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Krieg – was sagen die Menschen in Russland?

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben sich zahlreiche liberale Stimmen in Russland entsetzt gezeigt, gerade in Sozialen Netzwerken Schock und Scham geäußert, darunter auch viele Kulturschaffende und Künstler. Laut OWD-Info sind bis Donnerstagnacht in 52 russischen Städten mehr als 1742 Menschen bei Protestaktionen gegen den Krieg festgenommen worden [Stand: 23:57 Ortszeit (MSK)].

Aber wie steht die breite Masse zu diesem Krieg: Glauben die Menschen in Russland, es sei legitim, in die Ukraine einzumarschieren? Hat Putin mit seinem Krieg Unterstützung in der Gesellschaft? Gibt es gar eine ähnliche Euphorie wie 2014? Diese Fragen hat Meduza wenige Tage vor Kriegsbeginn dem Soziologen Denis Wolkow, Direktor des unabhängigen Meinungsforschungszentrums Lewada, gestellt. 

Dazu muss man wissen: Tatsächlich erschienen vielen Menschen in Russland solche Probleme wie Armut und Inflation bislang drängender als geopolitische Themen, die für die Gesellschaft ganz unten auf der Prioritätenliste rangierten.
Hinzu kommt, dass Meinungsumfragen in Russland nur eine begrenzte Aussagekraft haben: Da Menschen in autoritären Systemen Angst haben, eine sozial nicht erwünschte Meinung kundzutun, würden sie häufig das wiedergeben, was sie aus den Abendnachrichten vom Vortag behalten haben, so der Soziologe Grigori Judin: „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen.“ 

Demgegenüber liefert die Soziologie aber handfeste Hinweise, dass Meinungsumfragen die öffentliche Meinung in Russland abbilden können: Wenn Menschen ihre Informationen etwa jahrelang nur aus Propaganda-Medien beziehen, dann ist es naheliegend, dass sie diesen Informationen irgendwann glauben, dann verfestigt sich bei ihnen auch die Meinung, die ihnen schon seit Jahren vorgesetzt wird: Dass die Ukraine etwa vom Westen gesteuert, dass sie eigentlich kein richtiger Staat sei, oder eben dass die „Ukro-Faschisten“ Russen in der Ukraine töten würden – und die Ukraine deshalb, wie Putin es in seiner TV-Rede vor dem Marschbefehl sagte, „entnazifiziert“ werden müsse. 

Wie also steht die russische Gesellschaft zu einem Krieg? Denis Wolkow spricht im Interview vom Dienstag über die Wirkung von Propaganda, Angst und darüber, wie sich die Haltung zu Putin entwickeln könnte. 

Источник Meduza
Denis Wolkow sprach im Interview mit Meduza über die Wirkung von Propaganda, Angst und darüber, wie sich die Haltung zu Putin entwickeln könnte / Foto © duma.gov.ru/wikimedia unter CC BY-SA 4.0

Anastasia Jakorewa: Putin hat in seiner Rede zur Anerkennung der Donezker und Luhansker Volksrepublik [am Montag, 21.02.2022 – dek] gesagt, er sei sicher, dass die Bürger in Russland diese Entscheidung unterstützen werden. Kann man wirklich von einer rückhaltlosen Unterstützung sprechen? 

Denis Wolkow: Die Daten, die wir in den vergangenen Jahren gesammelt haben, geben uns eine grobe Vorstellung davon, wie die Menschen reagieren. Es gibt unterschiedliche Einstellungen zu einem Krieg und zu dem, was da vor sich geht. Die erste: Amerika ist an allem Schuld. Nicht mal die Ukraine, nein, Amerika und der Westen: Die setzen die Ukraine unter Druck, die ihrerseits irgendwas gegen die nicht anerkannten Republiken im Schilde führt – auf deren Seite soll Russland sich einmischen. Denn es geht um die russischsprachige Bevölkerung, um Menschen mit russischen Pässen, also „unsere“ Leute. Es ist eine Situation, in der auf unsere Leute eingeprügelt wird, und natürlich müssen wir ihnen helfen und sie verteidigen. 

In den vergangenen sieben Jahren haben wir die Menschen regelmäßig befragt, welches Schicksal sie für diese Republiken sehen. Ein gutes Viertel sagt, die Republiken müssten unabhängig werden. Ein weiteres Viertel sagt, sie müssten Russland angegliedert werden. Und in etwa ähnlich viele sind für einen Verbleib in der Ukraine. Der Rest ist unentschieden. 

Die Situation wird als Bedrohung dargestellt für das russischsprachige Brudervolk. Beziehungsweise nicht mal für das Bruder-, sondern für das eigene Volk

Es gibt also keine vorherrschende Meinung. Aber als wir gefragt haben: Wenn die Republiken darum bitten, an Russland angegliedert zu werden, sollten wir sie dann angliedern? Da haben etwa 70 Prozent mit „Ja“ geantwortet: Man muss ihnen helfen, und man muss sie aufnehmen. Darum denke ich, dass jetzt, wo die Anerkennung entschieden ist, die Mehrheit diese Entscheidung unterstützen wird – zumal die Situation, wie auch schon 2014, als Bedrohung dargestellt wird für das russischsprachige Brudervolk, beziehunsgweise sogar nicht mal für das Bruder-, sondern für das eigene Volk.
 
Wie groß ist die Angst bei den russischen Bürgern vor westlichen Sanktionen und den damit verbundenen ökonomischen Einbußen?

Die Angst vor Sanktionen, den ersten Schock gab es ganz am Anfang, als sie verhängt wurden. Dann hat man sich mit der Zeit daran gewöhnt. Zusätzlich haben viele der Befragten das Gefühl: Was auch immer Russland tut – Sanktionen wird es so oder so geben, denn der Westen will Russland schwächen und demütigen. So, wie man uns schon 2014 gesagt hat: Wenn es die Krim nicht gäbe, hätten sie sich was anderes ausgedacht. Das ist eine feste Überzeugung, die auf einem Misstrauen gegenüber der US-Außenpolitik gründet – die konnten wir schon Ende der 1990er Jahre feststellen, als die NATO-Osterweiterung begann.

In einem Ihrer Gastbeiträge [Wolkow publiziert regelmäßig in unabhängigen russischen Medien – dek] habe ich gelesen, in Russland würden sowohl diejenigen, die der Staatsführung gegenüber loyal sind, als auch diejenigen, die ihr gegenüber oppositionell eingestellt sind, dem Westen die Schuld für den Konflikt geben. Die Mehrheit beider Gruppen meint, dass Amerika schuld sei – nur die Prozentanteile der Mehrheiten unterscheiden sich. Woher diese Eintracht?

Eine eindeutige Antwort habe ich darauf nicht. Ich denke, hier spielt mit rein, dass man die Konfrontation zwischen Russland und den USA als internationalen Hauptkonflikt wahrnimmt. Das ist ein Ausdruck von Patriotismus. Man muss sich klar positionieren, wo man steht. Und wenn es so einen Konflikt gibt – dann sind natürlich mehr Leute auf der Seite Russlands.

Wobei ja offensichtlich ist, dass diese beiden Gruppen ihre Informationen aus unterschiedlichen Quellen schöpfen.

Das sagt wirklich etwas darüber aus, wie Menschen Nachrichten konsumieren: Über den Konflikt berichten vor allem das Fernsehen und die offiziellen Medien, und sobald Menschen etwas davon interessant finden, dann suchen sie noch nach weiteren Quellen. Zu diesem Thema suchen die Menschen aber anscheinend nicht nach zusätzlichen Quellen. Wie sie auch in den Umfragen sagen: Wenn ich nur etwas über die Ukraine höre, schalte ich sofort um, ich will nichts davon hören, will nichts davon wissen. 

Die Politik gegenüber den „ausländischen Agenten“-Medien beeinflusst auch, wie der Informationsfluss gelenkt wird

Das heißt, bei vielen läuft der Fernseher im Hintergrund, er ist irgendwie einfach da, und dann [sagen die Menschen – dek]: Ich sehe nur fern, und wenn mich diese Geschichte berühren würde, dann würde ich noch was im Internet lesen [unabhängige russische Medien sind fast ausschließlich online zugänglich, wie auch der TV-Sender Doshd dek]. Oder eben nicht.

Die Politik gegenüber den „ausländischen Agenten“-Medien beeinflusst auch, wie der Informationsfluss gelenkt wird. Früher hat es der Fernsehsender Doshd zumindest manchmal in die Top-Suchergebnisse von Yandex geschafft. Ich habe Nachrichten über Alissa [eine von Yandex entwickelte virtuelle Sprachassistentin] gehört. Als all das anfing, hat Alissa plötzlich keine Nachrichten [der „ausländischen Agenten“-Medien – dek] mehr wiedergegeben. 

Wie stehen die Menschen zu einer möglichen Militäraktion [das Interview wurde am 22.02.2022 geführt – dek]?

Schwer vorherzusagen, denn womit können wir es vergleichen? Wir können das nur mit [dem Georgienkrieg] 2008 vergleichen. Worin besteht hier die größte Gefahr? Darin, dass unsere Truppen tatsächlich Gefechte gegen ukrainische Truppen führen. Früher gab es dazwischen einen Puffer; vielleicht waren [russische Truppen im Donbass], aber nicht offiziell ...

Angst, Widerwillen – doch weil die Schuld dafür den anderen zugeschrieben wird: Was sollen wir schon tun?

Wir haben den Menschen folgende Frage gestellt: „Glauben Sie, dass die Situation zu einem Krieg zwischen Russland und der Ukraine führen könnte?“ Ende 2021 hat dies rund eine Hälfte für wahrscheinlich gehalten, und die andere für nicht wahrscheinlich. Die Gefühle diesbezüglich: Angst, Widerwillen – doch weil die Schuld dafür den anderen zugeschrieben wird: Was sollen wir schon tun? Wir wollen Frieden, von den Normalbürgern hängt nichts ab ab. Nicht mal von der russischen Staatsführung hängt [dem öffentlichen Bewusstsein nach] etwas ab. Also sagen die Leute: Ja, wir müssen uns verteidigen, ja, wir dürfen nicht klein beigeben, aber was genau ist dieses Klein-Beigeben – die werden versuchen, uns niederzuwalzen, sollen wir uns da etwa zurückziehen?

In einem Ihrer Gastbeiträge haben Sie geschrieben, die Gesellschaft sei „innerlich auf einen Konflikt vorbereitet“. Auch auf einen militärischen Konflikt?

Im Grunde ja, auf einen militärischen Konflikt. Auch hier gilt es, dass die Gesellschaft latent bereit ist – denn wie lange schon wird darüber gesprochen. Das heißt aber nicht, dass sich diese Haltung nicht ändern wird, dass keine Müdigkeit einsetzt. Es ist unmöglich vorherzusagen, wie sich die Situation entwickeln wird und wie die Menschen darauf reagieren werden. Anfangs wird es wahrscheinlich eine Mobilisierung um den Führer geben. Aber was dann?

Wenn es ein kurzer Krieg wird, dann wird es wahrscheinlich ähnlich wie mit Georgien: Auch damals hatten die Menschen das Gefühl, dass es nicht um Georgien und Russland ging – sondern um die USA und Russland. Und dass wir unsere Brüder gerettet hätten. Wichtig war, dass es schnell vorbei war und niemand das Gefühl von ernsthaften Verlusten hatte.

Ein andauernder Krieg kann [Putins] Zustimmungswerten einen beachtlichen Schlag verpassen, ich kann aber ganz bestimmt nicht vorhersagen, wie sich der Konflikt entwickeln wird. 

Gibt es mögliche Trigger für russische Bürger, wegen derer sie sich scharf gegen einen Krieg wenden würden?

Das ist schwer zu sagen. Ich denke, vor allem eine große Zahl an Opfern oder die Dauer des Konflikts, ein Sich-Hinziehen.

Welche Möglichkeiten sehen die russischen Bürger, um den aktuellen Konflikt zu lösen – außer einen Krieg?

Sie sehen nicht wirklich welche. Am häufigsten haben die Menschen Verhandlungen genannt. Aber man kann nicht sagen, dass sie geglaubt haben, dass daraus etwas wird, dass die Verhandlungen helfen würden, etwas zu zu lösen. Wir wollten, baten, haben vorgeschlagen, aber niemand ist darauf eingegangen – so sehen die Menschen das. 
 
Wenn man die Situation 2014 mit heute vergleicht, worin unterscheidet sie sich?

Die Sorge, die Angst vor einem Krieg, ist größer. Aber auch um die Zivilgesellschaft ist es inzwischen ganz anders bestellt – damals war sie viel freier, viel präsenter, es gab eine Antikriegsbewegung, es gab Oppositionspolitiker, die noch Unterstützung aus den Jahren 2011/2012 in Teilen der Gesellschaft genossen: Boris Nemzow, Alexej Nawalny, eine ganze Reihe. Jetzt ist da niemand, außer Jabloko als Partei – die, ich sag mal so, nicht sehr populär ist. Und: Proteste sind verboten. Auch deswegen sehen wir keine Antikriegsbewegung. Sowohl die unabhängigen Politiker als auch die unabhängigen Medien sind ausgedünnt.

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Krieg im Osten der Ukraine

Zum ersten Mal treffen sich Wladimir Putin und sein ukrainischer Amtskollege Wolodymyr Selensky heute persönlich in Paris. Thema ist der Krieg im Osten der Ukraine, der trotz internationaler Friedensbemühungen seit April 2014 anhält. Er kostete bereits rund 13.000 Menschen das Leben. Steffen Halling zeichnet die Ereignisse nach.

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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Donezker Volksrepublik

Die Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee.

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Grüne Männchen

Als kleine grüne Männchen, manchmal auch höfliche Menschen, werden euphemistisch die militärischen Spezialkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen bezeichnet, die Ende Februar 2014 strategisch wichtige Standorte auf der Krim besetzt haben. Bestritt Moskau zunächst jegliche direkte Beteiligung und verwies auf „lokale Selbstverteidungskräfte“, so gab Präsident Putin später zu, dass es sich dabei um russische Soldaten gehandelt hat. Die grünen Männchen sind inzwischen zu einem kulturellen Symbol geworden.

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