Menschenrechtler vergleichen das Strafvollzugssystem in Russland häufig mit dem sowjetischen Gulag. Anlass dazu bieten Folterskandale und Ideen des FSIN (Föderaler Strafvollzugsdienst), Häftlinge in Bauprojekten auszubeuten.
Das russische Onlinemedium Verstka erläutert, was FSIN und Gulag verbindet: Wie in der Sowjetunion einst Zwangsarbeitslager entstanden und inwieweit der Vergleich des damaligen Gulag mit heutigen Strafkolonien passt.
Eine Einführung in unseren neuen Themenschwerpunkt: Archipel Gulag-FSIN
Das heutige russische Haftsystem des Föderalen Strafvollzugsdiensts FSIN ist gewissermaßen der Nachfolger des sowjetischen Gulag. Die Zahl der Inhaftierten war jedoch in den sowjetischen Gefängnissen deutlich höher als heute.
Laut Historikern sind insgesamt etwa 20 bis 25 Millionen Menschen seinerzeit durch den Gulag gegangen, zwei Millionen davon im Lager gestorben. Berechnungen des Instituts für Demografie der Higher School of Economics ergeben, dass im Gulag jeder 15. Häftling ums Leben gekommen ist.
Der Gulag war ein Netz aus rund 500 Lagerverwaltungen, dem jeweils Hunderte Zweigstellen und Zentren untergeordnet waren – insgesamt über 30.000. Am höchsten war die Zahl der Lagerhäftlinge im Jahr 1953 mit bis zu 2,6 Millionen.
Der Gulag-Überlebende und Schriftsteller Alexander Solschenizyn verarbeitete in seinem berühmten Werk „Der Archipel Gulag“ seine eigene Gulag-Erfahrung und die Erinnerungen Hunderter anderer Opfer der Repressionen.
Das heutige russische Strafvollzugssystem umfasst dagegen etwa 550 Strafkolonien (Stand 1. Januar 2023). Im Oktober 2023 verkündete Russlands Vize-Justizminister Wsewolod Wukolow, die Insassenzahlen in russischen Gefängnissen seien so gering wie nie zuvor. In den russischen Strafkolonien hätten sich zu dem Zeitpunkt 266.000 Personen befunden. Zehn Jahre früher seien es noch rund 700.000 gewesen.
Zwangsarbeit auf Großbaustellen
2021 stand erneut die Frage zur Diskussion, ob Gefängnisinsassen zu Bauarbeiten an der Baikal-Amur-Magistrale (BAM) herangezogen werden sollten. Damals bekundete der FSIN die Bereitschaft, in der Nähe großer Baustellen, auf denen Arbeitskräfte gebraucht werden, Arbeitslager zu errichten. Abgesehen von der BAM waren auch der Autonome Kreis der Nenzen, die Tajmyr-Insel (im Norden des Gebietes Krasnojarsk – dek), die Oblast Magadan und Norilsk als potenzielle Standorte für solche Lager im Gespräch.
Die Arbeitskraft von Gefangenen russischer Strafkolonien wird heute ohnehin genutzt, meist in der Leichtindustrie, etwa in der Herstellung von Berufskleidung. In manchen Kolonien nähen die Insassen auch Uniformen oder knüpfen Tarnnetze für das russische Militär in der Ukraine.
Olga Romanowa, Vorsitzende der Stiftung Rus sidjaschtschaja, nennt einige Faktoren, die das moderne Strafvollzugssystem vom Gulag „übernommen“ hat: die marode Infrastruktur in den Haftanstalten, das geringe Ausbildungsniveau des Personals, Intransparenz, vorsintflutliche Auffassungen vom Sinn einer Strafe sowie das Fehlen von Resozialisierungsprogrammen.
Heute jedoch hätten der administrative Druck auf die Verurteilten und die flächendeckende Missachtung ihrer Rechte nicht mehr nur das Ziel, sie im allgemeinen Interesse – zur Industrialisierung des Landes beispielsweise – einen Belomorkanal oder eine BAM bauen zu lassen. „Das ganze System ist so konstruiert, dass es die privaten, kommerziellen Interessen einer Personengruppe erfüllt, die ihre Gehälter aus dem Staatshaushalt beziehen“, erklärt Romanowa.
Zunehmende Repressionen
In modernen russischen Strafkolonien werden – genau wie früher in stalinistischen Lagern – Opfer politischer Repressionen gefangengehalten. Memorial zufolge waren in der UdSSR elf bis 11,5 Millionen Menschen von politischen Repressionen betroffen.
Das Menschenrechtszentrum setzt seine Zählung fort: Derzeit gelten 769 Personen als politische Gefangene (weitere 605 Personen werden verfolgt, sind aber nicht in Haft).
Als Wladimir Putin 1999 an die Macht kam, gab es in Russland nur einen einzigen politischen Gefangenen. Während Putins Amtszeit zählten Menschenrechtsaktivisten insgesamt 1500 politische Häftlinge. Die meisten politisch motivierten Verhaftungen gab es in Russland 2019. Seit Beginn des vollumfänglichen russischen Kriegs gegen die Ukraine 2022 nimmt der Frauenanteil unter den politischen Gefangenen deutlich zu, nämlich auf 27 Prozent.
Die Liste der Personen, die in Russland aus politischen Gründen verfolgt werden, sei allerdings nicht vollständig, so Memorial, weil die Einstufung als politischer Gefangener nach bestimmten Kriterien erfolge und eine gewisse Zeit in Anspruch nehme, weswegen viele noch „unsichtbar“ blieben.
„Wir bemühen uns, es jedes Mal überzeugend zu begründen und maximal objektiv nachvollziehbar zu machen, wenn wir jemanden als politischen Häftling anerkennen“, heißt es von Memorial. Die Untersuchung jedes Freiheitsentzugs, bei dem ein politisches Motiv vermutet wird, erfordere die Vorlage von Dokumenten und ausreichend Zeit. „Allein das Zusammentragen des Materials dauert oft schon ziemlich lange, vor allem, wenn die Ermittlungen und Verhandlungen geheim sind.“
Was FSIN und Gulag auf jeden Fall gemeinsam haben, seien Folterpraktiken in den Strafkolonien: Die Gefangenen würden physisch misshandelt und zu übermäßiger Arbeit gezwungen, ohne freien Tag und angemessene Vergütung.
Wie die UdSSR das Gulag entwickelte
Die Abkürzung Gulag steht für Glawnoje uprawlenije lagerej (dt. Hauptverwaltung der Lager) – eine Organisation dieses Namens wurde 1934 geschaffen, doch die Abkürzung ist in Dokumenten bereits ab 1930 zu finden. Die Entwicklung eines solchen Systems begann gar bereits viel früher, nämlich ab 1919.
Ab 1934 kontrollierte der Gulag – geleitet von Genrich Jagoda – praktisch alle Haftanstalten der Sowjetunion und war unmittelbar dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten unterstellt.
Bereits 1918 begannen die Revolutionsanführer Wladimir Lenin und Leo Trotzki, damals tatsächlich noch „Konzentrationslager“ genannte Gefangenenlager zu planen, in denen man die Arbeitskraft der „Klassenfeinde“ nutzen wollte. Am 15. April 1919 wurde der Beschluss zur Schaffung von Zwangsarbeitslagern gefasst, und bereits im darauffolgenden Jahr entstand am Weißen Meer das erste Lager des zukünftigen Gulag.
1929 wurde die bisherige Unterteilung in Lager für politische und kriminelle Häftlinge aufgehoben, sie wurden in einem gemeinsamen System vereint. Im Zuge der Kollektivierung und Industrialisierung wuchs dieses Lagernetz : Allein in den ersten Monaten der Kollektivierung der Landwirtschaft wurden rund 60.000 „Kulaken“ inhaftiert.
Zusätzliche Lager wurden nach Möglichkeit dort errichtet, wo Arbeitskräfte gebraucht wurden: in den Goldminen am Fluss Kolyma, am Bau des Belomorkanals zwischen dem Weißen und dem Baltischen Meer und am Bau der Baikal-Amur-Magistrale. An dieser Eisenbahnstrecke entstand 1932 das BAMlag, dessen Insassen 190 Kilometer Schienen verlegten, die die BAM mit der Transsibirischen Magistrale verbanden.