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„Solange die Hälfte des Landes im Zombie-Zustand verharrt, wird nichts besser“

Russlands Krieg gegen die Ukraine wird auch in den Köpfen der Menschen geführt. Das Politische schneidet dabei so scharf ins Private ein, dass ganze Familien zerbrechen. Seit der Invasion passiert das in Russland zigfach, noch mehr als das ohnehin schon seit 2014 und dem Krieg im Donbass der Fall war. Diese Kluft verläuft entlang der offiziellen Linie der russischen Führung, zwischen Eltern und ihren Kindern, unter Geschwistern, ja sogar Eheleuten. Der bekannte russische Journalist Andrej Loschak hat darüber einen Dokumentarfilm gedreht: Rasryw Swjasi (dt. Beziehungsabbruch). Er wurde auf YouTube veröffentlicht, eine der wenigen Nischen, in der in Russland noch kritische Standpunkte zum Krieg zu finden sind. 

Mit Loschak hat die ukrainische Journalistin Anna Filimonowa, Herausgeberin des Online-Magazins Majak, für Holod über seinen Film gesprochen – über Mütter, die Putin alles glauben, das Klammern an Mythen und die letzten Chancen des Zweifelns. 

Источник Holod


Hier gibt es die Doku Rasryw Swjasi (dt. Beziehungsabbruch) mit englischen Untertiteln

Anna Filimonowa: Ich wollte Sie eigentlich zunächst fragen, seit wann Sie sich für das Thema Ukraine interessieren. Doch in Ihrer Dokumentation Rasryw swjasi geht es im Grunde gar nicht um die Ukraine, oder?

Andrej Loschak: Das ist heute schwer zu trennen – es ist nicht das erste Mal, dass Russland in die Ukraine einmarschiert und dort einen Krieg beginnt. Leider hängt die Situation in der Ukraine jetzt davon ab, was die Russen dazu denken und fühlen. Da gibt es eine direkte Verbindung: Je mehr Russen aufhören, das Vorgehen der Regierung zu unterstützen, desto schneller wird die Aggression vorbei sein. Und für mich als Journalist, der immer mit dem russischen Kontext gearbeitet hat, lag es in der Natur der Sache, etwas darüber zu machen, wie das alles in Russland wahrgenommen wird. Allein schon, weil ich viel weniger davon verstehe, wie es die Ukrainer wahrnehmen.

Die Idee mit der Kluft zwischen Familienmitgliedern hatte ich eigentlich seit 2014. Schon damals hat die Krim die Gesellschaft stark polarisiert. Wobei es jetzt, wie mir scheint, mehr Menschen gibt, die gegen den Krieg sind – oder zumindest zweifeln. Weil sie diesmal nicht mit irgendwelchen Märchen über grüne Männchen durchkommen und von Anfang an alles schiefgelaufen ist. Die Menschen sehen, dass das eine blutige, schwerwiegende, furchtbare Geschichte ist, sodass trotz allem Zweifel aufkommen.  

Je mehr Russen aufhören, das Vorgehen der Regierung zu unterstützen, desto schneller wird die Aggression vorbei sein

Ich habe mir diese Mütter in Ihrem Film angesehen und hatte den Eindruck, dass für sie allein schon der Gedanke unerträglich ist, dass ein russischer Soldat vergewaltigen, plündern und Zivilisten töten kann. Sie schieben diese Vorstellung weit von sich – das kann nicht wahr sein, das ist Fake. Meines Erachtens ist das ein sehr wichtiger Aspekt, denn er zeigt, dass nicht alles Menschliche in ihnen abgestorben ist.   

Natürlich. Für mich ist genau das der Knackpunkt des Films: Eigentlich sehen wir ganz normale Menschen. Das heißt, sie sagen ziemlich ungeheuerliche Sachen, aber wir sehen auch, dass sie liebende Eltern, Ehemänner und dergleichen sind. Das war der Grund, warum ich familiäre Beziehungen zum Thema machte – die sind immer sehr menschlich: Man sieht lebendige Gefühle, Leiden, Freude etc. Auch hier. Aber wenn sie über das zu sprechen anfangen, was in der Ukraine passiert, verlieren sie ihre Menschlichkeit irgendwie. Ob sie jetzt Zombies sind oder Unmenschen – irgendetwas stimmt mit ihnen nicht. Ihre Gedanken sind nicht ihre Gedanken. Als ob sie nicht mit eigenen Worten sprechen würden. Ihre Stimmen, die Intonation, ihr Gesichtsausdruck – an allem sieht man, dass das nicht ganz sie sind. Als würde etwas von ihnen Besitz ergreifen, ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Das ist wahrscheinlich etwas Psychologisches oder Psychiatrisches.

Die Menschen haben 22 Jahre lang gedacht, dass alles mehr oder weniger okay ist. Und dann sagt man dir plötzlich, dass Russland mittlerweile als eine Art faschistisches Deutschland wahrgenommen wird

Wenn sie den Gedanken zulassen würden, dass die Russen das alles wirklich machen, dass sie auf fremdem Territorium Menschen umbringen, dann wäre das sehr schlimm für sie, sehr schockierend. Mit diesem Gedanken will die Mehrheit der Menschen, nach allem zu urteilen, einfach nicht leben.      

Diese Menschen haben 22 Jahre lang gedacht, dass alles gut ist, dass Putin unser Präsident, unser nationaler Leader ist, dass er gegen Feinde der Heimat kämpft, gegen den Westen, der uns zerstören will. Ihnen schien, dass alles mehr oder weniger okay ist. Und dann sagt man dir plötzlich, dass Russland mittlerweile als eine Art faschistisches Deutschland wahrgenommen wird. Es ist sehr schwer, das zu glauben, es ist sehr schwer, das zu akzeptieren. Der Mensch ist offenbar so angelegt, dass er sich bis zuletzt an irgendwelche Mythen klammert wie an Rettungsringe, die sein Bewusstsein ihm hinwirft. „Unsere Soldaten sind zu so etwas schlichtweg nicht imstande.“ Wirklich nicht? Haben Sie gesehen, was sie in Tschetschenien angerichtet haben?

Der Mensch ist offenbar so angelegt, dass er sich bis zuletzt an irgendwelche Mythen klammert wie an Rettungsringe

Ich habe Bücher über einfache Leute und über Soldaten im Dritten Reich gelesen, die ungeheuerliche Verbrechen begingen, aber bis dahin ganz normale Bürger waren. In ihren Verhörprotokollen ging es darum, wie sie sich verhalten haben und warum sie sich so verhalten haben. Sie sagten, sie wollten dazugehören. Alle machen das, soll ich etwa nicht? Bin ich etwa keiner von ihnen? Bin ich denn schwach, bin ich feige? Nein, ich will auch dabei sein. Man will nicht in der Minderheit sein – das macht Angst. Wenn man zur Mehrheit gehört, fühlt man sich irgendwie wohler. Und dann zimmert man sich seine Realität zurecht: Unsere Soldaten würden das nie tun. Punkt. Sie glauben das ja wirklich. Es ist nicht so, dass sie mich zynisch hinters Licht führen wollten, sondern sie glauben das. 

Ihr Film wurde in Tbilisi öffentlich gezeigt, und die Zuschauer lachten an den Stellen, wo Befürworter des Kriegs sprachen. Hat Sie das beeindruckt?

Ich habe davon gehört, dass die Leute gelacht haben, ja. Und meine Redakteurin Darina Lukutina sagte, dass das wie eine Schutzreaktion klang, ein sehr nervöses Lachen. Ich habe im Grunde kein Problem damit, wenn jemand über Dummheit oder logische Ungereimtheiten lacht – davon gibt es in den Antworten jener, die für den Krieg sind, genug, und ich habe bewusst versucht, sie herauszustellen.   

Es gibt da auch einen interessanten Effekt. Sie übernehmen quasi irgendwelche Formeln aus dem Fernsehen oder woher auch immer. Doch wenn man weiterbohrt und versucht, in die Tiefe zu gehen, fangen sie an, sich zu widersprechen und zu stammeln wie Studenten bei einer Prüfung, für die sie nicht gelernt haben. Das zu zeigen, war mir wichtig. Wie Menschen, die sich vor der Realität verstecken, einfach das glauben, was ihnen die Propaganda vorgaukelt. Aber die Propaganda benimmt sich oft seltsam – wenn sie etwas richtig verschissen haben, dann verbreiten sie einfach tonnenweise unterschiedliche Versionen und überfluten den Informationsraum mit Dreck. So wie bei Butscha. So kriegt man das Gefühl, dass alle lügen, und glaubt niemandem mehr – auch den Ukrainern nicht. 

Sie sind Menschen, normale Bürger, die sich auf diese Weise über Wasser halten. Doch das befreit sie nicht von ihrer Verantwortung, auf keinen Fall

Ich glaube nicht, dass das Publikum aus Herzlosigkeit gelacht hat. Und ich wollte meine Protagonisten auch nicht karikieren und lächerlich machen. Ich wollte, dass die Zuschauer in ihnen Menschen sehen. Weil das alles sehr komplex ist, sie sind nicht einfach irgendwelche Trolle oder Orks. Sie sind Menschen, normale Leute, die sich auf diese Weise über Wasser halten. Doch das befreit sie nicht von ihrer Verantwortung, das auf keinen Fall.

Sie sprechen davon, wie brüchig ihre Haltung ist. Wobei es unmöglich ist, sie von etwas anderem zu überzeugen.

Das ist deswegen unmöglich, weil es ein Glaube ist und sich somit außerhalb jeglicher Logik befindet: Es ist absurd, also glaube ich.

In Ihrem Film spricht eine Psychotherapeutin über eine narzisstische Spaltung: ein beklemmendes Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit, das man mit einem Gefühl von Grandiosität bekämpft. Das wird als narzisstischer Schutz bezeichnet. Mit der Mutter dieser Psychotherapeutin hatte ich am meisten Mitgefühl, weil sie so vertrauensselig in dieser Falle sitzt und inständig glaubt, für das Gute zu sein, aber in Wirklichkeit auf der Seite des Bösen steht. Was alle anderen betrifft, kommt natürlich so ein Gefühl auf, wo man auf Revanche hofft: Ich warte auf den Moment, wenn ihr endlich die Wahrheit erfahrt. So einen Film würde ich mir gern anschauen. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das je passieren wird.  

Ja, ich träume auch davon, das zu sehen. Nicht aus Schadenfreude – für mich als jemanden, der immer noch russischer Patriot ist und dem Land  nur das Beste wünscht, ist es wichtig, dass diese Leute aufwachen. Das Entsetzen in ihren Augen zu sehen – das wäre ein Meilenstein auf dem Weg zu einer umfassenden Genesung. Das würde ich gern noch erleben. Denn solange mindestens die Hälfte des Landes in einem realitätsfremden Zombie-Zustand verharrt, wird in diesem Land nichts besser werden. Und das ist eine echte Bedrohung für die ganze Welt.

Es ist wichtig, dass diese Leute aufwachen. Das Entsetzen in ihren Augen zu sehen – das wäre ein Meilenstein auf dem Weg zu einer umfassenden Genesung

Ich weiß nicht, was die Soldaten denken. Ich würde ja gern eine Methode erfinden, wie ich in die Köpfe jener Leute hineinkriechen kann, die die Kriegsverbrechen verübt haben. Die Protagonisten von Rasryw swjasi kann man als Opfer betrachten – sie wurden gehirngewaschen, für dies und jenes drohen Haftstrafen, sie haben Angst und all das. Aber sie sind nicht direkt an Kriegsverbrechen beteiligt. Doch die, die im Krieg sind – ich würde nur zu gern wissen, was in ihnen vorgeht, was sie antreibt zu tun, was sie tun.  

Verfolgen Sie weiterhin, was mit Ihren Protagonisten passiert? Diejenigen, die in Russland leben und gegen den Krieg sind, gehen ja bestimmt ein Risiko ein. Hat sich in ihrem Leben etwas verändert?

Noch scheint alles relativ okay zu sein. Bis auf ein paar nervenaufreibende Anrufe ist bisher nichts passiert. Es sah zwar so aus, als gäbe es [für die staatliche Willkür] überhaupt kein Halten mehr, aber vielleicht doch. Den Leuten wird nicht einfach gekündigt, nur weil sie im Film sagen, dass sie gegen den Krieg sind. Mehr sagen sie ja nicht, sie sagen nichts Strafbares. Nur: Wir wollen keinen Krieg. 

Halten Sie es für möglich, dass Sie nie mehr nach Russland zurückkehren können?

Ja. Wahrscheinlich ist mir das noch nicht sehr bewusst, aber ich will nicht so wie die Protagonisten in meinem Film sein und mich an irgendwelche illusorischen Konstrukte klammern. Man muss sich deutlich bewusst machen, dass diese Möglichkeit besteht. Die Erfahrung früherer Migrationswellen zeigt, dass sich das jahrzehntelang hinziehen kann. 

Noch habe ich keine nostalgischen Anfälle von Heimweh, weil diese Erfahrung ja noch ganz frisch ist. Später wird das schon noch kommen, aber darum geht es nicht. Das Problem ist, dass mein Beruf mit Russland verbunden ist. Das ist das, wo ich mich halbwegs kompetent fühle: Ich kann Geschichten aus der russischen Pampa erzählen, über Russland und die russische Mentalität. Mich haben die Paradoxa dieser Mentalität immer interessiert, und damit habe ich gearbeitet. Ich kannte die Antworten nicht, aber ich wusste, welche Fragen ich stellen will. Jetzt muss ich mich wohl irgendwie umorientieren. Hinfahren [nach Russland] wird kaum gehen, dabei mache ich hauptsächlich Reportagen: Man fährt an den Ort, in die Gegend, und unterhält sich mit den Leuten dort. Wie es für mich jetzt ohne dieses Land weitergehen soll, das ist die große Frage.   

Wie es für mich jetzt ohne Russland weitergehen soll, das ist die große Frage

Wahrscheinlich wird sich mit der Zeit der Kontext ändern, es werden andere Interessen dazukommen. Aber ich stelle mir auch die Frage: Wozu machst du das? Weil ich eigentlich schon die russische Zielgruppe vor Augen hatte. Für wen soll ich sonst arbeiten, wenn nicht für sie? Wenn die Verbindungen jetzt endgültig abreißen – wenn das Internet abgedreht wird oder einfach bei jedem, der irgendetwas aus dem Ausland anklickt, sofort Genosse Major anklopft. Das ist denkbar, es geht in diese Richtung, ich bin darauf gefasst. Aber es macht mich fertig.    

Ich kann die Ukrainer nicht dazu bewegen, mit den Russen mitzufühlen, aber ich glaube, wir vergessen manchmal, dass ihr euer Land verliert. Wir verlieren unser Land nicht. Es stimmt, uns droht der Tod, aber was uns bleibt, ist unser Land. 

Ja, das ist ein grundlegender Unterschied. Ihr habt ein Land, in das ihr zurückkehren könnt. Also, natürlich müsst ihr euch erstmal von dieser Horde befreien, aber dann könnt ihr zurückkehren und aufbauen. Und ihr wisst, was ihr bauen wollt und wie. Bei uns herrscht absolute Ungewissheit. Vor uns liegt die Finsternis, ansonsten sieht man nichts mehr.          

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Politische Talkshows

Wochentags, 10.30 Uhr1: Nach einer kurzen Sendung, in der es um Gesundheitsfragen, Abnehmtipps und Haarpflege geht, laufen auf den zwei wichtigsten Staatssendern Russlands, Rossija 1 und Perwy Kanal, die ersten politischen Talkshows. Gemeinsam mit den Nachrichten dominieren sie das Fernsehprogramm bis Mitternacht. Unterbrechungen durch andere Sendungen gibt es kaum, weshalb Polit-Talks gemeinsam mit den Nachrichten auf dem Perwy Kanal auf rund zwölf Stunden Sendezeit pro Tag kommen.2 In den Talkshows geht es nahezu ausschließlich um den Krieg gegen die Ukraine, der als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet wird. 

Wie kommt es, dass Nachrichten und Polit-Talkshows eine derart große Rolle im russischen Staatsfernsehen spielen? Und worum geht es in diesen Sendungen? Slawistin Magdalena Kaltseis blickt hinter die Kulissen und erzählt die Geschichte vom Aufstieg der TV-Talkshows zum derzeit wohl wichtigsten Fernsehgenre und Propagandainstrument Russlands. 

Waffenlieferungen an die Ukraine werden nicht nur im deutschen Fernsehen heiß debattiert. Auch das russische Staatsfernsehen beschäftigt sich damit, jedoch auf eine spezielle Art und Weise. So fragte der Fernsehmoderator Wladimir Solowjow am 15. Juni 2022 einen seiner Gäste: „Werden sie [die NATO – dek] endlich gegen uns kämpfen?“. „Ja“, antwortet der Gast, „faktisch tun sie das schon. Wir sehen jetzt, wie die ganze Welt auf Russland scharf gemacht wird, das ist der alte Plan, den man jetzt in die Tat umzusetzen versucht. Jede NATO-Armee öffnet ihre Lager und alles, was sie an Waffen haben, schmeißen sie an die Front …“. „Dann macht es doch Sinn“, entgegnet der Moderator Solowjow, „eine zweite Front zu eröffnen und Deutschland anzugreifen, solange es absolut wehrlos ist? Damit es bei diesen Nazis keine Illusionen mehr gibt.“3

Dieser kurze Ausschnitt aus dem Talkshow-Abend mit Wladimir Solowjow, der wochentags jeden Abend auf Rossija 1 läuft, macht deutlich, auf welcher Ebene die Debatten im Fernsehen geführt werden. Dem Westen wird in diesen Shows einerseits pausenlos gedroht, unter anderem mit Atomwaffen. Andererseits werden die USA, die EU oder die NATO lächerlich gemacht, zum Beispiel, indem US-Präsident Joe Biden in einem eingespielten Video eine schrille und kreischende Synchronstimme erhält. 

ARENEN DER EMOTIONEN

Talkshows sind eine Mischung aus Unterhaltung und Information und werden dem sogenannten Infotainment zugeordnet – auch in Russland.  Aber insbesondere bei russischen Talkshows geht es nicht primär um ihren Informationswert, sondern vor allem um die Emotionen, die sie hervorrufen. Skandale, Hetzrede, persönliche Beleidigungen und geschmacklose Unterhaltung stehen im Zentrum dieses heute gut etablierten Typs politischer Talkshows in den russischen Staatssendern.
Auf diese Weise sind russische Polit-Talkshows, wie sie von staatlichen und staatsnahen TV-Sendern produziert werden, offensichtlich ein Erfolgsrezept. Aufgrund ihrer Vielfalt, der oftmals obszönen und vulgären Sprache4 sowie der geladenen Gäste sprechen sie unterschiedliche Bevölkerungsschichten und Generationen an – politische Talkshows belegen stets hohe Plätze in Sendungsrankings und erreichen häufig einen Zuschaueranteil von bis zu 25 Prozent, manchmal auch mehr. 

Dabei wird in den Sendungen versucht, emotionale Reaktionen des Publikums durch lautes Brüllen, verbale oder physische Attacken5, Schockbilder oder Gräuelgeschichten zu erzeugen. Diese Taktiken dienen nicht nur boulevardesker Unterhaltung, sondern auch der Verstärkung von Feindbildern, die in den Talkshows transportiert werden – allen voran gegenüber der Ukraine und den USA. Oftmals werden in den Sendungen Kämpfe inszeniert: Liberal-oppositionell oder ukrainefreundlich gesinnte Diskutanten treffen auf dem Bildschirm auf patriotisch-konservative Gäste. Letztere dominieren die Shows, diffamieren ihre Kontrahenten und gehen meist als „Sieger“ hervor. Aber auch die Moderatoren der Polit-Talks werden schon einmal handgreiflich und werfen Gäste aus dem Studio: „Halt die Fresse! Verpiss dich, du faschistische Laus!“ Mit diesen Worten schrie der Moderator der Sendung Wremja pokashet (dt. Die Zeit wird es zeigen) einen der „proukrainischen“ Gäste an, der angemerkt hatte, die Rote Armee sei 1941 aus der Ukraine „schändlich abgehauen“. Im Anschluss wurde der Gast vom Security-Team aus dem Studio geworfen
 
Heute fungieren politische Talkshows in erster Linie als emotionale Unterstützung einer weitgehend entpolitisierten und bereits vorherrschenden Stimmung, die durch die politische Führung, das System unter Putin und entsprechende Nachrichten geschaffen wurde. Gleichzeitig haben sie in den letzten Jahren zunehmend eine didaktische und meinungsmanipulative Funktion eingenommen und beeinflussen somit maßgeblich die öffentliche Meinung.6 Das war jedoch nicht immer so.

SYMBOLE DER PERESTROIKA

In Russland etablierten sich Talkshows erst während des Zusammenbruchs der Sowjetunion und stehen in engem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Umbrüchen und Veränderungen dieser Zeit.7 Als Diskussions- und Gesprächsplattform stellten die Talkshow in einer Periode der angestrebten Transparenz, Offenheit und Meinungsfreiheit das geeignete Format dar, um politische oder gesellschaftliche Fragen öffentlich zu diskutieren. Neue TV-Formate wurden zunächst aus dem westlichen Fernsehen übernommen, wobei sich Talkshows aufgrund ihres hohen Massenanreizes und der relativ niedrigen Produktionskosten besonders gut für das russische Fernsehen eigneten.8 Insbesondere waren es jedoch die politischen Talkshows nach US-amerikanischem Vorbild, die übernommen wurden. Eine der ersten Ende der 1980er Jahre entstandenen Talkshows und Symbole der Perestroika war die von dem 1995 erschossenen Journalisten Wladislaw Listjew moderierte Sendung Wsgljad (dt. Blick), in der neben der Diskussion der Wochennachrichten erstmals auch zeitgenössische Popmusik aus dem Ausland und Musikclips westlicher Popstars zu hören und zu sehen waren.9 Aus dieser Zeit stammt auch der heute im Russischen gebräuchliche Terminus tok-schou, eine direkte lexikalische Entlehnung des englischen Begriffs talk show.10 

ENTPOLITISIERUNG DES FERNSEHENS

Bis zur Jahrtausendwende entwickelte sich eine eigenständige Form der russischen Polit-Talkshows, zu deren Gründungsvätern neben Listjew auch Wladimir Posner zählte, der noch bis zur Invasion in die Ukraine im Februar 2022 als Moderator tätig war und als TV-Patriarch gilt. Während einige Polit-Talkshows, die sich anfangs vor allem mit dem Wechsel der politischen Elite beschäftigten, zu „Instrumenten innerer Informationskriege“11 wurden, hatten andere Sendungen eine wichtige investigative Funktion. So thematisierte beispielsweise die Talkshow Nesawissimoje rassledowanije (dt. Unabhängige Untersuchung) auf NTW die Rolle des FSB bei der Serie von Bombenanschlägen in Moskau und anderen russischen Städten im August und September 1999.12

NTW nahm ab Beginn der 2000er Jahre eine führende Rolle bei der Produktion politischer Talkshows ein,13 beispielsweise wurde auf diesem Sender die von Jewgeni Kisseljow moderierte Talkshow Glas naroda (dt. Stimme des Volkes) ausgestrahlt. Allerdings ging in den Jahren unmittelbar nach dem Amtsantritt Wladimir Putins die Anzahl politischer Talkshows zunächst zurück, was mit der allgemeinen Entpolitisierung des russischen Fernsehens in den 2000er Jahren einherging.14 

DER Krieg gegen die Ukraine UND DIE NEUE FORM DER POLIT-TALKSHOW

Das Jahr 2014, die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass stellten einen Wendepunkt für Polit-Talks dar, da im Herbst 2014 nicht nur die Anzahl politischer Talkshowreihen im russischen Fernsehen stark zugenommen hat, sondern seitdem auch ein neuer Stil in diesen Shows beobachtet werden kann.15 So kam zu dieser Zeit Wremja pokashet neu bei Perwy kanal ins Programm. Diese Show war eine Neuheit im russischen Fernsehen, da mit ihr erstmals eine Polit-Talkshow nachmittags ausgestrahlt wurde und sie daher von der bekannten Fernsehkritikerin Irina Petrowskaja als „Politik für Hausfrauen“ bezeichnet wurde16. Seit dem 24. Februar 2022 und der Ausweitung des Krieges auf die gesamte Ukraine produziert diese Show bis zu sechs Stunden Sendezeit täglich und konzentriert sich meist auf ein einziges Thema: die Ukraine. 

Auf anderen Fernsehkanälen wie Rossija 1, NTW und TWZ drehen sich die politischen Talkshows ebenfalls fast ausschließlich um die Ukraine, und auch hier wurden politische Talkshowreihen neu ins Programm aufgenommen. 
Im September 2016 startete auf Rossija 1 die Polit-Talkshow 60 minut, die mittlerweile zwei Mal täglich – vormittags und abends – gesendet wird. Kennzeichnend für diese Sendung sind neben persönlichen Beleidigungen und Anfeindungen der Gäste vor allem Diffamierungen des ukrainischen Staates, weshalb sie von kritischen Stimmen auch „60 Minuten des Ukrainehasses“ genannt wird.17 Die beiden Moderatoren – Olga Skabejewa und Jewgeni Popow – werden im Gegensatz zu vielen anderen im Studio weder handgreiflich noch verwenden sie obszöne Lexik. Sie benutzen hingegen andere Methoden, um die Ukraine zu diffamieren. So schenkte das Moderatorenpaar dem inzwischen verstorbenen rechtspopulistischen Politiker Wladimir Shirinowski zu seinem 73. Geburtstag im Jahr 2019 eine Torte in Form der Ukraine, welche er mit einem Messer in zwei Hälften teilte. Anlässlich des Todestages des Politikers am 6. April 2022 wurde dieses Video in der Sendung noch einmal gezeigt und der sichtlich aggressive Akt der Zerteilung der Ukraine von der Moderatorin, Olga Skabejewa, süffisant als „Vorhersehung“ gedeutet.
 



Teilungsphantasie im Jahr 2019: Wladimir Shirinowski zerschneidet vor laufender Kamera eine Torte, die die Form der Ukraine hat, und kommentiert, welcher Teil des Landes seiner Vorstellung nach besser zu Russland gehören sollte.

Neben der Abwertung der Ukraine sind die russische Außenpolitik, die historische Glorifizierung Russlands sowie der Konkurrenzkampf mit dem Westen beliebte Themen in den Talkshows. Oftmals werden auch unterschiedliche und widersprüchliche Deutungen bestimmter Ereignisse geliefert: etwa über den Abschuss des Flugs MH 17 oder die Kriegsverbrechen in Butscha. Ziel ist es, das Publikum zu verwirren und Fakten zu verwischen.
Seit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine sah sich auch das Publikum in Russland über Soziale Netzwerke mit einer Flut von Fotos und Videos konfrontiert, welche die zerstörten ukrainische Städte und Kriegsverbrechen zeigten, mutmaßlich begangen durch die russische Armee. Binnen weniger Tage verabschiedet die Staatsduma daraufhin ein Gesetz, wonach die Verbreitung von „Fake News“ über die russische Armee – respektive Informationen, die nicht unmittelbar von russischen offiziellen Stellen stammen, – mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden können. Kurz darauf kündigte der Perwy Kanal eine neue Sendung unter dem Titel AntiFejk (dt. Anti-Fake) an: „Videos und Fotos dürfen nicht als Beweise oder Informationsquellen gelten, egal woher sie stammen“, so der Werbespot der Show.18 Diese neue Show soll dem Zuschauer, wie verkündet wird, dabei helfen, die „Lüge von der Wahrheit“ zu unterscheiden und demonstrieren, dass alles, was die ukrainische Seite oder der Westen berichten, falsch bzw. Fake ist. Damit schafft sie vor allem eines: Desinformation. Die Show versucht, Zweifel an den Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine zu streuen und dadurch beim Zuschauer Gleichgültigkeit zu fördern. Das geschieht auch dadurch, dass sie „dem kollektiven Westen eine beispiellose Emotionalisierung“ vorwirft, die auf Fakes beruhe – das Mitgefühl mit den Opfern in der Ukraine wird dadurch zu einem „feindlichen, westlichen Gefühl“.19 

ZENTRALE INSTANZ – DER MODERATOR 

Zu den zentralen Charakteristika von Talkshows zählt neben der vermeintlichen Leichtigkeit des Gesprächs und der Anwesenheit eines Publikums (was jedoch während der Coronapandemie aufgegeben und nur teilweise wieder aufgenommen wurde) die Wortgewandtheit des Moderators.20 Letzterer ist gleichzeitig Marke und Aushängeschild der Talkshow, sein Familienname figuriert oftmals als Teil des Talkshownamens. Bemerkenswert ist, dass Polit-Talkshows seit 2014 auch immer wieder von Politikern der Putin-Partei Einiges Russland moderiert werden, darunter Pjotr Tolstoi und Wjatscheslaw Nikonow.21 

Einer der derzeit wohl bekanntesten Moderatoren ist Wladimir Solowjow. Er ist einer der wichtigsten Propagandisten des russischen Staatsfernsehens, und im Zusammenhang mit dem Krieg wurden gegen ihn persönlich Sanktionen verhängt. Beleidigung und Diffamierungen sind bei Solowjow an der Tagesordnung, insbesondere gegen Oppositionelle und unabhängige Medien. So bezeichnete er in seiner Sendung die Novaya Gazeta und ihre Mitarbeiter als „widerliche, dumme Drecksäcke“ und den Chefredakteur des (inzwischen geschlossenen) Radiosenders Echo Moskwy als „Faulzahn“. Adolf Hitler dagegen nannte der Moderator einen „mutigen Mann“, weshalb er von Alla Gerber, der Präsidentin der Holocaust Stiftung, als „Schande für den Journalismus, die Nation und Russland“ kritisiert wurde.22 

Solowjow ist jedoch nicht der Einzige, der polarisiert und stark diffamierende sowie expressive Lexik verwendet. Ein weiteres grelles Beispiel dafür ist Artjom Scheinin, der seit 2016 durch seine Moderation von Wremja pokashet einem breiteren Publikum bekannt geworden ist. Er zeichnet sich durch seine platte und politisch inkorrekte Ausdrucksweise sowie die Verwendung von Mat aus.23 Scheinin provoziert bewusst in seinen Talkshows – sei es mit der Verharmlosung der Tötung von Menschen24 oder mit einem Eimer Fäkalien: So sollte in einer Sendung ein ukrainischer Experte vor laufenden Kameras quasi bekennen, dass die Krim schon immer russisch gewesen sei. Als er sich weigerte, stellte Scheinin dem völlig verdutzten Gast einen vorbereiteten Eimer mit Fäkalien vor die Füße; das Studiopublikum klatschte begeistert.



Moderator Artjom Scheinin stellt einem verdutzten Gast einen Eimer Fäkalien vor die Füße, weil der sich weigert, die Krim als russisch anzuerkennen.

WIEDERKEHRENDE GESICHTER UND MEINUNGEN

Obwohl die teilweise unzensierte Sprache der Moderatoren den Anschein von Spontanität und Live-Übertragungen vermittelt, sind die meisten Sendungen inszeniert und folgen einem vorgefertigten Drehbuch.25 Speziell in russischen Talkshows werden immer wieder dieselben Gäste und sogenannte Experten eingeladen, damit sie eine bestimmte Position – Freund oder Feind Russlands – vertreten. So mimt beispielsweise der gebürtige Amerikaner Michael Bohm regelmäßig den westlichen Feind Russlands, tingelt durch die verschiedenen Sendungen und Fernsehkanäle und wird dafür sehr gut bezahlt.26 Darin besteht auch der Unterschied zu den Polit-Talkshows der 1990er Jahre: Waren damals die Talkshows und Moderatoren noch um einen gewissen Meinungspluralismus bemüht, sind heute diejenigen erfolgreich, die am lautesten schreien, geschmacklose Witze vorbringen, raufen, den Gegner verbal niedermachen und mit allen Mitteln polarisieren. 

Seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine lässt sich zudem eine weitere Tendenz in den Polit-Talks ausmachen – die wiederholte Prophezeiung eines nuklearen Kriegs beziehungsweise Dritten Weltkriegs. Ob dies im Auftrag des Kreml geschieht oder ob es dabei um Stimmungsmache oder das „Testen“ bestimmter Szenarien geht, bleibt offen. Es wird jedoch ernsthaft über die Möglichkeit einer Ausweitung des Krieges gesprochen: Wie die Chefredakteurin von RT, Margarita Simonjan, in Solowjows Sendung im April 2022 verkündet, scheine ihr das Unmögliche, dass alles in einem Atomkrieg ende, immer wahrscheinlicher. Solowjow zitiert daraufhin wortwörtlich eine Äußerung Putins, mit welcher er bereits 2018 auf dem Waldai-Forum provoziert hatte: „Aber wir kommen ins Paradies und sie [der Westen und die Ukraine – dek] werden einfach verrecken.“ 


1.vgl. ein angekündigtes Fernsehprogramm: yaom.ru: Programma peredač Rossija 1 na 9 marta 2022 goda 
2.vgl. Kaltseis (2022): Russia’s invasion of Ukraine: The first day of the war in Russian TV talk shows 
3.smotrim.ru: Ukraina, Zapad i političeskie kidaly. Ėfir ot 15.06.2022 
4.vgl. Novaja Gazeta: Govorit i pokazyvaet podvorotnja 
5.Lenta.ru: Veduščij Pervogo kanala nabrosilsja na gostja programmy 
6.vgl. The Washington Post: Russia’s TV talk shows smooth Putin’s way from crisis to crisis 
7.vgl. Kozlova/Bondarev (2011): Nacional’nye osobennosti razvitija žanra obščestvenno-političeskogo tok-šou na rossijskom televidenii, in: Vestnik VolGU, 8 /10, S.119f. 
8.vgl. Hutchings/Rulyova (2009): Television and culture in Putin’s Russia. Remote control, London/New York, S. 90 
9.vgl. Lenta.ru: «Ėto norma»: Kak Pervyj kanal zadaval ton otečestvennomu TV 
10.vgl. Kozlova/Bondarev (2011), S.120 
11.vgl. Dolgova (2017): Social’naja i političeskaja tematika v obščestvenno-političeskich tok-šou 2014-2015 gg, in: Tichonova: Social’nye aspekty sovremennogo veščanija v Rossii, Vypusk II, Moskva, S. 17 
12.vgl. Youtube: Popytka vzryva doma FSB ili učenija? Nezavisimoe rassledovanie 
13.vgl. Novikova (2008): Sovremennye televizionnye zrelišča: istoki, formy i metody vozdejstvija, Sankt Peterburg, S. 195 
14.vgl. Dunn (2009): Where did it all go wrong? Explaining Russian television in the Putin era, in: Beumers/Hutchings/Rulyova (eds.): The Post-Soviet Russian Media - Conflicting Signals, New York, S. 44 
15.​​​​​​​​vgl. Dolgova (2015): Fenomen populjarnosti obščestvenno-političeskich tok-šou na rossijskom TV osen’ju 2014 goda – vesnoj 2015 goda, in: Vestnik MGU serija 10, Žurnalistika 6, S. 163 
16.echo.msk.ru: Čelovek iz televizora (20.09.2014) 
17.vgl. currenttime.tv: V Latvii zapretili telekanal ‘Rossija‘ za razžiganie nenavisti k ukraincam 
18.Perwy kanal: O projekte. AntiFejk 
19.Geschichtedergegenwart.de: Der „forensische“ Blick 
20.vgl. Kuznecov (2004): Tak rabotajut žurnalisty TV: 2-e izdanie, pererabotannoe, Moskva, S. 29-31 
21.vgl. Kozlova/Bondarev (2011), S.121 
22.vgl. Youtube: Alla Gerber žëstko otvetila Solov’ëvu: Ja ne ošiblas’! 
23.vgl. Interfax.ru: Televeduščego Šejnina nakažut za mat v ėfire 
24.Moskovskij Komsomolez: «Ja ubival»: Veduščij «Pervogo kanala» sdelal priznanie v efire 
25.vgl. Timberg et al. (2002): Television Talk: A History of the TV Talk Show, Austin, S. 5f. 
26.vgl. The Insider: Ispoved’ propagandista 
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