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Ein Gaunerehrenwort bewegt das Land

Die achtteilige Serie Slowo pazana war das Kulturereignis des Jahres in Russland, und auch ein enormer Erfolg in vielen Nachbarländern, in denen Russisch verstanden wird. Selbst in der Ukraine stand der Titelsong der Gruppe Aigel an der Spitze der Charts. Der Regisseur Shora Kryshownikow erzählt die Geschichte krimineller Jugendgangs in der Sowjetunion der 1980er Jahre. Unter Jugendlichen entstand in kürzester Zeit ein enormer Kult um die Serie, die auf der Plattform wink.ru gestreamt werden kann. Auf der Straße, in Cafés, in den Sozialen Medien, in der Staatsduma und in Propaganda-Talkshows wird über sie gesprochen. Allein im November wurde auf dem russischen Google-Pendant Yandex häufiger nach Slowo pazana gesucht als im gesamten Jahr nach Informationen zum Krieg in der Ukraine – das zeigt ein Vergleich der Suchanfragen, den das Onlinemedium Verstka durchgeführt hat.

Nachdem Anfang Dezember im Gebiet Irkutsk ein 15-Jähriger von Gleichaltrigen getötet wurde, die dabei ein Zitat aus Slowo pazana verwendeten, wurden Forderungen laut, die weitere Ausstrahlung zu verbieten. In russischen Medien und im Internet wurde heftig debattiert, ob die Serie unterschwellige Kritik an den Verhältnissen in Russland übt, die von dieser kriminellen Bandenwelt geprägt sind, oder ob sie im Gegenteil im Sinne des Regimes ein Bild von der guten Staatsmacht zeichnet, die die Kriminalität bekämpft und sich rührend um Jugendliche kümmert, die vom rechten Pfad abkommen. Für die eine Lesart spricht zum Beispiel, dass die Sängerin des Titelsongs den Krieg in der Ukraine öffentlich mit deutlichen Worten verurteilt hat. Den Liebhaber einer Polizistin spielt ausgerechnet Iwan Makarewitsch, der Sohn des Musikers Andrej Makarewitsch, der wegen seiner kritischen Haltung zum Kreml und seiner Ablehnung des Krieges im Exil leben muss. Für die andere Lesart gibt es aber auch gewichtige Argumente. Nicht zuletzt wurde die Serie vom Institut zur Entwicklung des Internet gefördert, eine Organisation, die in staatlichem Auftrag eine patriotische Agenda vorantreibt und unter anderem auch den Z-Pop-Sänger Shaman und Militärblogger unterstützt hat. Die Redaktion von Holod hat Svetlana Stephenson gefragt, was an der Serie authentisch ist und was fehlt. Die Professorin für Soziologie und Kriminologie an der London Metropolitan University hat in ihrem Buch Gangs of Russia. From the Streets to the Corridors of Power die Geschichte der Straßengangs untersucht. Es war auch eine Inspiration für die Autoren der Serie.

 

Источник Holod

Wowa Adidas ist aus dem Krieg in Afghanistan heimgekehrt und führt jetzt eine Straßengang in Kasan an / Plakat: RostelecomDer Erfolg der Serie Slowo pazana liegt in hohem Maße am Thema. Die kriminelle Kultur ist für Außenstehende eine verborgene Welt und macht allein deshalb schon sehr neugierig. Einerseits ist die Welt von Banden, Gangs und Mafia beängstigend; ein Verbrechermilieu, das unsere friedliche Existenz bedroht. Andererseits stellen sich viele diese Welt als eine Welt vor, in der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit herrschen und das Individuum sich in einer Gemeinschaft auflöst (selbst wenn das mit Kriminalität und Gewalt einhergeht).     

Die Serie entführt die Zuschauer in ein von manchen schon fast vergessenes, von den meisten nie gekanntes Leben in einer sowjetischen Stadt in den 1980er Jahren. Gelungen ist die Vermittlung des schäbigen sowjetischen Alltags mit seiner ewigen Mangelwirtschaft und der stolzen Brühwurst auf dem Tisch, wo der Verlust der Pelzmütze zu einer echten Tragödie werden kann (weil sie Unsummen kostet und auch nirgendwo zu kriegen ist). Gut getroffen ist auch die unwirtliche urbane Landschaft, in der die jungen Protagonisten leben und um deren Straßenpflaster sie so verbissen kämpfen. Der Zuschauer spürt die feuchtkalten Straßen und Treppenhäuser regelrecht auf der Haut, er taucht ein in die Atmosphäre einer Zeit, in der es überall grob zugeht – vom harschen Ton der Verkäuferinnen bis zum erniedrigenden Umgang der Lehrerinnen und sogar der Putzfrauen mit den Schülern. Nur kleine Inseln der Kultur – Musikschulen – heben sich irgendwie von der allgegenwärtigen Gewalt ab, doch auch sie sind nicht in der Lage, ihre Schützlinge vor der magnetischen Anziehung der Straße zu bewahren. Dort gründen die Jungs ihre kriminellen Bruderschaften.        

Diese Welt ist sehr glaubwürdig dargestellt. Als Expertin für Straßenbanden in Russland kann ich sagen, dass die Serie die Lebensweise und soziale Organisation der Kasaner Jugendgangs jener Zeit äußerst genau abbildet. Auch der Jargon ist gut getroffen, genau so die Rituale: Die Versammlungen der Straßengangs, von denen Außenstehende ausgeschlossen sind, Schießereien und Racheakte, Initiation und  Ausschluss-Rituale für jene, die sich nicht nach den Regeln (po ponjatijam) verhalten.

Ein ganz normaler Teenager beginnt nach den Regeln der Straße zu leben

Die Serie vermittelt wahrheitsgetreu, wie sich die Bandenmitglieder als  Herren über ihr Territorium verstanden und sich berechtigt fühlten, von allen, die es betraten, Schutzgeld zu erheben – vor allem von Jugendlichen, die keiner Bande angehörten und von Leuten, die dort ihre Firmen gründen wollten.

Den Machern von Slowo pazana gelingt es, ohne belehrend oder moralisierend zu wirken die Geschichte eines ganz normalen Teenagers zu erzählen, der sich einer Bande anschließt, nur weil er sich sonst nicht sicher fühlen kann. Dann beginnt er, wie es damals hieß, „mit den Pazany zu leben“: Er gerät in eine Gesellschaft, in der die Illusion einer männlichen Gerechtigkeit geschaffen wird, in der einer für alle einsteht und alle für einen, und in der das Gaunerehrenwort als unanfechtbares Gesetz gilt.

Je tiefer der Held jedoch in diese Welt eintaucht, desto mehr Gefahren ist er ausgesetzt. Das Risiko, im Gefängnis zu landen, die Gesundheit oder gar das Leben zu verlieren, ganz zu schweigen vom Leid der Angehörigen – das ist es, was die Jungs in ihrem neuen Leben erwartet. Und Gerechtigkeit suchen sie in den Banden vergeblich.

Obwohl das nicht alles in der Serie vorkommt, gehörten interne Konflikte bis hin zur Ermordung der einen Bandenführer durch die anderen, der Raub der Gemeinschaftskasse jüngerer Gruppen und deren gnadenlose Ausbeutung durch ältere Banden zur Norm. Die männlichen Bruderschaften erwiesen sich in einer Gesellschaft, in der auch Beziehungen innerhalb der Gruppen mit Gewalt reguliert wurden, als äußerst unzuverlässig. Ein junger Mann, der sich von seiner Bande bereits losgesagt hat, und den ich zu Forschungszwecken interviewt habe, beschrieb es so:

„Was ich damals bemerkenswert fand: Da ist zum Beispiel ein Typ von der Straße, den man kennt, man ist richtig befreundet mit ihm, verbringt viel Zeit zusammen, er gilt als Kumpel. Doch dann baut er irgendwie Scheiße, und auf einmal wird er geschasst, alle verprügeln ihn, pressen ihm Kohle ab. Gerade noch war man gut Freund, lag sich in den Armen, und auf einmal spuckt man ihn an und schlägt ihn. Das ist doch eine Schweinerei, das geht doch nicht. Ich brachte so etwas nie zustande, mir war das irgendwie zu arg. Mehreren von uns ging es ähnlich, die konnten das auch nicht. Aber zum Teil waren da Leute, für die war man heute ein Freund und morgen einfach nur ein Niemand.“

Auf das berüchtigte Gaunerehrenwort – in der Serie hört man den Begriff Slowo pazana ständig – war in jenen Jahren auch nicht wirklich Verlass. Es funktionierte nur in Bezug auf ebensolche Pazany, alle anderen konnte man ohne jegliche Konsequenzen damit verarschen – auf Betrug und Diebstahl an Außenstehenden war man besonders stolz.

Die Verflechtung krimineller Gangs mit der Polizei fehlt in der Serie

Die Serie wird von liberal gesinnten Kritikern sehr gelobt. Von den künstlerischen Vorzügen abgesehen, lesen sie eine politische Botschaft heraus, die sich ihnen klar erschließt: Die jungen Serienhelden sind als Opfer des morschen sowjetischen Systems dargestellt, mit seiner Korruption und Verlogenheit, mit seinen wachsenden wirtschaftlichen Problemen. Diese Jungs der 1980er werden als Vorboten der weiteren Entwicklung von Putins Russland gesehen, in dem Putins hinfälliges System, das noch dazu einen unnötigen Krieg angezettelt hat, das Land fast unweigerlich in ein Chaos von Straßenbanden, Gewalt und krimineller Umverteilung des Eigentums stürzen wird.

Ich sehe aber auch, wie die Serie bei all ihrem Wahrheitsgehalt mal wichtige Realien der damaligen Zeit außen vor lässt, mal dem sowjetischen Alltag etwas hinzufügt, das es gar nicht gab. Die Gopniki und ihre Eltern und Lehrer sind äußerst überzeugend dargestellt, doch gleichzeitig stechen bei der Darstellung der damaligen Silowiki ziemliche Unstimmigkeiten ins Auge.

Die Miliz ist durch zwei unglaubwürdige Typen vertreten: ein wunderschönes Turgenjewsches Mädchen, das Andrej, den Pionier und Gopnik, mit beinah liebevoller Fürsorge bedenkt, und ein infernalischer Ermittler, der Anzüge einer damals nicht vorhandenen Preisklasse trägt (er scheint eher einem heutigen, ebenfalls der Kinoleinwand entsprungenen und allmächtigen FSB-Agenten nachempfunden als einem sowjetischen Milizionär). 

Die Autoren der Serie zeigen zwar die Sitten und Gebräuche der Straße, versäumen dabei aber, zu beschreiben, wie sich dieses Milieu in das große Ganze einfügt, wo es komplexe Wechselbeziehungen zwischen kriminellen und legalen Machtstrukturen gab. Solche Verbindungen zwischen Polizei und kriminellen Autoritäten sind in Kasan dokumentarisch belegt. Der Kriminalfall Tjap-Ljap zum Beispiel (eine berühmte Bande, die in den 1970ern in Kasan Massenprügeleien und Morde zu verantworten hatte und als Ausgangspunkt des so genannten Kasan-Phänomens gilt – Anm. Cholod) enthält Beweise, dass die Miliz die Bande gedeckt hat. Nach der Verurteilung ihrer Anführer wurden fünfzig Beamte gekündigt. Davon ist in Slowo pazana an keiner Stelle die Rede. Dafür wartet die Serie mit einem primitiven Antiamerikanismus auf, den es in jenen Jahren nicht gab. Im Gegenteil, Ende der 1980er war alles Ausländische heiß begehrt, Amerika wurde – wie überhaupt der ganze Westen – von Ferne geliebt. Und in der Diskothek tanzten die Gopniki nicht zu Laskowy maj, sondern zu Pop aus dem Westen.

Schön wäre es, eine Fortsetzung der Serie zu sehen, mitzuverfolgen, wie die Banditen und ihre Bosse im neuen kapitalistischen Russland aufsteigen, wie sie die Gewinne der privatisierten sowjetischen Betriebe und privater Firmen kassieren, wie sie Chefsessel von Unternehmen, hohe Funktionen in der Staatsverwaltung und Rektorenposten an Universitäten besetzen. Aber eine solche Fortsetzung werden wir wohl kaum zu sehen bekommen, zumindest nicht in nächster Zeit.

 

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In Jogginghosen und Schiebermützen hocken sie halbkreisförmig im Slavic Squat, in der Mitte einе zwei Liter Plastikflasche Billigbier und ausgespuckte Schalen von Sonnenblumenkernen. Laut Klischee sind Gopniki (klein)kriminell, ungebildet und kommen mit einem spezifischen Vokabular von nur vier Grundwörtern aus. Demgegenüber versteigen sich manche russischen Soziologen dazu, mehr als jeden dritten Einwohner des Landes zu dieser Subkultur zu zählen.

Klischees über Klischees – der Gopnik / Foto © Wolodymyr Pankratow/Wikimedia unter CC BY-SA 4.0

„Was soll eigentlich diese Russenhocke?“ fragte bento Ende 2016 nach dem Flashmob auf Instagram, bei dem sich tausende Nutzer hockend präsentiert hatten.1 Vorausgegangen waren Statements einiger Avantgarde-Hipster, die ihren Kulturimport aus Russland zum Modetrend erklärten: Demnach sollten Jogginghosen 2016 zum letzten Schrei werden.

(Klein)kriminelle Subkultur

Naturgemäß meinten es die Hipster ironisch: Kaum jemand möchte ernsthaft in einen Topf mit dem Original dieses Lebensstils geworfen werden – dem Gopnik. Die Bezeichnung dieses Stereotyps, das von Soziologen als eine Subkultur verstanden wird, ging Ende der 1980er Jahre in den allgemeinen Sprachgebrauch ein.

Der Ursprung ist unklar: Vielleicht bezieht sich der Begriff auf die Abkürzung GOP, die in den 1920er Jahren für Städtisches Wohnheim des Proletariats stand und sich zum arroganten Synonym für Unterschichten-spezifische Bildungsferne entwickelte.

Vielleicht kommt Gopnik vom Ausdruck gopstop – was in russischer Entsprechung zum deutschen Jargon Rotwelsch „Raubüberfall“ bedeutet. Dem meistens (auch vom Gopnik selbst) als Schimpfwort verwendeten Begriff steht die gängige Eigenbezeichnung gegenüber – (realny) pazan, was ungefähr soviel wie das amerikanische (real) Gangsta bedeutet.   

Gossenjargon=kriminell?

(Real) Gangsta und Rotwelsch sind Begriffe, die im Westen einen radikalen Bedeutungswandel erlebten. Der erste kam auf in den 1980er Jahren als ein kriminelles und gegenkulturell-orientiertes Stereotyp. Mit der Kommerzialisierung des Gangster-Rap wurde die Figur des Gangsta aber schon in den 1990er Jahren Teil der Massenkultur – sowohl in den USA als auch in vielen Ländern Westeuropas.

Aus ähnlichen Gründen entbehrt auch Rotwelsch das Kriminelle: In älterer Literatur noch als deutsche „Gaunersprache“ bezeichnet, gilt es heute als ein Soziolekt mit einem Sonderwortschatz – als ein Jargon.

Ähnlich beim Gopnik: Die Neigung zum Mat-durchsetzten Gossenjargon gehört für viele Soziologen zu den Grundfesten dieser Subkultur. Dass diese Sondersprache auch Anleihen bei fenja macht – der russischen Gefängnissprache – macht allerdings nicht alle Sprecher automatisch zu Kriminellen. Dennoch hält sich die Zuschreibung: Gopniki seien gewalttätig, homophob, ausländerfeindlich und verüben gopstops – rauben Wertsachen.2 Sie gingen keiner Arbeit nach, hätten aggressiv-tumbe Gesichtsausdrücke, seien flegelhaft, kurz: sie weisen wegen ihrer „Unterschichtsmentalität“ alle Bürgerschreck-Qualitäten auf.3

Indes, der Zusammenhang zwischen dem Lebensstil der Gopniki und ihrer angeblichen Neigung zur Kriminalität wurde noch nie nachgewiesen. So haben es viele von ihnen beispielsweise schon in die Mittelschicht geschafft: Dort gehen sie geregelter Arbeit nach, setzen ihren Lebensstil aber als sogenannte tschawy (in Anlehnung an die britischen Chavs) oder polugopy (dt. Halb-Gopniki) fort. Sie schmücken sich mit spezifischen Statussymbolen, pflegen situativ Jargon4 – und dürften damit zum Teil wohl eine ähnliche Nähe zur Kriminalität an den Tag legen, wie es die Mittelschichts-Jugendlichen in der deutschen Provinz der 1990er taten, als sie das gewaltverherrlichende Cop Killer von Bodycount nachsangen.5

Russischer Chanson wird Mainstream

Klischees über Klischees: Gopniki seien grundsätzlich kriminell und würden diese Kriminalität auch in ihren Musikvorlieben zelebrieren, und zwar bei der ihnen zugeschriebenen Neigung zum sogenannten „russischen Chanson“ oder „coolen beziehungsweise harten Lied“ („blatnaja pesnja“).6 Ohne den Zusammenhang zwischen Gopnik und russischem Chanson nachzuweisen, verweisen russische Soziologen in einem Analogieschluss einfach auf die Gefängnis-Nähe von gegenkulturell-orientierter Subkultur und Musikgattung.

Ähnlich wie zuvor Gangster-Rap in den USA und in Westeuropa, schaffte es diese Musikgattung, die häufig Kriminalität romantisiert (Stichwort aus dem Rap: thug life), Ende der 1990er Jahre erstmals in die russischen Charts. Damit vollzog sich ein Übergang von zunächst gegenkulturell angelegten Orientierungen in die Massenkultur, wie er im Westen zuvor nicht nur bei Hip-Hop, sondern auch bei Punk und Rock auszumachen war.7

Ohne auf die Kommerzialisierungs-Mechanismen der Musikindustrie einzugehen, erklärten Kulturkritiker den Hype des russischen Chansons damit, dass nahezu ein Viertel der männlichen Bevölkerung Russlands entweder im Gefängnis waren oder gerade im Gefängnis sitzen.8 Diese große Gruppe bildete demnach den Resonanzraum für diese Musik und verhalf dem russischen Chanson alleine wegen ihrer schieren Anzahl in die Charts.

Der Einzug der zuvor als gossenhaft verfemten Musik in die Massenkultur ging einher mit einschlägigen Blockbustern, die zum Teil auch mit Mitteln aus der staatlichen Filmförderung finanziert wurden.9 Kritiker geißelten die Romantisierung des Kriminellen, beklagten einen Sprach- und Kulturverfall, mussten das Phänomen aber alsbald auch bei der politischen Elite des Landes feststellen.

Jargon in der Politik

Bereits vor seiner ersten Präsidentschaft versprach Putin, Terroristen „im Scheißhaus kaltzumachen“. Seine häufige Neigung zum Jargon wurde Gegenstand vieler humoristischer Kommentare; auch Sozialwissenschaftler fragten nach den Gründen seiner Verbalausfälle. Demnach ist sein Hang zu stilistisch derberen Registern wohlkalkuliert: Einerseits breche er bewusst gängige Sprachnormen, um dadurch Aufmerksamkeit zu bekommen.10 Andererseits zeigt er sich damit als ein tatkräftiger Politiker, der „hart durchgreift“ und „Klartext“ spricht. Schließlich präsentiert er sich auch als „einfacher Mann von nebenan“,11 der die Aura der hemdsärmeligen Street Credibility verströmt und somit stammtisch-kompatibel erscheint.12

Ob dieses Streben nach Volksnähe im Umkehrschluss die steile These von gleich 50 Millionen Gopniki im Land plausibel macht, ist fraglich – weder Soziolekte noch Musikvorlieben genügen für eine klare Zuordnung, zumal Soziologen13 ihre These kaum mit Forschungsergebnissen belegen können. Grundsätzliche Schwierigkeit besteht außerdem darin, dass Subkulturen und Lebensstile nie exakt fassbar sind. Insofern bleibt der Gopnik ein schwer greif- und verifizierbares Klischee.

Vermehrte Anklänge an diesem klischeehaften Gopniki-Lebensstil kann man in Russlands politischer Elite dagegen durchaus finden. Putin schöpft aus diesem einschlägigen Kanon, wenn er junge Soldaten als pazany tituliert, der Eigenbezeichnung der Gopniki; oder auch, wenn er von „Schore verhökern“ (Rotwelsch: „Diebesgut veräußern“, russ. „schurowat“) spricht und so den russischen Export von Rohholz kritisiert.14

Murka, der Chanson-Klassiker schlechthin, erklingt auch mal in der Duma-Kantine.15 Außenminister Lawrow schimpft Mat, und auch seine Diplomaten-Kollegen aus dem Außenministerium fallen durch unflätige Verbalinjurien auf.

Nicht nur deshalb verglich Sergej Medwedew – eine der profiliertesten Stimmen des liberalen Lagers – die gesamte russische Außenpolitik mit einem Gopnik, der allen Angst einjage. Und der bekannte Karikaturist Sergey Elkin erntete im April 2017 auf Facebook tausende Likes und Shares für die Abkürzungsbuchstaben des Außenministeriums (MID) im halbkreisförmigen Slavic Squat. Um die hockenden Buchstaben liegen ausgespuckte Schalen von Sonnenblumenkernen.


1.bento.de: Was soll eigentlich diese "Russenhocke"?
2.Vgl. Centr problemnogo analiza i gosudarstvenno-upravlenčeskogo proektirovanija (2014): Molodëžnye subkul’tury v sovremennoj Rossii i ich socializirujuščij potencial, in: Doklady Centra, Vypusk № 11, S. 11f.
3.Eine historische Parallele ergibt sich in der westeuropäischen Figur des Gammlers. Seit 1964 gehörte diese Subkultur zum Straßenbild westeuropäischer Metropolen. Durch ihr Nichtstun sorgten die Gammler vor 1968 stets für öffentlichen Unmut. Konservative Politiker und Wissenschaftler schrieben ihnen eine „Unterschichtsmentalität“ zu und befürchteten eine gesamtgesellschaftliche Anpassung daran. Vgl. z.B. Noelle-Neumann, E. (1978): Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zürich, S. 20f. Zitiert nach: Siegfried, D. (2006): Time is on my Side: Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen
4.Vgl. Centr problemnogo analiza i gosudarstvenno-upravlenčeskogo proektirovanija, S. 11f.
5.Das Debüt-Album von Bodycount wurde 1992 in Deutschland mit der Goldenen Schallplatte ausgezeichnet.
6.Vgl. Centr problemnogo analiza i gosudarstvenno-upravlenčeskogo proektirovanija, S. 11f.
7.Der Historiker Detlef Siegfried veranschaulichte in seiner Habilitation solche Kommerzialisierungs-Mechanismen am Beispiel der Figur des Gammlers im Westdeutschland der 1960er Jahre. Siegfried, D. (2006): Time is on my Side: Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen
8.Vgl. Smolin, A. (2011): Šanson kak sredstvo obščestvennoj degradacii. Zu den Zahlen vgl. z.B. Radčenko, V. (2008): Chorošo sidim
9.Vgl. Smolin, A. (2011): Šanson kak sredstvo obščestvennoj degradacii
10.Vgl. Borisova, Ė. (2010): Pragmatika „nizkogo" v rečach D.A. Medvedeva i V.V. Putina, Moskau [Diplomarbeit]
11.Vgl. z.B. Dement’eva, M. (2009): Jazykovye sredstva vyraženija ocenki v sovremennom političeskom diskurse, in: Političeskaja lingvistika, Vyp. 4(30), S. 82-92. D’jačok, M. (2003): Russkoe prostorečie kak socioligvičeskoe javlenie, in: Gumanitarnye nauki, Vyp. 21, S. 102-113. Maslova, V. (2008): Političeskij diskurs: jazykovye igry ili igry v slova? in: Političeskaja lingvistika, Vyp. 1(24), S. 43-48
12.Psychologische Erklärungen für Putins Verbalausfälle betonen demgegenüber vor allem die Rauhbeinigkeit der Hinterhof-Verhältnisse aus Putins früher Biografie. Vgl. z.B. Spiegel.de: Im Reich der Gefühle
13.Vgl. Centr problemnogo analiza i gosudarstvenno-upravlenčeskogo proektirovanija (2014), S. 11f.
14.Zitiert nach: Fleischmann, E. (2010): Das Phänomen Putin. Der sprachliche Hintergrund,  339ff.
15.Vgl. Smolin, A. (2011): Šanson kak sredstvo obščestvennoj degradacii
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