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Debattenschau № 84: Holocaust-Gedenken an russischen Schulen

In ganz Russland wird rund um den Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar eine „Gedenkwoche für die Opfer des Holocaust“ veranstaltet. Der 27. Januar 1945 ist für Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion zudem ein symbolisches Datum: Es war die Rote Armee, die an diesem Tag das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit hat. Im Vorfeld dieses Jahrestages war in Russland nun eine Debatte um das Gedenken an den Schulen im Land hochgekocht.  

  1. Was genau wird diskutiert?

    Den Schulen kommt in Russland für die Gedenkwoche an den Holocaust eine gewichtige Rolle zu. Unterstrichen wurde das bisher dadurch, dass es einen vom russischen Bildungsministerium festgelegten Termin im offiziellen Bildungskalender gegeben hat – als Ausgangspunkt für Schulprojekte und Veranstaltungen zum Holocaust. Tatsächlich ist es so, dass viele Lehrerinnen und Lehrer sich stark nach solchen Vorgaben aus dem Ministerium, also „von oben“, richten. Doch dieser Termin sollte zum aktuellen Schuljahr wegfallen – was unter Vertretern der jüdischen Gemeinde, Historikern und Bürgerrechtlern Empörung ausgelöst hat. Erst einen Tag vor dem weltweiten Gedenktag hat das russische Bildungsministerium seinen Beschluss revidiert und das Datum kurzfristig wieder aufgenommen.
    Gut möglich, dass die Debatte dies mitbefördert hat. Angestoßen wurde sie Ende des Jahres auf der Internationalen Konferenz zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus Die Zukunft schützen in Moskau.

  2. Warum ist das so wichtig?

    Man muss sich vergegenwärtigen, welche Bedeutung der Gedenkwoche in Russland zukommt: Sie wird seit mittlerweile acht Jahren mit zahlreichen Veranstaltungen, Lesungen, Filmvorführungen und Gesprächsrunden begangen und gibt dem Holocaust in der Erinnerungsarbeit einzigartigen Raum. Nicht nur mit Blick auf das weltweite Gedenken, sondern weil die Opfer auch millionenfach in den von Nazis besetzten Gebieten der früheren Sowjetunion systematisch ermordet wurden, also auch auf dem Gebiet des heutigen Russlands. Gerade Schulen spielen in der landesweiten Gedenkwoche und in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust eine wichtige Rolle – deshalb hat das Thema so hohe Wellen geschlagen. Auch der Menschenrechtsrat hatte sich eingeschaltet und an Präsident Wladimir Putin appelliert.
    Zu Sowjetzeiten war der Holocaust nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert, da die sowjetische Führung Opfer zu „friedlichen Sowjetbürgern“ und „antifaschistischen Widerstandskämpfern“ nivellierte; den Holocaust also aussparte.
    Zugleich ist der 27. Januar für Russland im Kontext des Zweiten Weltkriegs aus einem weiteren Grund ein zentrales Datum: An diesem Tag gelang 1944 nach rund 28 Monaten die Befreiung Leningrads aus der Blockade.
    In Russland gab es in den vergangenen zehn Jahren eine weit größere Offenheit für die differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte und dem Holocaust. Unterschiedliche Akteure haben das in Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen gefördert, darunter jüdische Organisationen, Gemeinden sowie das Zentrum Holocaust, das die traditionelle Gedenkwoche mitorganisiert. Als Motor gelten ebenso zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, darunter Hobbyhistoriker oder Geschichtslehrer, die dafür sorgen, die Verbrechen regional aufzuarbeiten und der Opfer zu gedenken. 

  3. Und nun?

    Präsident Putin hat auf die Kritik reagiert und gesagt, es sei „offensichtlich“, dass an die Gräueltaten der Nazis an der jüdischen Bevölkerung erinnert werden müsse: „(...) das sollten wir natürlich im Gesamtbild der Verbrechen, die die Nazis in der Welt und in unserem Land begangen haben, nicht vergessen.

    Putin hatte dahingehend keine konkrete Zusage gemacht; kurz vor dem Internationalen Gedenktag ließ das russische Bildungsministerium allerdings mitteilen, dass der Tag wieder in den Bildungskalender aufgenommen wird. 

dekoder zeichnet die Debatte nach, die es rund um den Wegfall des Termins gegeben hat. Historiker und Vertreter der jüdischen Gemeinde fragen sich: Ist der Wegfall des Datums im Bildungskalender Ausdruck eines großpolitischen Shifts in der Erinnerungs- und Geschichtspolitik? Oder kann man an einen „technischen Fehler“ glauben, wie vom Bildungsministerium zwischenzeitlich mitgeteilt? Wie steht es damit um das Gedenken an den Holocaust in russischen Schulen? Und welche Folgen kann das für das Wissen zum Holocaust bei den Schülerinnen und Schülern haben?

Источник dekoder

Kehren wir nicht zum alten Ideologem zurück?

Ilja Altman, Historiker und Mit-Gründer des Zentrums Holocaust, ging in einem Gastbeitrag in der Nesawissimaja Gaseta der Frage nach, was das für den Umgang mit dem Holocaust insgesamt heißen könnte:

Deutsch
Original
Warum wurde also der 27. Januar aus dem Bildungskalender gestrichen? Als wir im Juni davon erfuhren, wandten wir uns an Bildungsminister Sergej Krawzow. Ein paar Monate lang versicherten die Mitarbeiter dem Zentrum Holocaust, dass es sich um einen technischen Fehler handle. Im September fragten wir wieder beim Bildungsministerium nach – mit der Bitte um eine offizielle Antwort. Die erfolgte im Oktober. In dem Schreiben hieß es, es gebe in unserem Land bereits einen Gedenktag am 22. Juni, und ein neues Datum sei hinzugekommen: der 19. April zum Gedenken des Genozids am sowjetischen Volk. Nach Ansicht des Ministeriums genüge das, um aller Opfer des Nationalsozialismus gebührend zu gedenken. 
Eine solche Interpretation der nationalsozialistischen Politik in den besetzten sowjetischen Gebieten verdient eine eigene Diskussion. In Russland bildete sich in den vergangenen zwei Jahren eine Tendenz heraus, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – in den Nürnberger Prozessen so qualifiziert – als „Genozid am sowjetischen Volk“ zu bezeichnen. Die Verwendung dieses Begriffs nach dem Prinzip der Staatsbürgerschaft der Opfer anstelle ihrer ethnischen Zugehörigkeit höhlt unserer Meinung nach seinen Gehalt komplett aus.

Schulbehörden erhielten im Frühling dieses Jahres [gemeint ist 2021 – dek.] didaktische Empfehlungen für einheitliche Stundenentwürfe zum 19. April. Es ist kein Zufall, dass es darin hieß, den Genozid am sowjetischen Volk hätten die Nazis und ihre Gehilfen an der friedlichen Bevölkerung ungeachtet ihrer Nationalität und ethnischen Zugehörigkeit vollzogen. Kehren wir damit nicht zu dem Ideologem zurück, dass nicht Juden, sondern „friedliche sowjetische Staatsbürger“ in Babyn Jar und in den zahllosen anderen Gräben auf den besetzten Gebieten ermordet wurden?

Так почему же дату 27 января изъяли из календаря? Узнав об этом в июне, мы обратились к министру просвещения Сергею Кравцову. В течение нескольких месяцев сотрудники Минпроса убеждали центр «Холокост», что это техническая ошибка. В сентябре мы повторно обратились в Министерство просвещения с просьбой дать официальный ответ. Он последовал в октябре. В письме сообщалось, что в нашей стране есть День памяти 22 июня и появилась новая дата – 19 апреля, День памяти геноцида советского народа. По мнению министерства, этого достаточно для того, чтобы почтить память всех жертв нацизма.

Подобная трактовка нацистской политики на оккупированной территории СССР заслуживает отдельной дискуссии. В России в последние два года активизировалась тенденция называть воинские преступления и преступления против человечности – именно так они были квалифицированы Нюрнбергским трибуналом – «геноцидом советского народа». Трактовка этого термина по принципу гражданства, а не этнической принадлежности жертв, на наш взгляд, полностью выхолащивает его содержание.

Не случайно в методических рекомендациях, которые получили органы образования весной этого года по проведению единых уроков 19 апреля, говорилось о том, что геноцид советского народа нацисты и их пособники проводили независимо от национальной и этнической принадлежности мирных жителей. Не возвращаемся ли мы к идеологеме, что не евреи, а «мирные советские граждане» были казнены в Бабьем Яру и бесчисленных ярах на всей оккупированной территории?

erschienen am 05.12.2021, Original

Es findet sich alles in den Geschichtsstunden

Auf ein formelles Gesuch des Menschenrechtsrates, den Gedenktag als Termin in den Bildungskalender wieder aufzunehmen, äußerte sich das russische Bildungsministerium bei RIA Nowosti noch vor wenigen Wochen ohne eine Zu- oder Absage. Stattdessen wurde auf bestehende Lehrpläne verwiesen:

Deutsch
Original
Der Große Vaterländische Krieg, die Helden und Verteidiger des Vaterlandes, die von der Nazi-Armee begangenen Verbrechen gegen die Menschheit, der Generalplan Ost, die Nazi-Politik des Genodzids und Holocausts, Raub und Vernichtung von Kulturgütern durch die faschistischen Invasoren – all das durchzieht das Curriculum, wie sich sowohl an den Unterrichtsvorlagen zeigt, als auch an den konkreten Geschichtsstunden, wie sie an den Schulen im ganzen Land stattfinden. Darunter fallen auch Unterrichtseinheiten des allrussischen Curriculums sowie Aktionen und Veranstaltungen‘, heißt es in einer Presseerklärung.

Mit dem Beschluss des Bildungsministeriums der Russischen Föderation vom 23. Oktober 2020 wurde das Konzept für den Unterricht „Russische Geschichte“ in den allgemeinen Bildungseinrichtungen der Russischen Föderation genehmigt, heißt es weiter in der Erklärung.

Das Konzept folgt konsequent einem historisch-kulturellen Standard und enthält Ergänzungen, die das Wesen des NS-Besatzungsregimes in den besetzten Gebieten der UdSSR, die Mechanismen der Nazi-Propaganda, die ethnischen Säuberungen in den besetzten Gebieten der UdSSR, die Tragödie der sowjetischen Kriegsgefangenen, den Massenmord an Kriegsgefangenen, die medizinischen Experimente an Gefangenen in den NS-Konzentrationslagern und Ghettos sowie die Verschleppung sowjetischer Menschen nach Deutschland widerspiegeln, betont der Pressedienst.

"Великая Отечественная война, герои и защитники отечества, преступления против человечества, учиненные нацисткой армией, план "Ост", нацистская политика геноцида и холокоста, разграбление и уничтожение культурных ценностей фашистскими захватчиками - все эти вещи проходят сквозь школьную программу, что отражено как примерными программами, так и реальными уроками истории, проводимыми в школах по всей стране, включая серии всероссийских уроков, акций и мероприятий", - отмечается в сообщении пресс-службы.

Решением Коллегии Минпросвещения РФ от 23 октября 2020 года одобрена Концепция преподавания учебного курса "История России" в образовательных организациях Российской Федерации, реализующих основные общеобразовательные программы, говорится в сообщение.

В Историко-культурный стандарт, являющийся составной частью Концепции, внесены дополнения, отражающие сущность нацистского оккупационного режима на захваченных территориях СССР, характер нацистской пропаганды, этнические чистки на оккупированной территории СССР, трагедию советских военнопленных, массовое уничтожение военнопленных, медицинские эксперименты над заключенными нацистских концентрационных лагерей и гетто и угон советских людей в Германию, подчеркивает пресс-служба.

erschienen am 01.12.2021, Original

Auf das Gedenken gespuckt 

Alla Gerber ist Vorsitzende der Stiftung Holocaust in Russland und seit Jahrzehnten in der Erinnerungsarbeit zum Holocaust aktiv. Auf den Wegfall des Termins reagierte sie empört:

Deutsch
Original
Damit wird auf das Gedenken an sechs Millionen Leben gespuckt, die die Nazis ausgelöscht haben, und ebenso auf die Befreier des Konzentrationslagers. Der 27. Januar ist ein international anerkanntes Datum, an dem man der Opfer des Holocaust und der Helden des Widerstands gedenkt, der Tag der Befreiung von Auschwitz. 
«Это плевок в память о 6 миллионах жизней, загубленных нацистами, о тех, кто освобождал концлагеря. 27 января – международно-признанная дата, день памяти жертв Холокоста и героев сопротивления, дата освобождения концлагеря Аушвиц.»

erschienen am 03.12.2021, Original

Und was kommt dabei heraus? Tapetenkleister?

Juri Kanner, Vorsitzender des Russischen Jüdischen Kongresses, meinte, dass Schülerinnen und Schüler dadurch weniger über den Holocaust lernen. Bisher bot der Gedenktag für Schulen, Lehrerinnen und Lehrer den Anlass, am Gedenktag ausgerichtet spezielle Unterrichtseinheiten anzubieten. Kanner äußerte die Befürchtung, dass dies nun – andersrum – sogar eher ausgespart werden könnte:

Deutsch
Original
Das Streichen dieses Datums aus dem Bildungskalender entzieht Lehrern die normative Grundlage für ihren Unterricht zur Gedenkwoche für die Opfer des Holocaust, die in Russland seit 2015 alljährlich begangen wird, dieses Jahr in 75 Regionen. Entsprechende Schulstunden können jetzt jederzeit vom Direktor verboten oder – wenn er erst im Nachhinein davon erfährt – mit Disziplinarmaßnahmen bestraft werden. 

Und was kommt dabei heraus? Tapetenkleister?

Holocaust – ist das ein Tapetenkleister? Das ist kein Scherz, sondern der Titel eines Films, der mit Unterstützung des Russischen Jüdischen Kongresses gedreht wurde. Erstmals wurde er 2013 beim 35. Internationalen Filmfestival in Moskau gezeigt. Der Film hatte eine enorme Wirkung und zog eine lebhafte Debatte nach sich. Worum ging es in dem Film? Die Schwestern Xenia und Jewgenia Karatygin aus der Oblast Wladimir hatten an der Fernsehshow Besumno krassiwyje des Senders Mus-TV teilgenommen und auf die Quizfrage Was ist der Holocaust? geantwortet, das sei ein Tapetenkleister. Die Originalsequenz mit dieser Antwort wurde zum Youtube-Hit. Der Regisseur Mumin Schakirow machte die beiden ausfindig und fuhr mit ihnen nach Auschwitz. Er filmte ihre Reaktionen auf das, was sie dort sahen. Der Film war sehr erfolgreich, sowohl in Russland als auch international. Am 22. Juni 2016 wurde Holocaust – ist das ein Tapetenkleister? auf NTW gezeigt.   

Ich hoffe, dass es in Russland heute weniger Leute gibt, denen der Holocaust unbekannt ist. Das ist das Ergebnis einer langjährigen Zusammenarbeit von Staat und Zivilgesellschaft.

Исключение даты из образовательного календаря лишает нормативной базы учителей, проводящих в школах уроки во время «Недели памяти жертв Холокоста», которая с 2015 года проходит в России ежегодно, и в этом году охватила 75 регионов. Любой директор школы теперь может запретить такой урок или — узнав о нем постфактум — наложить на учителя дисциплинарное взыскание.

И что мы получим? Клей для обоев?

‘Холокост — клей для обоев?’ — это не шутка, а название снятого при поддержке РЕК фильма, премьера которого прошла в 2013 году на 35-м Московском международном кинофестивале. Фильм произвел ошеломляющий эффект и вызвал волну обсуждений. Напомню сюжет. Сестры Ксения и Евгения Каратыгины из Владимирской области, участвуя в программе «Безумно красивые» на канале «Муз-ТВ», на вопрос викторины «Что такое Холокост?» ответили, что это клей для обоев. Фрагмент с этим оригинальным ответом попал в топ youtube, а кинорежиссер Мумин Шакиров разыскал сестер и отвез девушек в Освенцим. Снял их реакцию на то, что они увидели, как пережили. Фильм имел большой успех и в России, и за границей. 22 июня 2016 года фильм «Холокост — клей доя обоев» был показан на НТВ.

Надеюсь, сейчас в России все меньше людей, которые не знакомы с историей Холокоста, и это результат многолетней совместной работы государства и гражданского общества.

erschienen am 08.12.2021, Original

Das vornehme Schweigen aus dem Ministerium

Der Historiker Artjom Rudinzki setzte sich damit auseinander, warum der Holocaust zu Sowjetzeiten im Kriegsgedenken keinen Platz fand – und wundert sich über das russische Bildungsministerium heute:

Deutsch
Original
… [Der Menschenrechtsrat – dek] empfahl dem Bildungsministerium, diesen Gedenktag wieder in den Bildungskalender aufzunehmen. 
Die Beamten [dort – dek] hüllten sich bezüglich ihrer Gründe in vornehmes Schweigen. Anstelle einer deutlichen Antwort lehnten sie das Gesuch formell bürokratisch mit einem Schreiben ab. Die Kernaussage: Der Lehrplan enthalte bereits alles, was notwendig sei, und im Bildungskalender befänden sich auch ohne Holocaust genügend Jahrestage. 

In der Sowjetzeit war alles klar: Der Holocaust wurde aufgrund des staatlichen Antisemitismus, des Bruchs mit Israel und des Kampfs gegen den Zionismus (den man für einen Handlanger des amerikanischen Imperialismus hielt – oder umgekehrt) verschwiegen. Über die massenhafte Vernichtung der Juden sprach man nicht, und wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand. 
Die Besatzer haben bestialisch gewütet und das gesamte sowjetische Volk niedergemetzelt. Doch in erster Linie traf es die Juden. Die hatten überhaupt keine Chance. Ghettos und Vernichtungslager wurden speziell für sie errichtet. Das zu erwähnen, passte aber nicht in das starre Schema der sowjetischen „Geschichtspolitik“. Eine unpassende Klammer.

Gott behüte, dass wir dorthin zurückkehren.

Der Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust ist der 27. Januar 1945, der Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee. Er war Symbol und Meilenstein unserer Befreiungsmission in Europa. Und es gibt keinen Grund, ihn aus dem Gedächtnis zu streichen.

И предложил Минпросвету восстановить в школьных программах этот день памяти. Чиновники о причинах своего решения скромно умолчали. Вместо внятного ответа, если выражаться бюрократическим новоязом, «отписались». Смысл такой: в школьной программе все, что надо, отражено, а в календаре образовательных событий и воспитательной работы хватает дат и без Холокоста.

В советские времена все было ясно. Холокост замалчивали из-за государственного антисемитизма, разрыва отношений с Израилем, борьбы с сионизмом, который считался подручным американского империализма (или наоборот). О массовом уничтожении евреев не говорили, а если говорили, то сквозь зубы. Оккупанты зверствовали страшно, и осуществляли геноцид всего советского народа. Но евреи были приоритетом. У них вообще не было шанса. Гетто и лагеря уничтожения создавали специально для них. Упоминание об этом не влезало в прокрустово ложе советской «исторической политики». Не та скрепа.
Не дай бог к этому вернуться.

Международный день Холокоста – это 27 января 1945 года, день освобождения Освенцима Красной армией. Это знаковое событие, один из символов нашей освободительной миссии в Европе. И нечего вычеркивать его из памяти.

erschienen am 03.12.2021, Original

Zusammenstellung: dekoder-Redaktion
Übersetzung: Ruth Altenhofer, Friederike Meltendorf

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Erinnerung an den Holocaust im heutigen Russland

„Die Russen haben mich gerettet und durchgebracht.“ So heißt es in einem Brief des Auschwitzgefangenen Otto Frank an seine Mutter in Basel. Er ist datiert auf den 23. Februar 1945, also weniger als einen Monat nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee. Frank konnte gerade wieder einen Stift in der Hand halten. Dass eben jener Otto Frank im Jahr 1947 das Tagebuch seiner Tochter Anne veröffentlichte, ist bekannt. Dass er selbst von sowjetischen Soldaten und Ärzten gerettet und behandelt wurde, hingegen weniger.

Geschichten wie diese, die einen Bezug zwischen der Sowjetunion und dem Holocaust herstellen, blieben in der Sowjetunion und später auch in Russland lange unerzählt. Die UdSSR sah sich selbst als Hauptopfer der nationalsozialistischen Verbrechen, weswegen der Begriff Holocaust aus politischen Gründen nicht benutzt und der Mord an den europäischen Juden nicht öffentlich thematisiert wurde – obwohl zahlreiche Opfer des Holocausts sowjetische Staatsbürger waren. In Russland gab es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion lange ebenfalls kein staatliches Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Holocaust, sodass zivilgesellschaftliche Gedenkinitiativen einerseits und Holocaustleugner andererseits das Feld besetzten. Mittlerweile ist es russischen Politikern zwar ein Anliegen, die Rolle der Roten Armee bei der Rettung der Juden zu betonen, doch weiterhin gibt es in Russland bis heute keinen Gedenktag an die Opfer des Holocausts, keinen eigenen Strafrechtsparagraphen für seine Leugnung und nur wenige Denkmäler für die auf dem Gebiet des heutigen Russlands ermordeten Juden. 

РУССКАЯ ВЕРСИЯ

Noch während des Zweiten Weltkriegs wurde in der UdSSR der offizielle Standpunkt formuliert, alle Bewohner des Landes hätten – unabhängig von ihrer Nationalität – gleichermaßen unter den NS-Verbrechen gelitten. Schon im Februar 1944 war in der amtlichen Untersuchung des Massakers von Babyn Jar nur die Rede von der Ermordung „friedlicher Sowjetbürger“1. Vor dem Hintergrund des spätstalinistischen Antisemitismus und der anschließenden Verschlechterung der Beziehungen zu Israel kam es dann faktisch zum „Vergessen des Holocausts“. Darüber, dass der Genozid an den Juden eine besondere Stellung unter den NS-Gräueltaten einnimmt, wurde kaum gesprochen; das Wort Holocaust kam weder in der Propaganda noch in Schulbüchern oder in der Kunst vor.

Erst während der Perestroika trat allmählich ein Wandel ein. Doch selbst 1992, im Gründungsjahr des Russischen Forschungs- und Bildungszentrums Holocaust, war dieser Begriff noch weitgehend unbekannt. Und es dauerte bis Mitte der 1990er Jahre, ehe das Gedenken an den nationalsozialistischen Genozid als Anliegen des russischen Staates – und nicht nur als eines der jüdischen Gemeinden – erörtert wurde. 

Zugleich konnte man Russland noch zu Beginn der 2000er Jahre als internationale Hochburg der Holocaustleugnung bezeichnen. Zwar gehörte die sowjetische Politik eines staatlichen Antisemitismus der Vergangenheit an, doch man ging nicht konsequent gegen antisemitische Bestrebungen vor: Insbesondere Schriften westlicher Holocaustleugner konnten in Russland offen publiziert und verkauft werden.

Erst 2003 tauchte der Begriff „Holocaust“ erstmals im staatlichen Rahmenplan für den Geschichtsunterricht an weiterführenden Schulen auf.2 Das führte dazu, dass in vielen Schulbüchern einzelne Aspekte der Shoah dargestellt wurden.3 Doch Bestandteil der Einheitlichen Staatlichen Abschlussprüfung ist das Thema erst seit 2011. 

Widersprüchliche Erinnerungspolitik

Dass so viel Zeit verging, bis der Holocaust Eingang in den schulischen Lehrplan fand, entspricht dem komplizierten Verhältnis der russischen Regierung und Gesellschaft zu dem Thema. Einerseits hebt die russische Führung in offiziellen Verlautbarungen immer wieder die Bedeutung des Gedenkens an dieses NS-Verbrechen hervor. So hat Wladimir Putin den Holocaust letztes Jahr nicht nur in seinem Artikel 75 Jahre Großer Sieg: Gemeinsame Verantwortung für Geschichte und Zukunft4 erwähnt, sondern auch in seiner Rede bei der Siegesparade 2020.5 Das zeigt, dass der Holocaust auf Staatsebene erstmals überhaupt als integraler Bestandteil des Großen Vaterländischen Krieges wahrgenommen wird.

In diesen Reden werden jedoch immer wieder drei Thesen vorgebracht. Erstens wird der Holocaust zwar als schreckliches Verbrechen bezeichnet. Doch wird dabei darüber hinweggegangen, dass er sich nicht nur in Europa, sondern auch auf dem Territorium der UdSSR und des heutigen Russland abgespielt hat.6 Zweitens wird die Beteiligung baltischer und ukrainischer Kollaborateure an diesem Verbrechen benannt, während die russischen und belarussischen keine Erwähnung finden. Und drittens wird schließlich auf die entscheidende Rolle der Roten Armee bei der Rettung der europäischen Juden hingewiesen. 

Erbe der sowjetischen Geschichtsschreibung

Das Schweigen über den Holocaust auf dem Territorium Russlands ist offenkundig ein Erbe der sowjetischen Geschichtsschreibung, die die Vernichtung der sowjetischen Juden verschwieg. Die beiden anderen Thesen stehen hingegen im Zusammenhang mit der heutigen politischen Lage. Russlands Beziehungen zu vielen postsowjetischen Ländern gestalten sich äußerst schwierig. Dabei wird der Holocaust als Argument herangezogen, um die russische politische Position zu rechtfertigen. Darauf beruht auch das russische Vorgehen gegen die Heroisierung von NS-Erfüllungsgehilfen in den betreffenden Ländern, die dort mitunter vor allem als Kämpfer gegen die Sowjetunion gelten und entsprechend positioniert werden (etwa durch die Verleihung hoher staatlicher Auszeichnungen, Umbenennung von Straßen und Stadien, Errichtung von Denkmälern oder Kundgebungen von SS-Legionären). 

Auch das Verhältnis Russlands zu den westlichen Ländern ist kompliziert. Russische Politiker und Medien heben daher immer wieder die Rolle der Roten Armee bei der Rettung der europäischen Juden hervor und bedienen zugleich die Vorstellung, diese werde in den USA und Europa totgeschwiegen. 

Zugleich ist die UNO-Resolution zur Einführung eines internationalen Holocaust-Gedenktages in Russland bis heute nicht umgesetzt worden, obwohl es 2005 selbst zu den Initiatoren dieser Resolution gehörte.7 Auch wiederholte Appelle des Holocaust-Zentrums sowie jüdischer und Menschenrechtsorganisationen, die sich immer wieder einzeln und gemeinsam an die russischen Behörden wandten, konnten daran nichts ändern. Dabei war das neue Datum als Nationaler Gedenktag für die Opfer des Holocaust und die soldatischen Befreier der Nazi-Todeslager vorgeschlagen worden – sprich, in einer Formulierung, die mit dem offiziellen Diskurs über den Krieg sehr gut vereinbar gewesen wäre. Doch die letzte offizielle Antwort der russischen Präsidialverwaltung lautete, es gebe in Russland bereits einen Gedenktag, der alle mit einbeziehe: nämlich den 22. Juni, den Beginn des Großen Vaterländischen Krieges

Vor diesem Hintergrund der widersprüchlichen Erinnerungspolitik ist es nicht allzu verwunderlich, dass die Leugnung des Holocaust in Russland, anders als in vielen europäischen Ländern, nicht strafrechtlich verfolgt wird.8 Sie steht vielmehr in einer Reihe mit der „Heroisierung“ von Kollaborateuren und der „Leugnung der Rolle der UdSSR beim Sieg über den Nationalsozialismus“. So leugnen denn auch einige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und sogar Universitätsprofessoren offen den Holocaust. Der Versuch, den Permer Aktivisten Roman Juschkow wegen Rehabilitierung des Nationalsozialismus strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, endete mit seinem Freispruch durch die Geschworenen. Juschkow forderte daraufhin zynisch eine Entschädigung in Höhe von 6 Millionen Rubel – eine Anspielung auf die angeblich „erdichtete“ Zahl der Holocaust-Opfer.9

Wladimir Matwejew, Professor an zwei Sankt Petersburger Universitäten, erklärte bei einem Vortrag vor Lehrern in der Region Leningrad am Vorabend des Internationalen Holocaust-Tages 2021 rundheraus, der Genozid an den Juden sei eine Erfindung. Den russischen Staatsorganen ist zugute zu halten, dass der Leugner in diesem Fall umgehend entlassen und vor Gericht gestellt wurde.10

Museen, Wissenschaft, Bildung

Das ambivalente Verhältnis zum Gedenken an den Holocaust zeigt sich auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens. So wurde 1998 in Moskau das Museum für jüdisches Erbe und den Holocaust eröffnet, wobei auch der damalige russische Präsident Boris Jelzin anwesend war. Trotz der Bezeichnung wird dem Genozid an den Juden in der Ausstellung nur wenig Platz eingeräumt. Auch die Initiative des Holocaust-Zentrums, in Moskau ein eigenes staatliches „Holocaust-Genozid-Toleranz“-Museum einzurichten, wurde nicht umgesetzt. Allerdings entstand daraus zunächst eine kleine Dauerausstellung über den Holocaust im (2005 eröffneten) Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges, und später wurde in Moskau das Jüdische Museum und Zentrum für Toleranz gegründet. An den Veranstaltungen dieses Museums hat wiederholt der russische Präsident teilgenommen, was breiten Niederschlag in der Berichterstattung der russischen Medien fand. In den Geschichts- und Heimatmuseen der ehemals von NS-Deutschland besetzten Regionen kommt das Thema Holocaust bis auf wenige Ausnahmen hingegen nicht vor.

Wladimir Putin bei einem Besuch des Jüdischen Museums und Zentrums für Toleranz in Moskau, 2019 / Foto © kremlin.ru

Ein weiteres Beispiel ist die wissenschaftliche Erforschung des Holocaust. Einerseits konnten russische Wissenschaftler in den letzten Jahren Dokumente auswerten, die bis Anfang der 1990er Jahre unter Verschluss waren, und konnten so die Forschung erheblich voranbringen.11 Dank ihrer Arbeit entstand die Enzyklopädie Der Holocaust auf dem Territorium der Sowjetunion12 – ein Nachschlagewerk von über 1000 Seiten, an dem fast 100 Forscher mitgewirkt haben, darunter Vertreter von 15 russischen Universitäten.13 Andererseits findet diese Enzyklopädie in der akademischen Geschichtsschreibung immer noch selten Verwendung, und in allgemeinen Darstellungen zur Geschichte des NS-Besatzungsregimes wird dem Holocaust nicht der ihm zustehende Stellenwert eingeräumt. Auch in Schul- und Universitätslehrbüchern weist die Darstellung des Genozids nach wie vor erhebliche Lücken auf. 

Bis heute ist die wissenschaftliche und pädagogische Literatur ganz überwiegend nicht bereit, anzuerkennen, dass der Holocaust als Versuch, ein ganzes Volk vollständig auszulöschen, ohne Beispiel ist. Die Juden werden unter den übrigen Opfern aufgeführt, in der Regel nach den slawischen Völkern. Nicht durchgesetzt hat sich in Russland auch die These von der Universalität des Holocausts, die im Westen für die Erforschung des Zweiten Weltkriegs und die Genozidforschung eine zentrale Rolle spielt. Dabei geht es um die Bedeutsamkeit der Erkenntnisse aus dieser Tragödie für die Auseinandersetzung mit anderen Genoziden der jüngeren Geschichte.14 

„Friedliche Sowjetbürger“

Die sowjetische Tradition, die Opfer des Holocaust unter die umgekommenen „friedlichen Bürger“ zu subsumieren, macht sich auch dort bemerkbar, wo der ermordeten Juden gedacht werden soll. Es gibt in Russland Hunderte von Stätten, an denen Massenexekutionen von Juden stattfanden. In den allermeisten Fällen befinden sich an diesen Orten keine Denk- und Mahnmäler, die auf die ethnische Zugehörigkeit der Opfer hinweisen. Das Bestreben, daran etwas zu ändern, geht von der russischen Zivilgesellschaft aus. 2009 wurde das Projekt Die Würde zurückgeben ins Leben gerufen. Dank dieser Initiative konnten mit Unterstützung der lokalen Behörden bereits rund 90 Mahnmale mit den Namen der Opfer sowie Gedenktafeln errichtet werden. So wurde 2011/2012 im Dorf Ljubawitschi in der Region Smolensk, das vor einigen Jahrhunderten ein bedeutendes Zentrum des Judentums war, ein eigenes Denkmal für die Opfer des Holocaust eingeweiht.

Etwa zur gleichen Zeit, im November 2011, wurde jedoch auch erstmals in der Geschichte des heutigen Russlands eine bereits errichtete Gedenktafel mit einem Text zu den Opfern des Holocaust wieder demontiert. Dies geschah in Rostow am Don, am Ort des „russischen Babyn Jar“ – der größten Massenerschießung von Jüdinnen und Juden auf dem Territorium, das heute russisches Staatsgebiet ist. Die Tafel wurde auf Beschluss des Bürgermeisters angebracht und von dem ihm unterstellten Leiter des Kulturamts wieder entfernt. Auf der neuen Tafel war anstelle von Juden wieder die Rede von „friedlichen Sowjetbürgern“. Dieser Akt der „Entjudaisierung des Holocaust“15 führte zu Diskussionen in der Region und im Internet und sogar zu einem Gerichtsverfahren. 2014 wurde schließlich noch einmal eine neue Gedenktafel angebracht, auf der zwar die Juden genannt werden, nicht jedoch das Wort „Holocaust“.

Holocaust oder „Genozid am sowjetischen Volk“

Diese ablehnende Einstellung gegenüber dem Wort „Holocaust“ ist im jetzigen Russland jedoch eher die Ausnahme. Der Begriff ist nicht mehr tabu wie zu Sowjetzeiten; im Gegenteil wird reger Gebrauch von ihm gemacht. Paradoxerweise lässt seine Popularisierung sich sehr gut mit der Renaissance der sowjetischen Interpretation der Geschehnisse in Einklang bringen. Man muss das Wort „Holocaust“ dazu nur auf andere Tragödien ausweiten. 

So veröffentlichte die Russische Militärhistorische Gesellschaft (RWIO) unter der Leitung des früheren Kulturministers Wladimir Medinski 2019 die Zusammenfassung eines Fachvortrags unter der Überschrift „In der RWIO wurde berichtet, wie die Nazis den slawischen Holocaust vorbereiteten“16. Formulierungen, die das Wort „Holocaust“ verwenden, sind keine Seltenheit. Sie können sich auf Ereignisse aus verschiedenen historischen Perioden beziehen und müssen nicht einmal im Zusammenhang mit dem Krieg stehen. Von dem Historiker Michail Mjagkow, dem wissenschaftlichen Direktor der RWIO, stammt die Aussage: „Faktisch waren die Sowjetbürger ebenso Opfer eines Genozids wie das jüdische Volk.“17

Diese begriffliche Dehnung und Gleichsetzung aller in den besetzten Gebieten von den Nationalsozialisten ermordeten Menschen mit den Opfern des Genozids wird auch durch Ermittlungen befördert, bei denen NS-Verbrechen 75 Jahre nach Kriegsende neu untersucht werden. 1942 fanden bei dem Dorf Shestjanaja Gorka in der Region Nowgorod Massenerschießungen statt. Die Opfer stammten aus der lokalen Bevölkerung und nur eine relativ kleine Anzahl von ihnen war jüdisch. Im Jahr 2019 leiteten die Ermittlungsbehörden eine Untersuchung dieses Falls ein. Das Geschehen selbst und die Hinrichtungsstätte waren bereits 1947 bei einem Prozess gegen deutsche Kriegsverbrecher festgehalten worden. Die Entscheidung des lokalen Gerichts am 27. Oktober 2020 stützte sich – erstmals bei einer Verhandlung über die Hinrichtung von Zivilisten – auf den Artikel über Genozid.18 Damit war ein Präzedenzfall geschaffen, auf dessen Grundlage die Ermittlung- und Justizbehörden Russlands derzeit etwa zehn weitere Verfahren durchführen. Das Gericht bezeichnete die Verbrechen in der Urteilsbegründung als „Genozid an nationalen und ethnischen Gruppen, die die Bevölkerung der UdSSR, die Völker der Sowjetunion, repräsentieren“. Sie seien „Teil eines Plans“ gewesen, „mit dem NS-Deutschland sich der gesamten örtlichen Bevölkerung der Sowjetunion entledigen wollte“19

Erinnerungskriege, auch innerhalb der russischen Gesellschaft

Die neuerliche Untersuchung war unter anderem dadurch motiviert, dass einige der Täter aus Lettland kamen (wobei diese allerdings zum Teil russischer Abstammung waren und der KGB die Namen der NS-Handlanger bereits vor 50 Jahren erfahren hatte). Viele der Medien, die diese Ereignisse als Genozid darstellten, thematisierten deshalb nicht die ethnische Identität der Opfer, sondern die der Täter.20 Die gleiche Tendenz zeigte sich in den russischen Medien, als Dokumente über Massenexekutionen veröffentlicht wurden, die 1941 in Südrussland stattfanden. Auch diese Ereignisse wurden als „Genozid“ bezeichnet und in den Berichten wurden ukrainische Täter erwähnt.21 Dabei waren die Erschießungen von der deutschen Geheimpolizei durchgeführt worden, und auf der Liste der Kollaborateure standen überwiegend russische Nachnamen.

Solche Darstellungen bedienen natürlich die ideologische Konfrontation mit den postsowjetischen Ländern, und auch in Russland selbst entfalten sie eine Art mobilisierende Wirkung. Aber sie provozieren dabei zwangsläufig Erinnerungskriege, auch innerhalb der russischen Gesellschaft. 
Wer den Begriff „Genozid am sowjetischen Volk“ bejaht, erkennt die 6 Millionen Opfer des Holocaust zwar an, setzt ihnen jedoch faktisch die „27 Millionen getöteten Bürger unseres Landes“ entgegen. Damit zählen dann die etwa 2,6 Millionen Juden, die während der deutschen Besatzung der Sowjetunion und in Kriegsgefangenenlagern ermordet wurden, nicht mehr als Opfer des Holocausts. Als Teil des „sowjetischen Volks“ werden sie zu ermordeten „friedlichen Sowjetbürgern“, wie in Vor-Perestroika-Zeiten. Das kaschiert, dass die Juden gezielt aufgrund ihrer „rassischen Eigenschaften“ vernichtet wurden. 

Die Beispiellosigkeit des Holocaust

Die Invasoren haben Millionen sowjetischer Menschen umgebracht – sowohl aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit (so die Juden und auch die Roma), aber auch aus anderen Gründen – Widerstandskämpfer, Staats- und Parteifunktionäre, Geiseln, Kriegsgefangene. Die Opfer des Holocaust sind nicht die einzigen sowjetischen Menschen, die getötet wurden; sie stellen nicht einmal zahlenmäßig die Mehrheit. 

Doch zum Holocaust gehört neben Massenmord und Hunger auch die rechtliche, soziale und wirtschaftliche Diskriminierung der Opfer. Gegen die Juden wurden besondere Zwangsmaßnahmen ergriffen, von denen die restliche sowjetische Bevölkerung nicht betroffen war: Die Feststellungung der ethnischen Zugehörigkeit, die Umsiedlung ins Ghetto, die Markierung mit besonderen Abzeichen, das Verbot, Kinder zu bekommen, besonders perfide Formen der Zwangsarbeit, das Verbot, religiöse Bräuche zu praktizieren und vieles mehr, was für die restliche Bevölkerung nicht galt.

Historiker und Juristen müssen alle Hinweise auf Völkermord auf dem besetzten Territorium der Sowjetunion gemeinsam sorgfältig untersuchen. Dabei sind auch Tatsachen zu berücksichtigen, die sich kaum als „Genozid am sowjetischen Volk“ einstufen lassen. So wurden unter der Besatzung zahlreiche Kirchen eröffnet, kulturelle Einrichtungen, Institute und Gymnasien betrieben und mehr als 400 Zeitungen auf Russisch und in anderen Sprachen publiziert. Für die Juden gab es das alles nicht. Für sie war die vollständige Auslöschung vorgesehen.

 
 
Zum Weiterlesen
Altman, Ilja (2005): Shoah: Gedenken verboten! Der weite Weg vom Sowjettabu zur Erinnerung, in: Osteuropa, 55, 2005, H.4/5/6, S.149-164
Subotic, Jelena (2019): Yellow Star, Red Star: Holocaust Remembrance after Communism. Ithaca, New York
Karlsson, Klas-Göran (2013): The Reception of the Holocaust in Russia: Silence, Conspiracy, and Glimpses of Light, in: Himka, John-Paul/Michlic, Joanna Beata (Hrsg.): Bringing the Dark Past to Light: The Reception of the Holocaust in Postcommunist Europe, S.  487-515
Rebrova, Irina (2020): Re-Constructing Grassroots Holocaust Memory: The Case of the North Caucasus. Oldenbourg
Winkler, Christina (2020): The Holocaust on Soviet Territory—Forgotten Story? Individual and Official Memorialization of the Holocaust in Rostov-on-Don, in: Brooks, Crispin/Feferman, Kiril (Hrsg.): Beyond the Pale: The Holocaust in the North Caucasus, S. 241-262
Winkler, Christina (2015): Der russische Blick auf die Shoah, in: S:I.M.O.N. Shoah: Intervention. Methods, Documentation 2 (2), 25-37.
 

 


1.Jewish Currents: Nurturing Holocaust Studies in the Former Soviet Union: An Interview with Ilya Altman 
2.Der Rahmenplan wurde nicht offiziell eingeführt und blieb über zehn Jahre Gegenstand von Diskussionen zwischen Lehrern und Bildungsbehörden. Doch auf Grundlage dieses Dokuments wurden neue Lehrbücher für weiterführende Schulen zur Landesgeschichte und allgemeinen Geschichte sowie zur Gesellschaftskunde erarbeitet. 
3.vgl. Tema Cholokosta v škol'nych učebnikach: posobie dlja učitelja. Moskau, Centr «Cholokost», 2010 
4.vgl. kremlin.ru: 75 let Velikoj Pobedy: obščaja otvetstvennost' pered istoriej i buduščim 
5.vgl. kremlin.ru: Parad Pobedy na Krasnoj ploščadi  
6.Als Ausnahme kann die 2020 anlässlich des 5. World Holocaust Forums in Jerusalem getätigte Aussage Wladimir Putins gelten, wonach es sich bei nicht weniger als 40 Prozent der Opfer des Holocausts um Staatsbürger der Sowjetunion gehandelt habe. Diese Zahl ist umstritten. 
7.Mit einem solchen Vorschlag trat auch bereits 2002 General Vasilij Petrenko an die Regierung heran. Dieser hatte 1945 eine der Divisionen befehligt, die das Konzentrationslager Auschwitz befreiten, vgl. Petrenko, V. J. (2000): Do i posle Osvencima. Moskau, Centr «Cholokost». 2002 erschien eine französische Ausgabe unter dem Titel: General Petrenko: Avant et après Auschwitz: suivi de Le Kremlin et l'Holocauste, 1933-2001
8.Im Jahr 2000 erschien in der Reihe Russische Bibliothek des Holocausts die erste diesem Thema gewidmete Arbeit, vgl.: Al'tman, M. М. (2000): Otricanie Cholokosta v Rossii, Moskau, Centr «Cholokost» 
9.vgl. Kalich, A. (2020): Permskoe delo ob otricanii Cholokosta: reakcija obščestva i SMI, in:Al'tman, I.A. /Verbnaja, V.V./Gileva, M.V./Tichankina, S.A. (Hrsg.): Voprosy protivodejstvija ksenofobii i ėtničeskoj neterpimosti na primere istorii Cholokosta i terrora: Metodičeskie rekomendacii dlja žurnalistov, Moskau, Centr «Cholokost», S. 51-59 
10.vgl. Komsomol'skaja Pravda: «Peterburgskogo professora, otricavšego cholokost, uvolili iz instituta» 
11.vgl. etwa Krinko, E. F. /Kropačev, S. A. (2013): Otečestvennaja istoriografija Cholokosta o čislennosti ego žertv, in: Rossijskaja istorija, 2013, №4, S. 136-151 
12.Ėnciklopedija Cholokosta na territorii SSSR (Red. I.A. Al'tman): Moskau, ROSSPĖN und Centr «Cholokost», 2009 
13.In dem Band sind über 2000 Artikel zu jüdischen Siedlungen auf dem Gebiet der UdSSR in den Grenzen vom 22. Juni 1941 und über 300 thematische Artikel zum Holocaust an den sowjetischen Juden und zu Opfern und Tätern mit anderer Staatsangehörigkeit auf dem Territorium der UdSSR während des Holocausts versammelt. 
14.So formulierte bereits einige Jahre vor dem Erscheinen ähnlicher Arbeiten im Westen der Philosoph und erste Präsident des Zentrums Holocaust, Mikhail Gefter, Gedanken zur Universalität des Holocaust: „Einen Genozid gegen ein einzelnes Volk gibt es nicht; Genozide richten sich immer gegen alle.” Bezeichnend ist auch der Titel des ersten Buches in der Reihe Russische Bibliothek des Holocausts: Das Echo des Holocausts und die jüdisch-russische Frage [M Ja. Gefter (1995): Ėcho Cholokosta i russkij evrejskij vopros, Moskau, Centr “Cholokost”]. 
15.In der Forschung zu Erinnerungskultur finden sich einige Arbeiten zu diesem Phänomen, vgl. etwa Berger, R. J. (2012): The Holocaust, Religion and Politics of Collective Memory, New York, S. 163. Symbole dafür waren das Museum in Auschwitz bis Ende der 1980er Jahre und das Denkmal in Babyn Jar Mitte der 1970er Jahre. 
16.vgl. Rossijskoe voenno istoričeskoe obščestvo: V RVIO rasskazali, kak nacisty gotovili slavjanskij cholokost 
17.vgl. RIA Novosti: Michail Mjagkov: Zapad spustja 75 let zabyl uroki Njurnberga 
18.Ugolovnyj kodeks Rossijskoj Federacii ot 13.06.1996 N 63-FZ (red. ot 05.04.2021, s izm. ot 08.04.2021): Stat'ja 357: Genocid 
19.vgl. Russkij Dozor:„’Fakt, imejuščij juridičeskoe značenie’: sud priznal genocidom ubijstva sovetskich graždan nacistami v Žestjanoj Gorke” 
20.vgl. etwa Krasnaja Wesna:SK RF ustanovil pričastnost' latyšskich karatelej k genocidu v SSSR 
21.vgl. etwa: Žurnalistskaja Pravda: FSB rassekrečena informacija o genocide na juge SSSR 
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