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„Ich soll dich mit allen Mitteln brechen“

Nachdem lange unklar war, wohin der verurteilte Alexej Nawalny gebracht wurde, steht nun fest: Er ist in Lagerhaft in der Strafkolonie IK-2, auch Pokrowskaja-Kolonie genannt. Dieses Straflager in der Oblast Wladimir, knapp 100 Kilometer von Moskau entfernt, gilt als besonders hart. 

Über Folter in russischen Lagern und Gefängnissen wird immer wieder berichtet. Nun druckte die Redaktion von Mediazona Auszüge aus einem 60-seitigen Brief ab, den der Häftling Iwan Fomin schrieb. Darin berichtet er über systematische Folter und sexuelle Gewalt in der Strafkolonie IK-6 in Melechowo, Oblast Wladimir. 

Brisant ist das Schreiben nicht nur wegen der drastisch geschilderten Folter, sondern auch, weil Fomin behauptet, dass der Leiter der Kolonie Roman Saakjan ihn dazu nötigen wollte, seinen Anwalt aufzugeben. Saakjan wurde im Januar 2020 Leiter der IK-6 und diente zuvor in der IK-2 – wo Alexej Nawalny derzeit in Haft ist. 

Nawalny selbst hatte erst Anfang der Woche in einem Instagram-Post seinen derzeitigen Aufenthaltsort bestätigt. Darin schreibt er, er habe noch keine Gewalt erfahren, aber „aufgrund der angespannten Haltung der Sträflinge, die Angst haben, auch nur den Kopf zu drehen, glaube ich die Geschichten gern, dass hier in IK-2 noch bis vor Kurzem Menschen mit Holzhämmern fast zu Tode geprügelt wurden“. Er nenne sein neues Zuhause „unser freundliches Konzentrationslager“.

Iwan Fomin wiederum stammt aus Usbekistan, er wurde 2014 verhaftet, einige Jahre zuvor war er zum Islam übergetreten, ihm wird Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Wie sein Anwalt sagte, wandte sich Fomin an Mediazona, um sich gegen die Terrorismus-Vorwürfe zu wehren. Mediazona widmet sich in zahlreichen Reportagen und Analysen dem russischen Strafsystem. Das Online-Medium wurde von den Pussy-Riot-Aktivistinnen Nadja Tolokonnikowa und Maria Aljochina nach deren Lagerhaft gegründet.

dekoder bringt einen Auszug der teilweise äußerst drastischen Schilderungen Fomins.

Источник Mediazona

Ich komme ins Lager in der Oblast Wladimir, im Dorf Melechowo. Die Lagerverwaltung und die ganze Führungs-Bande der Insassen – die Stubenältesten Sawchosy und deren Helfer, die sogenannten Dnewalnyje – freuen sich sehr über meine Ankunft. Das sind sieben oder acht Männer, alles 100-Kilo-Riesen, wie aus dem Bilderbuch. Ich werde sofort aus der Menge rausgepickt, von den anderen getrennt und angebrüllt; dann müssen wir uns an die Wand stellen. Die Hände an die Wand, den Kopf und Blick nach unten gerichtet. Einer schreit mir direkt ins Ohr: „Fomin! Vorname, Vatersname? Wo geboren?“ Dann beschimpfen sie mich mit vulgären Worten und wollen meinen muslimischen Namen wissen. Ich sage: „Umar.“ Als sie das hören, sind sie beleidigt, sagen, ich hätte „meinen Glauben verraten“ und dass man „solche wie mich umbringen“ müsse. Sie nehmen mir meine Tasche mit den Büchern weg, es sind einige: Englischbücher und der Koran, ein Gebetbuch, verschiedene Klassiker. Nach dem Filzen bringen sie uns für zwei Wochen auf die Quarantänestation.

Wir müssen uns auf Hocker setzen, kerzengerade müssen wir dort sitzen, den Rücken durchgedrückt. Fünf Dnewalnyje und ein Sawchos, der Chef von denen, bewachen uns. Mir wird der Kopf kahlgeschoren, ich muss irgendwas unterschreiben – was, weiß ich nicht, ich darf nicht lesen, was genau ich da unterschreibe. Dann muss ich die Namen aller Verwaltungsmitarbeiter auswendig lernen. Danach nehmen sie einen von uns mit und führen ihn durch die „Küche“ raus – das heißt, durch den Wach- beziehungsweise Dienstraum nebenan –, von dort hören wir Stöhnen und Geräusche, als würde jemand gegen die Wand schlagen. So geht das jeden Abend. Zurück kommt der erste mit zerrissener Gefängnishose, humpelnd, setzt sich wieder hin. Dann holen sie den nächsten.

Wir hören Stöhnen und Geräusche, als würde jemand gegen die Wand schlagen. So geht das jeden Abend

Die ersten fünf Tage werde ich nicht aufgerufen, nur jeden Tag angeschrien. Morgens vor dem Frühsport sagt der Sawchos Roma Nowikow zu mir: „Bald werd ich dich f***.“ Ich halte mich gerade und schweige. Das sagt er jeden Tag zu mir, genau wie die Dnewalnyje – mir als einzigem von den ungefähr 20 Männern.

Außerdem fragen sie jeden Tag: „Trittst du zum Christentum über?“ Ich sage nein. Am sechsten Tag der Quarantäne bringen sie mich in einen Verschlag ohne Kameras. Sawchos Roma Nowikow sagt zu mir: „Heute ist deine letzte Chance, dich vor dem Petuschatnik [Sonderbaracke für missbrauchte Gefangene, die sogenannten Petuchidek] zu retten.“ Dort würde ich sonst durchge***** hinkommen und wie ein Sklave Klos putzen oder auf der Müllkippe arbeiten wie die anderen Petuchi. Er beschreibt, wie sie mich vergewaltigen würden, mir die Füße und Hände auf dem Rücken fesseln, ich würde daliegen, während sie mir die Fußsohlen und den Arsch versohlen. Wenn ich danach nicht gehorchte, würden sie mich mit einem Besenstiel vergewaltigen, erst von hinten und dann in den Mund. Wenn ich dann immer noch nicht gebrochen wäre, würden sie einen Petuch mit einem Steifen holen, der würde sich an mir aufgeilen, aber vorher würden sie mich an den Tisch fesseln, ohne Hose, die Beine auseinander, fast im Spagat. Ich würde auf diesem Tisch liegen, nach vorne gebeugt und die Beine gespreizt, die Hände an die Tischbeine gefesselt, und einer würde auf meinem Rücken sitzen. Und dann würde mich der Petuch mit seinem harten Schwanz in den Arsch f*****. Das erzählt mir der Sawchos alles ausführlich. Sagt, dass sie ihn genau so gebrochen hätten. Noch nie sei einer ungebrochen davongekommen, und das würde auch so bleiben. Er sagt, er sei russischer Nationalpatriot, kein Christ, sondern orthodox, und dass er ein Feind des Islam sei und immer sein werde.

Ich antworte: „Dann bringt mich lieber um, brecht mir alle Knochen.“ Er sagt, es gebe für mich „nur einen Ausweg“ – und wirft mir eine Schachtel mit Rasierklingen hin. Er sagt: „Die Ermittler haben dich freigegeben, ich soll dich mit allen Mitteln brechen, der Auftrag kommt von draußen.“ Und dann: „Ich komme in 30 bis 40 Minuten wieder und hoffe, dass dann die gesamte Decke mit deinem Blut vollgespritzt ist, aber wenn du noch lebst, nähen sie dich zu und bringen dich wieder zu uns in die Quarantäne.“ Er sagt, dass er mir keine zweite Chance geben würde, dass er mich selber ***** [vergewaltigt], das wär ihm ****** [egal]. Er lacht, geht weg und lässt mich mit den Rasierklingen allein.

Dann bringt mich lieber um, brecht mir alle Knochen

Ich sitze da und denke lange nach. Ich kann nicht Hand an mich legen, ich kann es nicht, wegen der Todsünde. Ich sehe meine Mutter vor mir, wie sie tränenüberströmt gegen die Lagertore hämmert. Als er dann wiederkommt, sage ich: „Gut, ich bin einverstanden. Ich nehme den orthodoxen Glauben an, nicht den christlichen.“

Es vergehen zwei Tage. Ich sitze auf meinem Hocker und verrichte im Sitzen das Namas [das muslimische Gebet]. Aber die Kamera verrät mich. Sie rufen ihn an, und abends werde ich geholt. Er sagt: „Du Hurensohn hast mich angelogen.“ Sie fangen an, mich mit Fäusten zu schlagen und zu treten, dann werde ich von den Dnewalny weggebracht. Er sagt: „Jetzt f***** wir dich.“ 

Ich sage ihm: „Du irrst dich. Ich habe Sport gemacht, auf dem Hocker, Gleichgewichtsübungen, und die Zeit dabei gezählt. Mir war kalt und ich wollte mich auf diese Art aufwärmen.“ Er glaubt mir: „Wenn dir kalt ist, geh in die Küche und bitte den Dnewalny um Tee.“

Sie holen einen Mann, er heißt Myschkin mit Nachnamen, glaube ich. Erst schlagen sie ihm mit der Faust in den Magen, dann werfen sie ihn auf den Boden, binden mit Klebeband seine Knöchel zusammen, die Handgelenke auf den Rücken. Einer stellt sich mit dem Knie auf ihn und biegt ihm die Arme zurück. Roma, der Sawchos der Quarantäne, sagt: „Jetzt machen wir ihm heiße Sohlen“. Sie fangen an, ihn mit einem Knüppel zu schlagen, der Knüppel ist extrem hart: ein schweres, dickes Stück Plastikrohr, mit einem winzigen Loch in der Mitte – solche Rohre habe ich noch nie gesehen. Mit diesem Rohr schlagen sie ihm auf die Fußsohlen und dann auf den Arsch. Dann holen sie einen Besenstiel, an dem angetrocknete Scheiße klebt. Dieser Sawchos Roma Nowikow zieht ihm die Arschbacken auseinander, spuckt in die Öffnung und schiebt ihm den Besenstiel hinten rein. Dann zieht er ihn wieder raus und hält ihn Myschkin unter die Nase. Fragt: „Was riechst du?“ – „Scheiße.“ Dann steckt er ihm das kotverschmierte Teil bis zum Anschlag in den Mund. Danach holen sie den Tataren (seinen Namen weiß ich nicht mehr), den sie „Mongole“ nennen. Mit dem machen sie dasselbe. Myschkin zwingen sie so zu einer Aussage, den Mongolen zwingen sie ebenfalls zu einer Aussage – über ein Verbrechen von anderen, von irgendwelchen Dealern. So zeigen sie mir, was sie mit den Leuten machen. Mir verzeihen sie und machen mich zum Gehilfen des Dnewalny.

Illustration © Maria Tolstowa/Mediazona

Wir kommen schließlich in die untere Quarantäne – Block Nummer sieben, in den alle [Neuankömmlinge] kommen. Gleich am ersten Tag bringen mich der Sawchos und der Dnewalny in eine Lagerkammer. Keiner sagt irgendwas, ich stehe da und weiß nicht, was sie von mir wollen. Dann sagt der Sawchos von Block sieben, Renat Kurban: „Gleich wird einer hergebracht und setzt sich auf diesen Stuhl da. Du stellst dich hinter ihn.“ Bolschoi [dt. der Große – dek] und Bely [dt. der Weiße – dek] bringen einen Russen rein, seinen Namen weiß ich nicht mehr. Der setzt sich ruhig auf den Stuhl, sie stellen ihm Fragen, er antwortet. Dann gibt uns Kurban ein Zeichen, wir werfen ihn auf den Boden, binden mit einem weißen Seil seine Knöchel zusammen. Dann ziehen wir ihm die Hose runter und schlagen mit dem selben Rohr auf seine Fußsohlen und seinen Arsch, aber nicht lange, so 10 oder 15 Minuten. Der Sawchos fragt, was er draußen gearbeitet hat. Ich weiß nicht mehr, was er antwortet, aber er bietet seine Dienste an – Plastikfenster einsetzen (in der Kolonie). Dann holen sie noch zwei Männer und machen mit denen dasselbe.

Zwei Tage später machen sie mich zum Dnewalny: Roma Nowikow, der Sawchos der oberen Quarantäne, holt mich ab und wir gehen zusammen ins Büro des Ermittlers – das ist damals Hauptmann Michail Lwowitsch Stepanow. Er sagt, ich sei jetzt ihr Mann, er werde mir helfen und dann würde „alles gut“ werden. Er sagt, ich müsse dem Sawchos Kurban nun bei allem helfen: Leute schlagen und ****** [vergewaltigen], wenn nötig. Ich habe keine andere Wahl, als ihm zu gehorchen. Das war im Juni 2018.

Als ich Besuch von meinem Anwalt Schamil [Meshijew] bekomme, ruft man mich ins Lagerbüro und will wissen, warum ein Anwalt zu mir gekommen ist und was ich ihm sagen würde. Ich antworte, er sei nur wegen meiner Strafsache gekommen. Dann muss ich versprechen, dass ich nichts über das Lager sagen werde, nur dass alles gut sei und es mir gut gehe. Nur so kann ich mit meinem Anwalt sprechen, die Gespräche werden aufgezeichnet.

Dann bringt uns Roma Nowikow einen Typen aus Block fünf, besser gesagt zwei: einen Tadshiken und einen Armenier. Die beiden haben sich über irgendwas gestritten und eine Schlägerei angefangen. Sie bringen den Armenier in die Kompaniekammer, dort warten wir schon: ich, Bolschoi, Bely und der Sawchos Kurban. Er muss sich auf den Stuhl setzen, wir stehen dahinter. Der Sawchos befragt ihn zu der Schlägerei, das Gespräch dauert etwa fünf Minuten. Dann gibt uns Kurban ein Zeichen mit dem Blick, wir werfen ihn zu Boden, fesseln seine Hände und Füße, Bely setzt sich auf seinen Rücken, biegt die gefesselten Arme zurück und zieht ihm die Hose runter. Ich trete auf das Seil, mit dem die Füße zusammengebunden sind, Bolschoi schlägt ihm mit dem Knüppel auf die Fußsohlen, erst auf die eine, dann die andere und prügelt ihm den ganzen Hintern weich. Es wird laute Musik aufgedreht, da kommt Roma Nowikow, setzt sich hin und raucht eine, während wir den anderen schlagen. Ich versuche es ein paar Mal, aber ich verfehle die Fußsohlen. Also wechseln sich die beiden anderen ab, ich halte ihn nur fest, weil er schreit und nach seiner Mutter ruft. Dann kommt der Ober-Sawchos rein – sowas wie der Lager-Boss, er heißt Tocha – und schlägt ihm auf den Brustkorb, dahin, wo die Lunge ist. Der Armenier weint, fleht unter Tränen um Gnade, sagt, er habe alles verstanden. Als er danach aufsteht, ist sein Hintern riesig. Er war auch schon als er die Hose auszog lila und dreimal so groß wie normal gewesen, auch die Fußsohlen waren bereits geschwollen. Drei Tage danach kann der Armenier immer noch nicht laufen, er bekommt Bettruhe verordnet: Seine Füße schwellen immer weiter an, unter der Haut sammelt sich Wasser.

Wie aus Iwan Fomins Brief hervorgeht, erliegt der armenische Verurteilte später den Folgen der Schläge. 

Im Juli 2018 berichtet die Novaya Gazeta vom Tod des 33-jährigen Gor Owakimjan, der in der Kolonie IK-6 in Melechowo seine Haftstrafe verbüßte. In den Unterlagen heißt es, er sei im Krankenhaus an einer doppelseitigen Lungenentzündung gestorben, aber die Familie des Opfers behauptet, auf seinem Körper seien Folterspuren zu sehen gewesen. Der Regionalsender Zebra TV berichtet, gegen die Gefängnisärzte werde wegen fahrlässiger Tötung aufgrund von unterlassener Hilfeleistung ermittelt (Absatz 2 Artikel 109 StGB).

Ich kann nicht mehr dort bleiben, aber ich weiß nicht, wie ich weglaufen soll, die ganze Zeit zerbreche ich mir den Kopf darüber, wie ich da rauskomme. Ich stehe unter Dauerüberwachung, zum Münztelefon begleitet mich ein Dnewalny, in seiner Anwesenheit kann ich nicht sprechen.

Eines Tages werde ich zum Lagerleiter Roman Saakowitsch Saakjan gerufen. Ich setze mich ihm gegenüber, er sagt: „Erzähl.“ Ich erzähle sehr viel, auch, wie wir den Armenier umgebracht haben. Er sagt: „Ich weiß. Du hast uns, der Gefängnisleitung, sehr geholfen. Und dem FSB.“ „Und jetzt“, sagt er dann, „schreib eine Erklärung, dass du auf einen Rechtsanwalt verzichtest, ich habe einen Anruf bekommen, dass man dich in drei, vier Tagen abholen kommt. Du stehst unter meinem persönlichen Schutz. Wegen Artikel 205 brauchst du dir keine Sorgen zu machen, das garantiere ich dir.“

Ich sagte: „***** nochmal, Roman Saakowitsch, ich werde keine Verzichtserklärung schreiben.“ Er: „Du bist ja bekloppt! Hast du nicht zugehört? Ich sage, wir setzten uns hin und besprechen hier, warum man dich angelogen hat.“ Ich antworte: „Verstehen Sie doch, ich will nicht in Haft sein, außerdem gibt es bei Artikel 205 sowieso keine vorzeitige Entlassung.“ Und er: „Du bist wirklich bekloppt! Schreib das jetzt auf. Um deinetwillen. Weißt du denn nicht, wer ich bin?“. Ich sage, ich hätte davon gehört. Er: „Gegen mich werden laufend Beschwerden geschrieben, aber das ist mir ***** [egal]. Ich habe keine Angst, ich hab breite Schultern.“ Und dann: „Hör mir mal zu, mein Guter, du könntest uns verlorengehen in diesem unermesslich großen Land.“ Ich versuche es noch einmal: „Lassen Sie mich ihn [den Anwalt] wenigstens sehen.“ Er daraufhin: „Denk lieber an die Sicherheit deiner Verwandten.“

An jenem Tag bekommt Iwan Fomin seinen Anwalt Schamil Meshijew nicht mehr zu sehen, aber die Verzichtserklärung unterschreibt er nicht. Fomin will sich gegen die Terrorismus-Vorwürfe wehren, genau aus diesem Grund habe er sich an Mediazona gewandt, sagt sein Anwalt Meshijew. Derzeit befindet sich Fomin im Untersuchungsgefängnis Nr. 3 der Stadt Serpuchow. Seinen Fall hat die Leitung des Ermittlungskomitees Naro-Fominsk übernommen.

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Frauenstraflager

„Plötzlich durchbohrt eine Nadel mit aller Wucht deinen Nagel und dringt in den Finger ein. Fünf Sekunden lang begreift das Bewusstsein nicht, was geschehen ist. [...] Erst nach fünf Sekunden überrollt dich eine Welle aus Schmerz: Wow, schau nur, dein Finger ist auf die Nadel gefädelt. Deswegen kannst du die Hand nicht rausziehen. Ganz einfach. Vielleicht kannst du einfach fünf Minuten mit dem Finger so dasitzen, aber mehr nicht. Du musst weiternähen. Bist du etwa die erste, die sich den Finger durchsteppt? Ein Pflaster willst du? Woher denn? Du bist hier im Lager, Kleines.“1

So erinnerte sich die Kunstaktivistin Nadeshda Tolokonnikowa aus der Punk-Band Pussy Riot an die Arbeit im Straflager. Die Verurteilung von drei Mitgliedern der Band zu zwei Jahren Haft, weil sie in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale ein Punk-Gebet aufgeführt hatten, löste weltweit Empörung und Mitgefühl aus. Das hatte nicht nur mit dem politischen Hintergrund zu tun, vor dem das Urteil fiel, sondern auch mit den Bedingungen der Lagerhaft an sich. Die Berichte der „prominenten Häftlinge“ machten vielen Menschen schlagartig bewusst, dass der Strafvollzug für Frauen im heutigen Russland nicht mit einem Gefängnisaufenthalt im üblichen Sinne zu vergleichen ist, sondern die Verbringung in entlegene Lagerkomplexe, fernab von Familie und Freunden, bedeutet. Harte Arbeit, Entbehrungen und Widrigkeiten prägen den Lageralltag.

Leben in erzwungener Gemeinschaft, vor aller Augen / Foto aus der Reihe „Otdelenije“ von Elena Anosova

Die spezifische (vormoderne) Einheit von Exil und Haftstrafe hat in Russland eine lange Tradition. Sie reicht bis ins frühe 17. Jahrhundert zurück, hat mehrere Systemwechsel überdauert und kulturell tiefe Wurzeln geschlagen.

Trotz gewisser Reformen und Erleichterungen des Strafvollzugs, die nach dem Ende der Sowjetunion in Angriff genommen wurden, blieben manche Merkmale des Gulags erhalten, eines umfassenden Straflagersystems, das in der Stalinzeit entstand. Dieses Erbe prägt den Strafvollzug bis heute. Dazu gehört vor allem die spezielle Lagergeographie, vorzugsweise an der Peripherie, und die damit verbundene Loslösung der Straftäter aus der ihnen vertrauten Umgebung, ihre vollständige Abschottung von der Gesellschaft. 

Exil plus Haft

Frauen sind von der doppelten Belastung durch Exil plus Haft viel häufiger betroffen als männliche Straftäter. Denn nur ein geringer Teil der rund 750 russischen Straflager sind Frauenlager, und gerade diese befinden sich durchweg an der Peripherie (zum Beispiel in Mordwinien, der Komi-Republik oder in Sibirien). Daher müssen deutlich mehr Frauen als Männer die Haft weit entfernt von ihren Heimatorten verbringen.

Nach langen strapaziösen Fahrten in speziellen Eisenbahnwaggons am entlegenen Bestimmungsort angelangt, dürfen sie pro Jahr sechs kurze (vier Stunden) und vier lange (drei Tage) Verwandtenbesuche im Jahr erhalten. Viele Angehörige können sich die zeitaufwändigen und kostenträchtigen Reisen jedoch nicht leisten. Weibliche Häftlinge kommen seltener in den Genuss, weil insbesondere Ehemänner weniger geneigt sind, die Haftzeit durch Besuche zu mildern und gemeinsam auf die Freilassung zu warten. Viele lassen sich schnell scheiden, ohne die bestehenden Kontaktmöglichkeiten (Anrufe, Briefe, Pakete) ausgeschöpft zu haben.2 In der Folge müssen Frauen viel häufiger als Männer nicht nur mit dem Verlust der Freiheit zurechtkommen, sondern auch mit dem Schmerz darüber, im Stich gelassen worden zu sein. 

Verrat an der Weiblichkeit

Frauen bilden nur eine kleine Minderheit aller Straftäter. Insgesamt beträgt der Anteil weiblicher Häftlinge heute weniger als ein Zehntel der gesamten Häftlingsgesellschaft. Gleichwohl steigt die Zahl der von Frauen verübten Straftaten seit Ende der Sowjetunion kontinuierlich an. Auch das Spektrum hat sich erweitert: zu klassischen Delikten wie Diebstahl kommen inzwischen illegale Bankgeschäfte, Betrugs- und Kreditvergehen, Hooliganismus sowie Drogenkriminalität hinzu.3 

Erkennbar ist ebenfalls ein zunehmendes Vordringen von Frauen in den Bereich der Gewaltverbrechen, von Einbrüchen und Raubüberfällen bis hin zu Tötungsdelikten. Damit gleicht sich das Profil straffällig gewordener Frauen in Russland dem der westlichen Industriegesellschaften an, ist also mitnichten außergewöhnlich. Doch unterliegen straffällig gewordene Frauen innerhalb der russischen Gesellschaft einer wohl noch stärkeren Stigmatisierung als männliche Straftäter, werden ihnen doch außer der Gesetzesverletzung zusätzlich der Verrat an ihrer Weiblichkeit und der bewusste Bruch mit der kulturell determinierten Geschlechterolle vorgeworfen.

Das Leben vor aller Augen

Neben den Transporten in weit entfernte Lagerkomplexe werden viele Frauen durch den dort praktizierten Kollektivismus traumatisiert: Es beginnt mit der einheitlichen Anstaltskleidung (dunkle Röcke und weite Jacken, weiße Kopftücher), die die individuellen Frauen zu einer ununterscheidbaren Masse vereinheitlichen. Das Leben in erzwungener Gemeinschaft, vor aller Augen, bedeutet, die Nachtruhe in überfüllten Schlafbaracken, in eng nebeneinander stehenden Doppelstockbetten zu verbringen. Die dort angebrachten Namensschilder enthalten Angaben über den Strafrechtsparagraphen, das Ankunfts- und Entlassungsdatum. Die Gemeinschafts­waschräume und Toiletten haben keine Türen, gewähren also keine Intimität. 

Es gibt in den Frauenstraflagern nur öffentliche Räume und somit keinerlei Privatsphäre. Man könnte von einer Art sozialer Gefangenschaft sprechen, die durch Schikanen des Aufsichtspersonals und durch das Spitzelwesen unter den Häftlingen noch verschärft wird.4 Begründet wird diese Art des Strafvollzugs mit dem Ziel der Resozialisierung, also der Einübung von gesellschaftlich akzeptiertem Sozialverhalten. 

Während in Deutschland beim Resozialisierungsgedanken auch die psychologische Betreuung der Häftlinge, Fortbildungs- und Freizeitangebote sowie Bewährungshilfen nach der Entlassung eine Rolle spielen, geht es im russischen Fall vor allem darum, gesellschaftlich konformes Verhalten mit konkreten Erwartungshaltungen an eine Frau, an deren Weiblichkeit und Häuslichkeit, zu fördern. So werden regelmäßig Schönheits- beziehungsweise Hausfrauenwettbewerbe veranstaltet. Auch das Raumdekor im Straflager – Rüschengardinen und Topfblumen – soll die Bewohnerinnen tagtäglich an ihre zukünftigen Aufgaben in einer patriarchalen Gesellschaft erinnern. Der Aufenthalt im Lager soll also vor allem die Refeminisierung der weiblichen Häftlinge bewirken.

Straf-Einzelzelle als Luxus

Für manche Frauen ist der Mangel an Privatsphäre neben der räumlichen Isolation die schlimmste Hafterfahrung. Dagegen helfen Strategien des inneren Rückzugs (Lesen, Fernsehen, mentale Abschottung während der Arbeitszeit) oder die bewusste Suche nach Orten und Zeiten des Alleinseins. Um wenigstens einige Tage für sich sein zu können, trauen sich manche Frauen, gezielt Regeln zu überschreiten. So kommen sie für eine gewisse Zeit in eine Straf-Einzelzelle. Für diesen Luxus werden sogar verschärfte Haftbedingungen in Kauf genommen. 

 

Neben den Transporten in weit entfernte Lagerkomplexe werden viele Frauen durch den dort praktizierten Kollektivismus traumatisiert. / Foto © Sergey Savostyanov/ITAR-TASS/imago images

Beziehungen zu anderen Mithäftlingen können unter Umständen mehr Wohlbefinden, eventuell sogar Nähe herstellen. Obwohl Straflager nicht gerade als vertrauensfördernde Institutionen gelten, entstehen auch dort nicht nur zweckmäßige, sondern auch emotionale Beziehungen unter Frauen. Das Spektrum reicht von Freundschaften und Netzwerken über sogenannte „Spiel- beziehungsweise Ersatzfamilien“ bis hin zu verdeckt geführten gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen (die verboten sind und geahndet werden).5 

Gearbeitet (das umfasst zumeist Näharbeiten für Armee- oder Polizeizwecke, die Herstellung von Arbeitskleidung sowie das Bemalen von Matrjoschkas und gegessen wird ebenfalls im Kollektiv, abteilungsweise. Laut gesetzlicher Vorschrift soll der Arbeitstag nicht länger als acht Stunden dauern. Doch Tolokonnikowa berichtete 2013 aus ihrem Lager in Mordwinien, dass dort täglich 16 bis 17 Stunden gearbeitet werden müsse, um die Produktionsnorm zu erfüllen. Praktisch handele es sich um Zwangsarbeit, für den sie einen Monatslohn von 29 Rubeln (damals weniger als ein Euro) erhalten habe. Täglich produzierte ihre Brigade 150 Polizeiuniformen, die Norm war von einem Tag auf den anderen um 50 Stück erhöht worden (wiederum nicht den Vorschriften entsprechend). Wurden die Vorgaben nicht erfüllt, drohten der gesamten Brigade empfindliche Strafen.6

Ungewissheit und Zumutungen der Freiheit

Wenn die Haftzeit überstanden ist, folgt für viele Frauen die wohl schwierigste Phase: der Übergang vom Lageralltag mit seinen festen Regeln und seiner Subkultur in die Freiheit, die mit Ungewissheit und Zumutungen verbunden ist. Es droht der tiefe Fall in das sogenannte Entlassungsloch. Staatliche Hilfen gibt es nicht. Wenn, dann bleibt nur die Unterstützung von Familie und Freunden. Die wenigen bestehenden bürgerrechtlichen Organisationen etwa die Bewegung Rus sidjaschtschaja (Einsitzende Rus) oder die von Nadeshda Tolokonnikowa und Maria Aljochina gegründete Organisation Sona prawa (dt. Die Zone des Rechts) kümmern sich unter anderem um Hilfe für entlassene Frauen. Da aber die gesellschaftliche Ablehnung spürbar ist,7 fallen die eben Entlassenen schnell wieder in alte Gewohnheiten zurück und landen bald erneut im Lager.


Zum Weiterlesen:
Pallot, Judith/Piacentini,Laura (2012): Gender, Geography, and Punishment: The Experience of Women in Carceral Russia, Oxford
Pallot, Judith (2015): The Gulag as the Crucible of Russia's 21st-Century System of Punishment, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 16 (3), S. 681-710
Pallot, Judith/Katz, Elena (2017): Waiting at the Prison Gate: Women, Identity, and the Russian Penal System, London, New York

1. Tolokonnikowa, Nadja (2016): Anleitung für eine Revolution, München
2. Pallot, Judith (2008): Continuities in Penal Russia: Space and Gender in Post-Soviet Geography of Punishment, in: Lahusen, Thomas/Solomon, Peter H. Jr. (Hrsg.): What is Soviet Now? Identities, Legacies, Memories, Berlin, S. 253; dies. (2015): The Topography of the Spatial Continuity of Penality and the Legacy of the Gulag in Twentieth and Twenty-First Century Russia, in: Laboratorium 7 (1), S. 100
3. Katz, Elena/Pallot, Judith (2010): From Femme Normale to Femme Criminelle in Russia: Against the Past or Towards the Future, in: New Zealand Slavonic Journal 44, S. 123-125
4. Moran, Dominique/Pallot, Judith/Piacentini, Laura (2009): Lipstick, lace, and longing: constructions of femininity inside a Russian prison, in: Environment and Planning D: Society and Space 27, S. 714; dies. (2013): Privacy in penal space: Women’s imprisonment in Russia. In: Geoforum 47, S. 141-142; Al’pern, Ljudmila (2004): Son i jav’ ženskoj tjur'my, St. Petersburg, S. 25; Zekovnet.ru: Ženščina v tjur'me
5. Omelchenko, Elena (2016): Gender, Sexuality, and Intimacy in a Women’s Penal Colony in Russia, in: Russian Sociological Review 15 (4), S. 86-89 
6. Siehe den Brief von Nadeshda Tolokonnikowa aus dem Lager: Lenta.ru: „Vy teper' vsegda budete nakazany“ 
7. Siehe auch den Beitrag über straffällig gewordene Mütter, denen nach der Entlassung soziale Ablehnung und Hilfeverweigerung entgegenschlägt, was ihre gesellschaftliche Wiedereingliederung sehr schwierig, wenn nicht unmöglich macht: „Und für die Gesellschaft sind sie keine Menschen mehr. Nein, nicht Menschen zweiter Klasse, sondern schlicht keine Menschen“: dekoder.org: „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder“
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Gulag

Der Begriff Gulag steht im weitesten Sinne für das sowjetische Lagersystem und damit für den Terror und den Repressionsapparat, den die kommunistische Partei der Sowjetunion zum Erhalt ihrer Macht aufbaute. GULag ist die Abkürzung für Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager. Diese Verwaltungsstruktur existierte von 1922 bis 1956 und unterstand dem sowjetischen Sicherheitsdienst.

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Ermittlungskomitee

Das Ermittlungskomitee (Sledstwenny komitet/SK) ist eine russische Strafverfolgungsbehörde. Sie gilt als politisch überaus einflussreich und wird häufig mit dem US-amerikanischen FBI verglichen.

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Alexej Nawalny

Alexej Nawalny ist in Haft gestorben. Er wurde in mehreren politisch-motivierten Prozessen zu langjähriger Strafe verurteilt. Aus der Strafkolonie hat er mehrmals über unmenschliche Haftbedingungen berichtet.  

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Archipel Gulag

Archipel Gulag ist das Hauptwerk des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn. Darin wird das menschenverachtende sowjetische Straflagersystem eindrucksvoll beschrieben, weshalb das Werk in der Sowjetunion verboten war und zunächst nur im Ausland erschien. Heute gilt es vor allem als wichtiges Zeitdokument.

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