Kriegsspiele für die ganze Familie: Im Freizeitpark Patriot bei Moskau stellen Rollenspieler die Schlacht um Berlin nach. Das russische Verteidigungsministerium hat das Event finanziert, laut Veranstalter kamen rund 10.000 Zuschauer.
Ilja Milschtein zitiert auf Snob.ru zunächst eine begeiserte Reaktion des Massenblatts Komsomolskaja Prawda auf das Event. Und setzt sich dann damit auseinander, weshalb seiner Meinung nach solche Reenactments eher helfen, zu vergessen, statt zu erinnern.
Ein Kriegsberichterstatter versorgt uns mit wertvollen Details:
Das Drehbuch, so der Augenzeuge, zeigt alle Etappen im Kampf um Berlin: die Schlacht um die Seelower Höhen samt Angriffen und Gegenangriffen, Häuserkämpfe, und die Erstürmung des Reichstages … Dann wurde über dem Feld eine Luftschlacht zwischen Jagdflugzeugen eröffnet: Lawotschkin LA-7 gegen Messerschmitt. Tiger rollten gegen unsere T-34er auf, die Infanteristen stießen im Nahkampf aufeinander … Es gab sogar einen Hitler, der dazu aufrief, bis zum bitteren Ende durchzuhalten. Als unsere Kämpfer die Flagge auf dem Dach des Reichstages hissten, tobten die Zuschauerränge in einem einhelligen „Hurra!“.
Nun, so war es doch wahrscheinlich im Frühling 1945, oder etwa nicht? Man erstürmte Höhen, führte Straßenkämpfe, präsentierte den Zuschauern, damit ihnen nicht langweilig wird, anschließend eine Luftschlacht, dann spielten die Kämpfer noch ein bisschen Panzer-Biathlon, während Hitler immerzu nach dem Mikro griff. Und dann, als die Fahne über dem Reichstag gehisst wurde, tobten die Zuschauer auf den Rängen.
Kurz, die in Kubinka bei Moskau versammelten Helden haben diese amüsante, letzte Schlacht bis ins letzte Detail nachgestellt – und Minister Schoigu, würdiger Nachfolger von Marschall Shukow, war nicht umsonst Ehrengast bei diesem lautstarken Jubel- und Frühlingsfest. Dafür wurde den Junarmisten und den mitziehenden erwachsenen Reenactors im Park Patriot extra ein Reichstagsgebäude errichtet, und das war alsbald eingenommen.
Fette Party zur Anerziehung patriotischer Gefühle
So etwas nennt man auch Staffelübergabe der Generationen. Weil aber nicht nur Heerführer, sondern auch Normalbürger die Heldentaten der Väter und Großväter beerben, ist es ausgesprochen wichtig, denen, die den Stab übernehmen, zu zeigen, wie sich das Ganze tatsächlich abgespielt hat. Und zwar anhand von anschaulichen Beispielen – in diesem Sinne war der Sieg über die deutschen Fritze bei Moskau in deren eigener Bastion, dem Berliner Reichstag und Umgebung, eine äußerst sinnvolle Sache. Sowohl als fette Party als auch zur Anerziehung patriotischer Gefühle – die lassen sich bekanntlich am besten unter Panzergeschützdonner, Kampfflugzeuggeheul, Führergeschrei und in Anwesenheit des Verteidigungsministers einimpfen.
Man könnte sogar meinen, es gäbe heute, angesichts der gegenwärtigen Situation, keine wichtigere Aufgabe, als der Jugend beizubringen, dass der Krieg eine wahnsinnig witzige Sache sei. Ein fabelhaftes Spektakel, das unweigerlich in einen überzeugenden Sieg gipfelt. Vor riesigem Publikum und einem Haufen Journalisten.
Panzergeschützdonner, Kampfflugzeuggeheul, Führergeschrei
Etwas Ähnliches passiert gerade im fernen Syrien, und passierte eben noch im ziemlich nahen, heimischen Donbass. Wir erinnern uns: Im Donbass wurden vor drei Jahren gefangengenommene „Faschisten“ genauso durch die Straßen getrieben wie 1944 die Deutschen in Moskau.
Krieg – das ist wahnsinnig cool. Auch wenn wir uns an den Reenactor Strelkow erinnern, der sich später aus dem Staub gemacht hat: Wie er um Slawjansk kämpfte und davon träumte, mit den Truppen bis nach Kiew vorzudringen, um da auch irgendwas zu hissen. Wäre ihm das gelungen, könnten wir in 70 Jahren Sturm auf Kiew spielen.
Ein Sieg vor riesigem Publikum und einem Haufen Journalisten
Überhaupt, das ist echt eine Spitzenidee: ein Sturm auf Berlin im Jahr 2017. In Zeiten von heftigen außenpolitischen Auseinandersetzungen Russlands mit Europa und den USA, die allmählich vom kalten Stadium in ein recht aufgeheiztes übergehen.
Wo Freunde von gestern, wie Erdogan, uns plötzlich ein Messer in den Rücken rammen und zu Feinden werden, nur um dann wieder Freunde zu werden, allerdings irgendwie nicht mehr ganz so zuverlässig.
Wo Feinde von gestern, wie die Amerikaner, plötzlich unseren Busenfreund zum Präsidenten wählen, dieser sich aber plötzlich als Feind entpuppt und unseren allertreuesten Freund bombardiert.
In Zeiten, wo in der Welt alles wackelig und unsicher ist wie eine fünfstöckige Chruschtschowka, sollten die Bewohner der belagerten Festung lieber öfter trainieren: Attrappen europäischer Hauptstädte errichten und sie im Sturm erobern. Das mobilisiert die Stürmer und schweißt zusammen, gleichzeitig dient es dem Feind als mahnende Erinnerung. An unsere vergangenen Siege und an jene, die quasi unausweichlich bevorstehen.
Hauptsache die Feinde erinnern sich und fürchten uns
Hauptsache die Feinde erinnern sich und fürchten uns. Wir hingegen, vom Oberbefehlshaber über Minister Schoigu bis hin zum unbedeutendsten Statisten aus den Massenszenen – wir alle können den realen Krieg ruhig komplett vergessen. Vergessen, wie er wirklich sein kann. Zu welchem Preis der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg errungen wurde. Unsere Großväter, die von der Front nicht zurückgekehrt sind – denn das sind sie doch bei den wenigsten.
Ja, auch den Sturm auf Berlin im Frühling 1945 sollte man ein für alle Mal aus dem Gedächtnis tilgen, um nicht daran denken zu müssen, wie viele sowjetische Soldaten dort in den letzten Tagen, Stunden und Minuten des Krieges gefallen sind.
Daran darf man sich nicht erinnern, andernfalls kämen einem inmitten dieser Riesengaudi, die wir vorgestern in Kubinka beobachten konnten, die Tränen, und die Veranstalter dieses Spiels würden zu Idioten, wenn nicht gar zu Marodeuren. Und auch Minister Schoigu erschiene uns plötzlich als Marodeur, wenn nicht gar als Idiot. Vom Journalisten jenes Klatschblatts ganz zu schweigen.
Aber wozu sollen wir uns die Laune verderben und fremde Menschen beleidigen? Besser, wir schließen uns ihnen an und fühlen uns als Sieger. Oben fliegen hübsche Flugzeuge herum, drüben rollen Panzer, während der tollwütig anmutende nationale Führer sich ganz umsonst die Seele aus dem Leib schreit, denn der ganze Spaß geht schon dem Ende zu.
Die Zuschauer applaudieren und ziehen in freudiger Erwartung neuer Spektakel davon. Noch wurde ja die Schlacht im Kursker Bogen nicht nachgestellt, Stalingrad nicht neu errichtet, die Leningrader Blockade nicht durchbrochen – und das ist nur der Zweite Weltkrieg. Man denke nur an all die anderen Kriege und Schlachten, für jede davon ließe sich ein mitreißendes Szenario erfinden, mit großem Geballer und allem Pipapo. In der belagerten Festung weiß man sich zu amüsieren, und tut es gern, indem man lustig die Zeit totschlägt. Unser Korrespondent deckt sich schonmal ein mit Dienstreiseanträgen, Metaphern und Popcorn.