dann jahrzehntelang aufbewahrt hatten oder die erst während der Perestroika niedergeschrieben worden waren. Bis heute werden neue Gedächtnistexte publiziert, meist durch die Nachfahren der Repressierten, die etwa beim Aufräumen auf die Manuskripte stießen.9 Keiner dieser Texte hat jedoch die Bekanntheit und die Bedeutung von Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch erreicht. Der Wegbereiter der sowjetischen Gulag-Literatur ist bis heute Pflichtlektüre für russische Schulklassen – trotz der aktuellen russischen Geschichtspolitik, die Stalins Herrschaft zunehmend in ein besseres Licht zu rücken sucht.

 

Zum Weiterlesen:
Toker, Leona (2000): Return from the Archipelago: Narratives of Gulag Survivors, Bloomington und Indianapolis
Frieß, Nina (2017): „Inwiefern ist das heute interessant?“ Erinnerungen an den stalinistischen Gualg im 21. Jahrhundert, Berlin 
Für russischsprachige Leser bietet die Internetseite Wospominanija na Gulage eine große Auswahl an Texten, die an den Gulag erinnern, und die dazugehörigen Autorenbiografien. 

1.Anlässlich des 50. Jubiläums der Veröffentlichung erschien eine Sammlung von Leserbriefen: Tjurina, Galina (2012): «Dorogoj Ivan Denisovič!..» Pisʼma čitatelej 1962–1964: K 50-letiju publikacii rasskaza Aleksandra Solženicyna‚ Odin denʼ Ivana Denisoviča‘, Moskva 
2.Šalamov,Varlam (2007): Šalamov an Aleksandr Solženicyn, in: Osteuropa: Das Lager schreiben, Berlin 6/2007, S. 125-136, hier S. 125 
3.ebd., S. 136 
4.Texte über die Zwangsarbeit unter den russischen Zaren wie Fjodor Dostoevskijs Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1860-62) und Anton Čechovs Die Insel Sachalin (1893) sind streng genommen nicht Teil der Gulag-Literatur, bilden aber wichtige Prätexte für diese. 
5.siehe dazu ausführlich Heller, Michel (1975): Stacheldraht der Revolution: Die Welt der Konzentrationslager in der sowjetischen Literatur, Stuttgart, S. 93 ff. 
6.Florenskij, Pavel (1998): Sočinenija v četyrech tomach: Tom 4: Pisʼma s Dalʼnego Vostoka i Solovkov, Moskva 
7.Eine beeindruckende Sammlung der „Poesie der Gefangenen des Gulags“ findet sich in der russischsprachigen Anthologie Poezija Uznikov GULAGa, die Gedichte von über 300 politischen Häftlingen enthält. Vilenskij,Semen (Hrsg., 2005): Poėzija uznikov GULAGA: Antologija, Moskva 
8.Shcherbakova,Irina (2003): Remembering the Gulag: Memoirs and Oral Testimonies by Former Inmates, in: Dundovich, Elena et al. (Hrsg.): Reflections on the Gulag: With a documentary appendix on the Italian victims of repression in the USSR, Milano, S. 187-207, hier S. 198 
9.So wie es Vorläufer der sowjetischen Gulag-Literatur gab, gibt es auch Nachfolger, etwa Michail Chodorkowskis Briefe aus dem Gefängnis, München, 2011 
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Motherland, © Таццяна Ткачова (All rights reserved)