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Ein Tribunal für Putin

Aufgereiht in Plastiksäcken liegen Opfer willkürlicher Tötungen durch russische Besatzer auf dem Friedhof von Butscha. Ermittler haben sie im April 2022 geborgen, um jedes einzelne Verbrechen nachzuweisen / Foto © IMAGO / ZUMA Press Wire 

Die Liste russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine ist lang. Sie reicht von Folter und Massenmord an der Zivilbevölkerung in Butscha über den Beschuss des Kinderkrankenhauses Ochmatdyt in Kyjiw bis zur Sprengung des Kachowka-Staudamms und ist damit noch lange nicht zu ende. Ermittler und zivilgesellschaftliche Initiativen haben bereits mehr als 140.000 einzelne Taten dokumentiert. Neben dem Tatbestand Verbrechen gegen die Menschlichkeit sehen einige Völkerrechtler auch den Tatbestand des Völkermords als erfüllt an.

Auf das Entsetzen folgt die Frage: Wie können die Aggressoren zur Rechenschaft gezogen werden? Welche Möglichkeiten gibt es, Gerechtigkeit für die Opfer herzustellen und wie lassen sich Lehren für die Zukunft ziehen?  

Die Journalistin Farida Kubangalejewa hat darüber mit zwei ausgewiesenen Experten über diese Frage gesprochen:  

Der Soziologe und Politikwissenschaftler Michail Sawwa (geb. 1964) war in den 1990-er Jahren Beauftragter für Nationalitätenfragen im Gebiet Krasnodar und lehrte er an der Staatlichen Universität des Kubangebiets Politikwissenschaften. 2013 verbrachte er mehrere Monate in Untersuchungshaft, bevor er in einem konstruierten Verfahren wegen Veruntreuung zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt wurde. 2016 gewährte ihm die Ukraine Asyl. Als Mitarbeiter des Center for Civil Liberties in Kyjiw setzt er sich heute für die Dokumentation und Verfolgung russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine ein. 

Ilja Schablinski (geb. 1962) lehrte als Professor für Verfassungsrecht an der Higher School of Economics in Moskau. In den 1990er Jahren war er an der Ausarbeitung der russischen Verfassung beteiligt. Von 2012 bis 2019 war er Mitglied im Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten. Im Juni 2024 setzte das Justizministerium Schablinski auf die Liste der „ausländischen Agenten“.

 

Michail Sawwa, Farida Kurbangalejewa, Ilja Schablinski / Montage nemoskva.net
Источник Goworit Nemoskwa

Farida Kurbangalejewa: Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat bisher Haftbefehle gegen eine Handvoll offizieller Vertreter der Russischen Föderation erlassen, die an Kriegsverbrechen in der Ukraine beteiligt sind: Präsident Wladimir Putin, die Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa, Generalstabschef Waleri Gerassimow sowie den ehemaligen Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Viele Beobachter ohne professionellen Hintergrund, auch ich, fragen sich: Warum sind es so wenige Personen, die der IStGH zumindest hier zur Verantwortung zieht? Und warum wurden gerade sie ausgewählt? 

Michail Sawwa: Es sind noch ein paar mehr. Der IStGH hat auch Haftbefehle gegen den Kommandeur der Schwarzmeerflotte und den Kommandeur der Langstrecken-Luftwaffe Russlands erlassen. Grund dafür war der gezielte Beschuss ziviler Infrastruktur der Ukraine im Winter 2023. Damals wurde das System der Energieversorgung zerstört. Genau das hat die russische Regierung auch jetzt wieder vor. 

Warum gerade diese Personen? Der Internationale Strafgerichtshof stellt erst einen Haftbefehl aus, wenn sehr überzeugende Beweise für ein Verbrechen vorliegen. Bei der Anklage gegen den ehemaligen Vizepräsidenten des Kongo hat er 5000 Zeugen vernommen. Erst wenn jeder Zweifel ausgeräumt ist, wird er tätig. Diese sechs Leute haben praktisch selbst bescheinigt, dass sie Kriegsverbrechen begangen haben. Sie haben gegen Artikel acht des Römischen Statuts verstoßen, das für den IStGH in etwa die gleiche Funktion hat wie das Strafgesetzbuch für nationale Gerichte. 

Wladimir Putin und seine „Kinderrechtsbeauftragte“ Maria Lwowa-Belowa sind zwei von insgesamt sechs russischen Staatsbürgern, gegen die der Internationale Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine Haftbefehle ausgestellt hat / Foto © IMAGO/ZUMA Press Wire 

Ilja Schablinski: In der Tat ist die Beweislage in zwei Anklagepunkten sehr klar. Dass Kinder mit ukrainischer Staatsbürgerschaft aus dem Land gebracht und an Familien in verschiedenen Regionen Russlands verteilt wurden, haben Lwowa-Belowa und auch Putin offen gesagt. Und zum Beschuss der ukrainischen Energieversorgungs-Infrastruktur haben sich sowohl Schoigu als auch Gerassimow ziemlich ausführlich geäußert. Auch Putin selbst hat sich ja damit gebrüstet, dass Angriffe auf Kraftwerke verübt werden. Ich denke, das war die Grundlage, auf der der Ankläger des IStGH tätig geworden ist. Die Liste der Kriegsverbrechen, für die auch weitere Verdächtige zur Verantwortung gezogen werden könnten, ist natürlich viel länger. 

Maria Lwowa-Belowa beim Besuch eines Kinderheims im russisch besetzten Schachtarsk im Gebiet Donezk im August 2023 / Foto © IMAGO/SNA 

Michail Sawwa: Zum einen wird diese Liste ergänzt werden. Es werden bereits einige weitere Fälle geprüft. Zum anderen ist der IStGH nicht die einzige internationale Instanz, vor der im Ukrainekrieg begangene Kriegsverbrechen verhandelt werden. Für das größte Verbrechen – den Beginn des Angriffskriegs und den Überfall auf ein Nachbarland – ist der IStGH beispielsweise nicht zuständig. Dafür muss ein internationaler Sondergerichtshof eingerichtet werden. 

 

Farida Kurbangalejewa: Und der muss nicht unbedingt in Den Haag angesiedelt sein, richtig? 

Michail Sawwa: Genau. Er kann überall tätig sein – in einem Land oder auch in mehreren Ländern. Das hängt davon ab, wie er letztendlich aussehen wird. Bisher sind nur sehr allgemeine Planungen bekannt. In einer Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates heißt es zum Beispiel, dass ein internationaler Sondergerichtshof erforderlich ist, ohne dass das näher ausgeführt wird. In der Ukraine ist ein Konzept erarbeitet worden, das sich damit befasst, was im Einzelnen getan werden soll, um die Schuldigen für das Verbrechen des militärischen Angriffs zur Rechenschaft zu ziehen. Auch dort steht, dass unbedingt ein internationaler Sondergerichtshof berufen werden muss. Und es werden auch einige konkrete Angaben gemacht. 

Ich dokumentiere seit dem 3. März 2022 Kriegsverbrechen. Ich weiß jetzt, dass ich einen Traum und ein Ziel habe, das ich bis ans Ende meines Lebens verfolgen werde: Ich werde darauf hinarbeiten, dass die Leute, die das getan haben, diejenigen, die ihnen den Befehl erteilt haben und alle anderen Beteiligten ins Gefängnis kommen

Farida Kurbangalejewa: Wie wichtig ist es für die Ukrainer – und für Sie persönlich – dass dieser Gerichtshof in der Ukraine selbst tätig ist? 

Michail Sawwa: Er wird mit Sicherheit hier tätig sein, zumindest teilweise. Die Ermittler werden hier arbeiten. Was die Richter betrifft, weiß ich es nicht, sie müssen sich nicht unbedingt in der Ukraine befinden. Entscheidend ist für uns etwas anderes: Ich dokumentiere seit dem 3. März 2022 Kriegsverbrechen. Dabei bin ich auch in einem Kampfgebiet im besetzten Teil der Oblast Kyjiw gewesen, wo vor meinen Augen Menschen umgebracht worden. Ich weiß jetzt, dass ich einen Traum und ein Ziel habe, das ich bis ans Ende meines Lebens verfolgen werde. Ich werde darauf hinarbeiten, dass die Leute, die das getan haben, diejenigen, die ihnen den Befehl erteilt haben und alle anderen Beteiligten ins Gefängnis kommen, zur Abschreckung für andere Täter.

Das Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag / Foto © IMAGO/Dreamstime 

Ilja Schablinski: Ich hoffe darauf, dass die Beteiligten an der Entfesselung dieses furchtbaren, blutigen Angriffskriegs auch in Russland zur Verantwortung gezogen werden. Und zwar wegen der Einleitung des Krieges, für die der IStGH nicht zuständig ist. Ob es dazu kommt, ist ungewiss. Aber ich stimme denen zu, die sagen, dass man darauf vorbereitet sein muss. Man braucht eine Rechtsgrundlage. Im Strafgesetzbuch Russlands gibt es einschlägige Artikel: Nr. 353, „Planung, Vorbereitung und Einleitung eines Angriffskriegs“ und Nr. 354, „Öffentliche Aufrufe zur Durchführung eines Angriffskriegs“ – denken Sie an die russischen Propagandisten. Ich will, dass diejenigen, die letztlich die Schuld am gewaltsamen Tod hunderttausender ukrainischer Bürger und auch meiner russischen Landsleute tragen, auf Grundlage dieser Artikel zur Rechenschaft gezogen werden. Das ist das schlimmste Verbrechen überhaupt. 

Der Internationale Strafgerichtshof und ein internationaler Sondergerichtshof werden tätig, wenn eine Rechtsprechung auf nationaler Ebene nicht möglich oder nicht gewollt ist. In Ruanda etwa wollten die neuen Machthaber nicht, dass der Prozess im eigenen Land stattfindet, und haben sich an den IStGH gewandt. In Russland gibt es verfassungsrechtliche Einschränkungen, beispielweise dürfen russische Staatsbürger nicht an andere Staaten ausgeliefert werden. Aber das lässt die Möglichkeit offen, dass Personen, die Kriegsverbrechen befohlen und begangen haben, unter einer anderen Regierung verurteilt werden und ins Gefängnis kommen. 

 

Farida Kurbangalejewa: Auf welcher Hierarchieebene beginnt die Verantwortung für Kriegsverbrechen? Wenn der Kommandeur der Schwarzmeerflotte den Befehl erteilt, Raketen abzufeuern, ist er offensichtlich schuldig. Aber wie ist es mit demjenigen, der einfach auf den Knopf drückt, und kurz darauf schlägt eine Rakete im Kinderkrankenhaus Ochmatdyt ein? Er führt ja nur einen Befehl aus.

Am 8. Juli 2024 trifft ein russischer Marschflugkörper die  Kinderklinik Ochmatdyt in Kyjiw. Eltern und Pfleger bergen die Patientinnen aus der Krebsstation. Die Vereinten Nationen stufen den Angriff als Kriegsverbrechen ein / Foto © IMAGO/ZUMA Press Wire 

Wer das Ziel der Rakete kennt und auf den Knopf drückt, muss sich darüber im Klaren sein, dass er einen verbrecherischen Befehl ausführt

Michail Sawwa: Trotzdem macht er sich schuldig. Es gibt den Begriff des „verbrecherischen Befehls“. Das ist alles ziemlich detailliert beschrieben und gehört in guten Armeeeinheiten zur Ausbildung der Soldaten. Wer das Ziel der Rakete kennt und auf den Knopf drückt, muss sich darüber im Klaren sein, dass er einen verbrecherischen Befehl ausführt. Es gibt noch kompliziertere Situationen: Wenn Untergebene ein Kriegsverbrechen begehen und ihr Vorgesetzter nichts davon weiß, ist er trotzdem schuldig. Das ergibt sich aus dem humanitären Völkerrecht, das vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz kodifiziert wurde. Ein Artikel besagt, dass ein Vorgesetzter sich für Kriegsverbrechen seiner Untergebenen verantworten muss, wenn er davon einfach nur hätte wissen können. Der Kreis der Schuldigen ist also sehr viel weiter gefasst, als man im Kreml jetzt meint. 

 

Farida Kurbangalejewa: Hierzu wird auch eine andere Auffassung vertreten: Russische Militärangehörige, die ein Kriegsverbrechen begangen haben, sind Kombattanten. Sie führen die Befehle ihrer Offiziere aus und tragen selbst keine Verantwortung für ihr Tun. 

Ilja Schablinski: Das muss das Gericht klären. Es gibt jedenfalls den Begriff des verbrecherischen Befehls, und im Völkerrecht gibt es das Kriterium der Offensichtlichkeit: Der Befehlsempfänger muss erkennen können, dass er dazu angeleitet wird, eine offensichtlich widerrechtliche Tat zu begehen. Der Befehl, Verwundete, Gefangene oder Zivilpersonen zu erschießen, ist ganz offenkundig illegal. In solchen Fällen können diejenigen, die ihn unmittelbar ausführen, zur Rechenschaft gezogen werden. Aber richtig, grundsätzlich können einfache Soldaten sich darauf berufen, dass sie nicht selbst entschieden haben, einen bewohnten Ort anzugreifen, sondern einen Befehl ausführten. In Butscha haben allerdings, soweit sich das jetzt beurteilen lässt, gewöhnliche Militärangehörige gewütet. Vielleicht auf Befehl von Offizieren, vielleicht auch nicht. Aber wer hat sie gezwungen, eine ganze Familie zu erschießen? Den Bürgermeister eines kleinen Ortes, die ganze Familie? Wer hat sie gezwungen, Dutzenden von Zivilisten die Hände zu fesseln und sie dann mit Nackenschüssen zu töten? Es gibt auch Zeugenaussagen zu den Vergewaltigungen und Morden. Man kann mit Grund vermuten, dass es einfache Soldaten waren, die diese Verbrechen begingen. Aber es kann nicht sein, dass ihr niedriger Dienstgrad sie von der Verantwortung entbindet. 

Nach der Befreiung der Stadt Isjum im Gebiet Charkiw haben Ermittler Leichen von Bewohnern exhumiert. Einige wurden von den Besatzern zu Tode gefoltert / Foto © IMAGO/Photo News 

Die russischen Propagandisten wären gut beraten, sich die Akten aus den Strafverfahren zum Genozid in Ruanda genau anzusehen

Farida Kurbangalejewa: Ilja, Sie haben die russischen Propagandisten erwähnt und gesagt, dass auch sie sich für die Verbrechen verantworten sollten. Auch hier gibt es das Problem, dass sie in gewisser Weise Befehlsempfänger sind. Ich weiß, dass viele dieser Leute meinen, es gehöre eben zu ihrem Beruf, das zu sagen, was ihnen aufgetragen wird. Und wie realistisch ist es überhaupt, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden? 

Michail Sawwa: Zunächst einmal: Das Argument „Wir machen das nicht freiwillig, sondern beruflich“ wird ihnen nicht weiterhelfen. Anders als Kriegsverbrecher können sie sich ja nicht einmal auf offizielle Anweisungen berufen, die ihnen befahlen, sich genau so zu äußern. Ihre Worte sind ihr eigenes Werk. Dass man dafür tatsächlich ins Gefängnis kommen kann, zeigt das Strafverfahren gegen Mitarbeiter des ruandischen Senders „Radio-Télévision Libre des Mille Collines“. Während des Genozids in Ruanda 1993 hatte dieser Sender zum Mord an den Tutsi aufgerufen. Das geschah in kaschierter Form. Das Volk der Tutsi wurde nicht ausdrücklich genannt, sondern es hieß beispielsweise: Man muss die Kakerlaken töten. Aber das Gericht wies ihnen nach, dass damit die Angehörigen dieser ethnischen Gemeinschaft gemeint waren und dass es sich um konkrete Mordaufrufe handelte. Sie erhielten Gefängnisstrafen von bis zu 25 Jahren. Einige kommen gerade wieder frei, sie sind inzwischen alt geworden. Andere wurden erst sehr viel später aufgespürt und festgenommen, und manche werden bis heute gesucht. Die russischen Propagandisten wären gut beraten, sich die Akten dieses Strafverfahrens genau anzusehen. 

Ilja Schablinski: Wer Massenmord, Aggression, Sadismus und die Zerstörung von Städten gefeiert hat, muss sich natürlich dafür verantworten. Ich erinnere mich, wie Wladimir Solowjow die Ruinen von Marjinka oder Awdijiwka zeigte und orakelte: „Dieses Schicksal erwartet auch Berlin.“ Es gibt frappierende Beispiele für entgrenzte, gehässige Propaganda. Natürlich ist uns allen klar, dass es einen Regimewechsel braucht, damit diese Terrorpropagandisten zur Rechenschaft gezogen werden können. Meiner Meinung nach ist es letztlich Sache der russischen Gerichte, sich mit diesen Leuten zu befassen. 

Der TV-Propagandist Wladimir Solowjow während eines Auftritts bei einer Rüstungsmesse in Moskau im September 2024 / Foto © IMAGO/Russian Look 

Im Moment gibt die gesamte Richterschaft ein klägliches Bild ab. Das ist womöglich die beschämendste Seite der Geschichte des heutigen Russlands. Es bedeutet, dass nicht nur Soldaten Russlands als Eroberer und Marodeure auftreten, sondern alle staatlichen Strukturen gehorsam den Willen des Diktators ausführen und ihren Teil der blutigen und schmutzigen Arbeit verrichten. 

Aber wir wissen ja aus der Geschichte, dass dieselben Leute anders entscheiden, wenn sich die politischen Verhältnisse ändern, wenn die Angst fort ist und sie halbwegs frei handeln können. Auch nach dem Ende der Stalin-Ära hat sich die Rechtsprechung ja geändert, vielleicht nicht sehr stark, aber immerhin. Man muss die Propagandisten nach Artikel 354 wegen öffentlichen Aufrufs zur Einleitung dieses Angriffskriegs verurteilen und das Strafmaß jeweils individuell festlegen. Einige halten sich zurück, sie überlassen „Experten“ das Wort und verzichten nach Möglichkeit auf eigene Aufrufe und Einschätzungen. Andere treten aggressiv und gehässig auf. Entsprechend größer ist auch ihre Verantwortung. 

Die Gerechtigkeit kann nicht warten, bis die Massen in Russland endlich aufwachen und dieses Regime stürzen

Michail Sawwa: Ich stimme Ilja zu, es wäre sehr gut, wenn diese Leute von russischen Gerichten verurteilt würden. Aber wir wissen nicht, ob das passieren wird und wann, und es genügt nicht, nur auf einen politischen Regimewechsel in Russland zu hoffen. Man muss bereits jetzt über diese Leute zu Gericht sitzen, und die Prozessvorbereitungen laufen schon. Ich meine die Einrichtung eines internationalen Sondergerichtshofs für das Verbrechen des Angriffskriegs. Er muss ein sehr breites Spektrum von Verbrechen untersuchen, von den Initiatoren des Krieges bis zu den eben erwähnten Propagandisten. Das ist letztlich doch vor allem ein Fall für ein internationales Gericht. Die Gerechtigkeit kann nicht ewig warten. Wir können und werden nicht warten, bis die Massen in Russland endlich aufwachen und dieses Regime stürzen oder bis die inneren Widersprüche der Elite kulminieren. 

Ilja Schablinski: Ja, da stimme ich zu: Wenn der Internationale Strafgerichtshof jetzt etwas tun kann, zum Beispiel über ein Mandat entscheiden, Anklage erheben und die Anklagepunkte genau formulieren, dann muss das getan werden. Wenn man auf einen Regimewechsel wartet, schenkt man diesen Leuten Zeit, in der sie einigermaßen sorgenfrei leben können. Nein, sie dürfen nicht vergessen, dass sie furchtbare Verbrechen begehen, dass ihre Worte und Taten ungeheure Opfer nach sich gezogen haben, zerstörte Städte, zerstörte Schicksale. Es muss ihnen schon jetzt ständig bewusst sein. 

 

Farida Kurbangalejewa: Der historischen Abfolge nach würde also wohl zunächst im Ausland ein Prozess gegen russische Kriegsverbrecher stattfinden, und erst später wäre ein Verfahren in Russland selbst möglich – ich würde sogar sagen, nicht bei einem Zusammenbruch des politischen Regimes, sondern im Fall einer russischen Niederlage im Eroberungskrieg gegen die Ukraine. 

Ilja Schablinski: Wohl doch eher bei einem Regimewechsel. Unter einer russischen Niederlage würde ich den erzwungenen Abzug der russischen Truppen vom Territorium der Ukraine verstehen. In diesem Fall könnte sich das Regime leider durchaus halten. 

 

Farida Kurbangalejewa: Viele Experten meinen, dass nur eine militärische Niederlage Russlands zum Zusammenbruch des Regimes führen kann. 

Ilja Schablinski: Das hoffe ich auch. Allerdings war beispielsweise Saddam Hussein nach seiner Niederlage noch 13 Jahre im Amt. Aber generell ist diese Annahme richtig. Solange Russland nicht mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusammenarbeitet, wird ein Prozess im vollen Sinn des Wortes kaum möglich sein. Aber ich denke, dass man zumindest die Anklageschriften ausfertigen muss. 

 

Farida Kurbangalejewa: Kann man das Verfahren gegen die sechs eingangs erwähnten Kriegsverbrecher schon einleiten, bevor man ihrer habhaft wird? 

Michail Sawwa: Nein, das wird nicht passieren. Der Internationale Strafgerichtshof führt keine Verfahren gegen Personen durch, die nicht im Sitzungssaal anwesend sind. Deshalb sind die Haftbefehle ausgestellt worden. Vielleicht dauert es sehr lange, bis man ihrer habhaft wird, vielleicht wird es auch nie dazu kommen, aber bis es so weit ist, wird der IStGH auch kein Urteil fällen. Ich möchte aber noch einmal daran erinnern, dass der IStGH  nicht die einzige internationale Gerichtsinstanz ist. Im Moment geht es um die Berufung eines internationalen Sondergerichtshofs, der über das Verbrechen des Angriffskriegs urteilt. Dabei kann man sich an anderen Prinzipien orientieren und in seinen Statuten beispielsweise vorsehen, dass das Gericht auch in Abwesenheit eines Angeklagten verhandeln kann – dass es den Fall untersucht und das Urteil spricht, bevor der Verbrecher in den Gerichtssaal gebracht wird. Bisher ist noch nicht bekannt, wie das genau aussehen wird. 

Der internationale Charakter eines Sondergerichtshofs sollte durch eine Resolution der UN-Generalversammlung bekräftigt werden statt  im Sicherheitsrat

Farida Kurbangalejewa: Wenn die russischen Kriegsverbrecher – in Abwesenheit oder Anwesenheit – von einem internationalen Sondergerichtshof verurteilt werden, warum ist es dann Ihrer Meinung nach so wichtig, sie zusätzlich noch in Russland zu verurteilen? Weil es symbolisch bedeutsam ist oder aus praktischen Erwägungen heraus? 

Ilja Schablinski: Wenn sie in Russland verurteilt werden, kommen sie wirklich ins Gefängnis. Wenn man sie in Abwesenheit verurteilt, werden sie einfach feixen und Hohn und Spott verbreiten. Das hat dann wirklich nur symbolische Bedeutung. Ich halte es für möglich, ein Tribunal einzurichten, aber man muss gut überlegen, auf welcher Rechtsgrundlage das geschehen soll. Das Sondertribunal zu Jugoslawien wurde 1993 durch eine einstimmig verabschiedete Resolution des UN-Sicherheitsrates geschaffen. Russland hat diese Resolution damals sehr engagiert unterstützt. In der jetzigen Situation ist es nicht möglich, einen Gerichtshof auf diesem Weg zu berufen. Also muss es über ein anderes Verfahren geschehen. 

Michail Sawwa: Ein solches Verfahren gibt es. Diese Sondertribunale werden durch internationale Abkommen geschaffen. Der Internationale Strafgerichtshof ist übrigens auch über ein solches Abkommen zustande gekommen. Wir ukrainischen Experten sind der Auffassung, dass der internationale Charakter eines Sondergerichtshofs durch eine Resolution der UN-Generalversammlung bekräftigt werden sollte, die dem UN-Generalsekretär die Vollmacht erteilt, mit verschiedenen Ländern eine Vereinbarung über den Beitritt zu einem solchen Gerichtshof abzuschließen. Die Resolution würde also nicht im Sicherheitsrat verabschiedet, wo Russland ein Vetorecht hat, das es natürlich in Anspruch nehmen würde, sondern per Mehrheitsbeschluss in der UN-Generalversammlung. Das ist auch eine ziemlich schwierige Aufgabe, aber doch eine lösbare. 

Radovan Karadžić bei einer Anhörung vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag im Juli 2008. 2016 verurteilte das UN-Kriegsverbrechertribunal den ehemaligen Präsidenten der Republika Srpska  zu 40 Jahren Haft – unter anderem für den Völkermord in Srebrenica mit 8000 Toten im Jahr 1995 / Foto © IMAGO/Xinhua 

Ilja Schablinski: Eine Mehrheit zu beschaffen ist möglich. Bei dieser Sache kann man auf die Generalversammlung hoffen. 

Diese Leute müssen nach ihrer Verurteilung so untergebracht werden, dass sie die restlichen Jahre ihres kläglichen Lebens unter adäquaten, menschlichen Bedingungen verbringen können 

Farida Kurbangalejewa: Ist es von Belang, wo die Kriegsverbrecher ihre Strafe verbüßen? Julija Nawalnaja hat im Juli dieses Jahres in einem Posting erklärt, sie sollten nicht in einer geheizten Zelle mit Fernseher in Den Haag sitzen, sondern in einer zwei mal drei Meter großen Zelle wie der, in der Alexej Nawalny eingesperrt war und malträtiert wurde. Es ist ja wirklich so, dass es in europäischen Gefängnissen, behaglicher und komfortabler zugeht. Wer dort einsitzt, muss keine besonderen Unannehmlichkeiten fürchten. Und wir alle haben eine Vorstellung davon, wie es in einem typischen russischen Gefängnis aussieht. 

Michail Sawwa: Ich habe in einer drei mal drei Meter großen Zelle gesessen. Und zwar nicht allein, es war eine Zweierzelle. Das ist wirklich unangenehm, aber das Schlimmste ist der Freiheitsentzug – dass du hinter Gittern bist und keine eigenen Entscheidungen treffen kannst. Ich bin für eine strenge, aber humane Bestrafung. Diese Leute müssen nach ihrer Verurteilung – und die Urteile werden vermutlich hart ausfallen, sie haben sich schon lebenslange Freiheitsstrafen verdient – so untergebracht werden, dass sie die restlichen Jahre ihres kläglichen Lebens unter adäquaten, menschlichen Bedingungen verbringen können. 

 

Farida Kurbangalejewa: Diese Aussage dürfte bei vielen Ukrainern auf Unverständnis stoßen. 

Michail Sawwa: Ja, aber als Menschenrechtsaktivist kann ich in dieser Frage keinen anderen Standpunkt vertreten. Deshalb ist es mir gleichgültig, wer mich wie versteht. Das für mich eine Sache der Überzeugung. 

Ilja Schablinski: Ich möchte daran erinnern, dass Michail selbst eine schlimme Erfahrung gemacht hat. Er hat das Strafvollzugssystem Russlands unter verschiedensten Bedingungen von innen erlebt. Schon die Beförderung in dem Spezialfahrzeug, mit dem die Angeklagten aus dem Gefängnis ins Gericht gebracht werden, ist eine Tortur. Ich habe mir so einen Transporter nur mal angesehen. Aber Michail hat dort mehrere Stunden verbracht, und zwar nicht nur einmal. Oder in Krasnodar in brütender Hitze in einer Zelle zu sitzen. Ich kenne die auch nur von Besuchen. Michail hingegen „saß auch mal im Kerker“, um mit Brodsky zu sprechen. 

 

Farida Kurbangalejewa: Besteht denn die Möglichkeit, dass sie beispielsweise in der Ukraine inhaftiert sein werden? Nach Ansicht vieler Menschen dort wäre das nur logisch, konsequent und gerecht. 

Ilja Schablinski: Der Internationale Strafgerichtshof entscheidet, in welchem Land die von ihm verurteilten Personen ihre Strafe verbüßen. Das betreffende Land musss den Anerkennungsvertrag für das Römische Statut unterzeichnet haben. Es gibt ein paar Dutzend Länder, die die Bedingungen erfüllen, die Entscheidung liegt beim Strafgerichtshof. 

 

Farida Kurbangalejewa: Noch einmal zum Schutz der Rechte der Gefangenen und dem humanen Umgang mit ihnen: Wie soll kontrolliert werden, dass sie nicht gefoltert und geschlagen werden? Genau das passiert im russischen Strafvollzugssystem ja immer wieder. 

Michail Sawwa: Die Gewähr dafür übernimmt das Land, in dem der Prozess stattfindet. Und die Leute, die von einem künftigen internationalen Sondergerichtshof oder dem bereits aktiven Internationalen Strafgerichtshof verurteilt werden, verbüßen ihre Strafe ja in Ländern, wo es bereits ein stabiles System zur Kontrolle eines humanen Umgangs mit Gefangenen und Untersuchungshäftlingen gibt. Es ist also gewährleistet, dass dort keine Folter stattfindet. Dass sie von sehr vielen Leuten verflucht werden – davor kann sie allerdings niemand beschützen. 

Ilja Schablinski: In Den Haag selbst gibt es ein Sondergefängnis mit etwa 80 Plätzen, wenn ich mich recht entsinne. Dort sind überall Videokameras installiert. Die ständige Kontrolle gehört zu den Vorkehrungen, die gewährleisten sollen, dass die Untersuchungshäftlinge und Inhaftierten keinen illegalen Maßnahmen ausgesetzt werden. Das Weitere hängt dann davon ab, in welchem Land die Verurteilten einsitzen werden. In Europa wird streng kontrolliert, in Russland herrscht völlige Willkür. Aber es gibt zurzeit wichtigere Fragen als die, wo diese Leute hinkommen werden. 

 

Farida Kurbangalejewa: In wessen Namen wird die Anklage vorgebracht? Im Namen der Ukraine, also des Landes, das unter der Aggression Russlands gelitten hat, oder im Namen der internationalen Gemeinschaft? 

Michail Sawwa: Im Namen der internationalen Gemeinschaft. Im Namen der Ukraine sind bereits Urteile wegen Kriegsverbrechen gegen russische Besatzer ergangen, die in Kriegsgefangenschaft gerieten. Solche Verfahren werden in der Ukraine durchgeführt. Aber meist geht es dabei um die Tötung von Zivilpersonen, also Nichtkombattanten. Wenn wir vom Verbrechen des Angriffskriegs selbst sprechen, vom Prozess gegen die oberste Führung Russlands, werden Anklage und Urteil hier fraglos im Namen der internationalen Gemeinschaft ergehen. 

Ilja Schablinski: Genau. Als der Sondergerichtshof für das ehemalige Jugoslawien eingerichtet wurde, sagte der Vertreter Russlands sogar ausdrücklich, es handle sich um eine Einrichtung ganz neuer Art, durch die nicht im Namen der Sieger über die Verlierer entschieden wird, sondern im Namen der internationalen Gemeinschaft. So ist es, und so soll es auch sein. 

Kriegsverbrechen müssen möglichst sofort dokumentiert werden, weil die Spuren im Kriegsgeschehen sehr schnell wieder vernichtet werden

Farida Kurbangalejewa: Michail, bitte erzählen Sie ausführlicher davon, wie Kriegsverbrechen dokumentiert werden. Angenommen, ein Gebiet war von Russland besetzt und wurde dann zurückerobert. Fahren dann Menschenrechtsaktivisten dorthin und sammeln Informationen? 

Michail Sawwa: Das erste Mal, dass ich ein Kriegsverbrechen dokumentiert habe, war am 3. März 2022 auf dem Gebiet des besetzten Teils der Oblast Kyjiw. Ich beobachtete aus einem Abstand von etwa 400 Metern, wie sich eine russische Militärkolonne über die Fernstraße von Schytomyr auf Kyjiw zubewegte, angeführt von einem Schützenpanzer. Zwei Zivilautos, normale PKWs, fuhren von Butscha her auf die Fernstraße. Sie mussten sie überqueren, um ins nächste Dorf zu gelangen, von wo aus eine freie, nicht von den Russen besetzte Straße nach Kyjiw führte. Der Schützenpanzer feuerte einfach aus seiner Kanone auf die Autos; mehrere Schüsse aus einer 30-Millimeter-Kanone. Als die Kolonne vorbeigezogen war, konnten wir aus der Nähe fotografieren. In jedem Auto waren drei Menschen umgekommen, nur noch die Beine waren zu sehen, die Körper waren von den Geschossen zerfetzt worden. Wir erkannten, dass in jedem der Autos ein Mann am Steuer gesessen hatte und eine Frau und ein Kind mit im Wagen gewesen waren. Wir fanden die Autokennzeichen und fotografierten sie, und so konnten wir die Identität eines der beiden Fahrer feststellen. Es war ein Freiwilliger aus Kyjiw, der einfach nur Menschen herausholen und retten wollte. 

Ein paar Stunden später schob die nächste russische Kolonne die Autos aufs Feld, in den Straßengraben, und walzte sie nieder. Es blieben keine Spuren von dem Verbrechen. Kriegsverbrechen müssen möglichst sofort dokumentiert werden, weil die Spuren im Krieg nicht lange erhalten bleiben; sie werden im Kriegsgeschehen sehr schnell wieder vernichtet. Wenn wir den Vorfall nicht festgehalten hätten, hätte niemand gewusst, wo man diese Leute suchen soll. Es blieb nicht einmal Material für ein genetisches Gutachten. 

Im Dorf Berwyzja in der Region Kyjiw sichern Ermittler nach dem Abzug der russischen Armee im April 2022 Munitionsreste / Foto © IMAGO/NurPhoto 

Auf jeden ukrainischen Ermittler, der sich mit diesen Dingen beschäftigen muss, entfallen einige tausend Fälle von verschwundenen Personen. Die Ermittler kommen bei diesem Ausmaß an menschlichem Leid einfach nicht hinterher 

Aber das, wovon Sie gesprochen haben, findet auch statt: Befragungen der Opfer und Zeugen von Verbrechen nach dem Ende der Kampfhandlungen. Diese wichtige Aufgabe muss von zivilgesellschaftlichen Organisationen übernommen werden, weil es dafür nicht genug offizielle Kapazitäten gibt. Auf jeden ukrainischen Ermittler, der sich mit diesen Dingen beschäftigen muss, entfallen einige tausend Fälle von verschwundenen Personen. Die Ermittler kommen bei diesem Ausmaß an menschlichem Leid einfach nicht hinterher. Deshalb werden für den ersten Schritt, die Dokumentation der Verbrechen, Experten aus der Zivilgesellschaft benötigt. Es braucht eine geschützte Datenbank, wie wir sie haben, und die offiziellen Vertreter der Strafverfolgungsbehörden müssen darauf zugreifen können. 

 

Farida Kurbangalejewa: Von wie vielen Kriegsverbrechen lässt sich bis jetzt mit Bestimmtheit sprechen? Dass die tatsächliche Zahl höher liegt als die der dokumentierten Verbrechen, ist klar. 

Michail Sawwa: Etwa 140.000. 

 

Farida Kurbangalejewa: Entsetzlich. Um welche Art von Verbrechen handelt es sich im Wesentlichen? 

Michail Sawwa: Bei einem Großteil handelt es sich um Angriffe auf zivile Infrastruktur. Im Gebiet um Kyjiw habe ich solche Vorgänge im März 2022 praktisch täglich dokumentiert. Dorfnachbarn haben mich angerufen und gesagt: „Hier bei uns hat es ‚gehagelt‘, halte das bitte fest.“ Bei diesen Fällen ist meist niemand zu Schaden gekommen, es wurden nur Gebäude oder Straßen zerstört. Hier muss womöglich nicht in jedem einzelnen Fall ein Strafverfahren eingeleitet werden, die Opfer werden einfach entschädigt. 

Aber es gibt auch sehr viele Morde, bewusste Morde, bei denen die Opfer zuvor gequält wurden wie in Butscha. Ich wohne in der Nähe und habe die Verbrechen dort dokumentiert. Das war gezielter Mord. Und es gibt auch ziemlich viele sexuelle Gewaltverbrechen. 

Oft handelt es sich auch um Ökozid, die bewusste Schädigung der Natur. Die Zerstörung des Wasserkraftwerks in Kachowka ist zum Beispiel ein furchtbarer Fall von Ökozid, der für unsere Region ziemlich neu ist. So etwas hat es in Europa lange nicht gegeben. Aber man soll nicht denken, dass es das einzige derartige Verbrechen ist. 

Nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms am 6. Juli 2023 versinken weite Teile der Oblast Cherson in den Fluten / Foto © IMAGO/NurPhoto 

Farida Kurbangalejewa: Haben Sie eine Erklärung für die Grausamkeit der russischen Armee? Die Erkenntnis, wozu sie fähig ist, hat weltweit Entsetzen ausgelöst. 

Michail Sawwa: Ja. Ich bin eigentlich Experte für Strafverfolgung aus politischen Motiven. Diese Kompetenz hat sich als sehr nützlich erwiesen, weil ich unter anderem Gutachten zu den Gründen dieser Grausamkeit erstellt habe. In Butscha habe ich etwas aufgezeichnet, was wahrscheinlich überrascht. Die Ortsbewohner sagten mir: „Verstehst du, wir haben diese Leute nicht als Feinde gesehen. Sie unterscheiden sich äußerlich nicht von uns. Sie sprechen auch Russisch.“ Das Gebiet um Kyjiw ist weitgehend russischsprachig. Deshalb fühlte man sich dort nicht in Gefahr. Trotzdem haben die Soldaten gemordet. Natürlich mussten wir eine Erklärung dafür finden. Sie sind durch die Z-Ideologie, die Kriegsideologie des „Russki Mir“ auf das bewusste Morden vorbereitet worden. 

Die Ukrainer sind dehumanisiert worden, das heißt, sie sind für die Besatzer keine Menschen. Genauso war es übrigens bei den Soldaten der Wehrmacht in Nazideutschland. Erst kam die Dehumanisierung, dann folgten die Morde und anderen Verbrechen. In dem Dörfchen Andrijiwka bei Makariw, ebenfalls in der Kyjiwer Oblast, habe ich Anfang April, nachdem es befreit worden war und von den Häusern auf der Hauptstraße nur noch die Schornsteine standen, noch eine erstaunliche Sache festgehalten. Die russischen Soldaten nahmen den Ortsbewohnern die Autos weg und malten ein großes V darauf. In unserer Region war es kein Z, sondern ein V. Dann fuhren sie die Autos einfach kaputt, setzten sie gegen den Zaun oder versenkten sie im See. Wenn man am Ufer entlangging, war da alle fünf Meter ein versenktes Auto. einfach so. Warum? Sie wollten demonstrieren, dass sie die Oberhand haben. Sie wollten zeigen, was sie können, ihre Überlegenheit beweisen und alles, was ihnen einfiel, war tumbe Gewalt. 

 

Farida Kurbangalejewa: Gibt es bei Kriegsverbrechen mildernde oder erschwerende Umstände? 

Ilja Schablinski: Das werden die gleichen sein wie in den nationalen Strafgesetzbüchern. Ein mildernder Umstand wäre, wenn der Angeklagte den Beweis erbringen kann, dass er körperlich oder psychisch gezwungen wurde, das Verbrechen zu begehen und ihm andernfalls der Tod gedroht hätte. Oder wenn er aktiv an der Aufklärung des Verbrechens mitwirkt. Erschwerende Umstände gibt es viele, was lässt sich dazu im Einzelnen sagen? Die Fälle, von denen Michail gerade erzählt hat, Mord an zwei oder mehr Menschen, Mord in Verbindung mit Vergewaltigung und so weiter. Das ist ein sehr weites Feld. 

Es ist eine Frage der Zeit, bis die Täter hinter Gitter kommen. Niemand kann sagen, wie lange es dauern wird. Aber es wird passieren

Farida Kurbangalejewa: Wir alle hier wünschen uns einen Prozess gegen Kriegsverbrecher und reden gerade darüber, wie er zustande kommen könnte. Aber wie realistisch ist es Ihrer Einschätzung nach, zu erwarten, dass die betreffenden Personen vor Gericht gestellt werden und dann wirklich eine Haftstrafe verbüßen? 

Michail Sawwa: Das ist durchaus realistisch. Es ist eine Frage der Zeit. Ich kann im Moment nicht sagen, wie lange es dauern wird, bis sie hinter Gitter kommen, niemand kann das. Aber es wird passieren. Denn sehr viele Leute in der Ukraine, und nicht nur dort, sind äußerst entschlossen und motiviert, das zu erreichen. Wir sind bereit, viele andere Fragen hintanzustellen und einige ganz zu vergessen. Aber wir werden beharrlich, konsequent und über lange Zeit darauf hinarbeiten, dass diese Verbrecher bestraft werden. 

Im Juli 2024 verurteilte ein Schwurgericht in Brüssel den 65-Jährigen Emmanuel Nkunduwimye wegen mehrfachen Mordes und Vergewaltigung, die er 1995 während des Genozids in Ruanda begangen hat – 30 Jahre zuvor / Foto © IMAGO/Belga 

Ilja Schablinski: Putin wird irgendwann sterben. Er achtet peinlich auf seine Gesundheit, auf Reisen begleitet ihn ein ganzer Tross von Ärzten. Er hat große Angst vor Attentaten. Aber ihn erwartet das gleiche Schicksal wie Stalin und die anderen blutigen Diktatoren. Für sehr viele Menschen in Russland ist Putins Ableben die Voraussetzung dafür, offen sagen zu können, was sie über diesen Krieg denken. Der Krieg ist in Verbindung mit dem bösen, niederträchtigen Willen eines einzigen Menschen zu sehen. Putin hat eine Gruppe von Fanatikern um sich geschart, aber die Initiative geht ganz klar von ihm aus. Für Millionen Russen ist das auch ein Wahnsinn. Sehr viele Menschen in Russland würden diese Schmach gerne tilgen, und insofern stimme ich Michail zu. So sieht es im Moment aus. 

 

Farida Kurbangalejewa: Was passiert, wenn Putin stirbt, bevor ein Prozess gegen ihn beginnt – oder Schoigu, Gerassimow oder andere Kriegsverbrecher? Werden sie dann posthum verurteilt? 

Ilja Schablinski: Laut Artikel 24 der russischen Strafprozessordnung ist ein Strafverfahren gegen eine Person einzustellen, wenn sie verstirbt. Es gibt allerdings bereits Ausnahmen; einige Personen sind entgegen dieser Bestimmung postum verurteilt worden, zum Beispiel Sergej Magnitski. In diesen Fällen ging es dem Staat darum, jemanden, der ihm die Maske vom Gesicht reißen wollte, für nachweislich schuldig zu erklären. Bei verstorbenen Tyrannen, Mördern und Schlächtern ist die politische und moralische Beurteilung entscheidend. Sie ist wichtig für ihre Anhänger oder die bösartigen, blutrünstigen Fanatiker, die diesen Krieg propagieren und sich an jedem Mord berauschen. Das Urteil über Stalin haben ja schließlich seine Weggefährten gefällt, und ähnlich war es beim philippinischen Diktator Ferdinand Marcos. In einigen Ländern sind Diktatoren, die Kriege entfesselt haben, verhaftet worden, etwa in Argentinien und Griechenland. Wie es bei uns kommen wird, wissen wir noch nicht. Putin versucht ja offensichtlich, eine Armee von Leuten zu schaffen, die diese Gehässigkeit noch auf Jahre hinaus in sich tragen. 700.000 Mann werden von der Front heimkehren. Putin setzt darauf, dass sie ihn verteidigen werden, weil dieser Krieg ihr Lebensinhalt ist. Und doch gibt es Erfahrungen, die besagen, dass Diktatoren, die so etwas tun, nicht ungestraft davonkommen. 

Michail Sawwa: Wir dürfen auch nicht vergessen, dass das Putin-Regime anomal ist. Als Gegner dieses Regimes müssen wir uns an die Regeln halten. Einen Toten vor Gericht zu verurteilen wäre auch etwas Anomales. Aber denkbar wäre etwa, dass ein internationaler Gerichtshof die Ideologie des Russki Mir verurteilt. Nicht den Menschen selbst, sondern die Idee, die er in die Welt gesetzt hat. 

 

Farida Kurbangalejewa: Putin hat also eine Chance, der Verurteilung durch einen internationalen Gerichtshof zu entgehen? 

Michail Sawwa: Ja, aber nur wenn er vorher stirbt. 

Ich fürchte, dass Russland aus dem Schicksal Deutschlands keine Schlüsse für sich selbst gezogen hat. Ein Teil der Menschen in Russland hat einfach gedacht: „Wir haben recht. Das Dritte Reich war böse, aber unser Reich ist gut, unser Imperialismus ist legitim.“ Sie haben Deutschlands Schicksal als Rechtfertigung des eigenen Imperialismus gesehen 

 

Farida Kurbangalejewa: Worum geht es bei einem Prozess gegen Kriegsverbrecher – ob in Den Haag oder vor einem internationalen Sondergerichtshof – in erster Linie? Um die Bestrafung der Kriegsverbrecher als solche? Oder um eine Lehre für künftige Generationen, damit sich so etwas nie mehr wiederholt? Allerdings waren ja beispielsweise die Nürnberger Prozesse auch als Lehre für die Zukunft gedacht, aber offenbar haben nicht alle diese Lektion gelernt. 

Michail Sawwa: Bei einem solchen Prozess steht immer die Gerechtigkeit im Vordergrund. Es gibt sehr viele Opfer und Hinterbliebene, die wollen, dass die Kriegsverbrecher ihre gerechte Strafe erhalten. Die Gerechtigkeit für die Opfer ist weit wichtiger als die Bestrafung an sich. Und wie Sie ganz richtig gesagt haben, halten diese Prozesse auch Lehren für die Zukunft bereit. Die Nürnberger Prozesse – und ich würde hier auch an die Tokioter Prozesse gegen japanische Kriegsverbrecher erinnern – hatten ungeheuer große Bedeutung. Meiner Einschätzung nach hat sich Japan ein für alle Mal ausgetobt. Genau wie Deutschland. Andere Länder, wo die Vorfahren nicht auf der Anklagebank saßen, haben die Erkenntnisse nicht beherzigt. Aber für sie sind neue Prozesse in Vorbereitung. 

Ilja Schablinski: Die Ideologie muss verurteilt werden. Bei den Nürnberger Prozessen sind bestimmte Aspekte der NS-Ideologie für unrechtmäßig erklärt worden. Heute muss die Ideologie des imperialen russischen Nationalismus verurteilt werden, der lange Zeit, noch vor zehn Jahren, ganz harmlos wirkte. Jetzt hat er sich als blutrünstiges Monster erwiesen. Das muss festgestellt werden. Ich fürchte überhaupt, dass Russland aus dem Schicksal Deutschlands keine Schlüsse für sich selbst gezogen hat. Ein Teil der Menschen in Russland hat einfach gedacht: „Wir haben recht. Das Dritte Reich war böse, aber unser Reich ist gut, unser Imperialismus ist legitim.“ Sie haben Deutschlands Schicksal als Rechtfertigung des eigenen Imperialismus gesehen. Seit dem Amtsantritt des jetzigen Diktators Putin hat der Staat sie dabei unterstützt und ihnen – vor allem in den letzten 15 Jahren – gezielt eingeredet, der russische Imperialismus sei eine Art höhere Existenzform des russischen Staates. Das ist übelster Nationalismus, Hass und Hochmut gegenüber den Nachbarn Russlands. Mit Hochmut und Verachtung fing es an, und während des Krieges kam dann der Hass. Diesem Imperialismus muss ein für alle Mal ein Ende bereitet werden. Um welchen Preis, kann ich nicht sagen. Das Gericht muss dabei seine Aufgabe erfüllen. 

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Russki Mir

Das Konzept der Russischen Welt (russ. russki mir) wurde in den Jahren 2006/07 entwickelt und hat seitdem an Popularität gewonnen. War es zunächst eher ein kulturelles Konzept, das die soziale Bindungskraft russischer Sprache und Literatur betonte (es existiert eine gleichnamige kulturpolitische Stiftung), so dient es heute auch zur Legitimierung außenpolitischer Aktionen, die den Einfluss Russlands im postsowjetischen Raum stärken sollten. 

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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Donezker Volksrepublik

Die Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee.

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Grüne Männchen

Als kleine grüne Männchen, manchmal auch höfliche Menschen, werden euphemistisch die militärischen Spezialkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen bezeichnet, die Ende Februar 2014 strategisch wichtige Standorte auf der Krim besetzt haben. Bestritt Moskau zunächst jegliche direkte Beteiligung und verwies auf „lokale Selbstverteidungskräfte“, so gab Präsident Putin später zu, dass es sich dabei um russische Soldaten gehandelt hat. Die grünen Männchen sind inzwischen zu einem kulturellen Symbol geworden.

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