In Rostow am Don ist der größte NS-Tatort des Holocaust auf dem Gebiet des heutigen Russlands. Ungefähr 20.000 Jüdinnen und Juden sind dort am 11./12. August 1942 an der Smijowskaja Balka (dt. Schlangenschlucht) ermordet worden. Was in Deutschland wenig bekannt ist: Der Holocaust begann in Osteuropa, auf den von Deutschen besetzten Gebieten der Sowjetunion. Meist wurden die Jüdinnen und Juden, Männer, Frauen, Kinder, erschossen und in Massengräbern verscharrt.
In Russland allerdings spielt der Holocaust in der offiziellen Erinnerungspolitik eine untergeordnete Rolle. Jüdinnen und Juden werden als Opfer der systematischen NS-Vernichtungspolitik meist ausgeblendet. Das drückt sich häufig in dem schon zu Sowjetzeiten ideologisch überformten Begriff der „friedlichen Bevölkerung“ aus, der auf zahlreichen Erinnerungstafeln zum Gedenken an die Toten zu finden ist. Unter der Präsidentschaft Wladimir Putins ist der Sieg über Hitlerdeutschland zudem massiv staatsideologisch instrumentalisiert worden. Eine differenzierte Erinnerungsarbeit, auch in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, steht daher immer auf einer fragilen Basis.
Das Schicksal der jüdischen Bevölkerung jedoch hat – Hürden und Widersprüchen zum Trotz – vor allem durch das unermüdliche Engagement zivilgesellschaftlicher Kräfte seit einigen Jahren vielfach Beachtung finden können. Das sagt Historikerin Christina Winkler, die intensiv zur Geschichte des Holocaust in Rostow am Don geforscht und eine Ausstellung dazu gemacht hat.
Für Christina Winkler steht Rostow exemplarisch für viele besetzte Städte in den damaligen Sowjetrepubliken, in denen die Nationalsozialisten grauenhafte Verbrechen verübt haben. Im Interview spricht sie über die Massenerschießung von Rostow, den Wert von Lokalhistorikern bei der Aufarbeitung von NS-Gräueltaten in Russland und darüber, wie in Rostow mit dem Gedenken umgegangen wird. dekoder veröffentlicht dazu einzelne Bilder ihrer Ausstellung.
dekoder: Rostow am Don war von den Nationalsozialisten zwei Mal besetzt: im Winter 1941 für acht Tage und ab Sommer 1942 mehr als ein halbes Jahr. Wie sind die Nazis gegen die jüdische Bevölkerung vorgegangen?
Christina Winkler: In den wenigen Tagen der ersten Besatzung gingen sie sehr brutal gegen die Zivilbevölkerung vor. In dieser Zeit gab es die ersten Morde an den Jüdinnen und Juden, mit bereits rund tausend Opfern. In der zweiten Besatzung begannen die Deutschen in großem Maßstab und systematisch gegen die jüdische Bevölkerung Rostows vorzugehen. Die Stadt hatten sie ab dem 24. Juli 1942 in ihrer Gewalt. Schon ab August wurden Appelle in der Stadt ausgehängt, in denen die jüdische Bevölkerung dazu aufgefordert wurde, sich registrieren zu lassen. Außerdem nicht-jüdische Familienmitglieder, Ehemänner und -frauen sowie Kinder.
Aus Zeitdokumenten der Deutschen ist bekannt, dass sich nach dem ersten Aufruf schnell etwa 2000 Personen registriert hatten. Wenige Tage später gab es einen zweiten, in dem es hieß, dass die Juden sich am 11. August an verschiedenen Sammelpunkten in der Stadt einzufinden hätten, um dann angeblich – so lautete der Vorwand – umgesiedelt zu werden. Ihnen wurde versprochen, sie würden an einem anderen Ort leben und arbeiten können. Es war das Vorgehen, wie es auch aus Babyn Jar und von den Deportationen zum Vernichtungsort Maly Trostenez bekannt ist.
Diesem zweiten Aufruf sind sehr viele Leute gefolgt. Das ist aus Zeugenaussagen bekannt, die in russischen Archiven in den Akten der sowjetischen Sonderkommission zu finden sind. In den Aufrufen, die wie Plakate in der Stadt aushingen, wurde gesagt, man solle Wertgegenstände und Kleidung für wenige Tage und die Schlüssel zu den Wohnungen mitbringen. An den insgesamt sechs vorgegebenen Sammelpunkten warteten Angehörige des Sonderkommandos 10a, die SS, aber auch Kollaborateure. Sie sorgten dafür, dass die Menschen mit bereitstehenden Lkw weggebracht wurden. Aus den Augenzeugenberichten ist auch bekannt, dass einige zu Fuß gehen mussten.
Es war das dritte Jahr des Zweiten Weltkrieges, an anderen Orten der Sowjetunion hat es bereits Gräuel an der jüdischen Bevölkerung gegeben, darunter in Babyn Jar. Hat sich das nicht herumgesprochen? Gab es kein Misstrauen gegen die Besatzer?
Es gab tatsächlich verschiedene Gerüchte von Gräueltaten gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Das trugen unter anderem Flüchtlinge aus Polen und der Ukraine weiter, die sich in Rostow aufhielten. Allerdings hatten die Deutschen zu der damaligen Zeit einen positiven Ruf. Zum Teil ging dieser auf den russischen Bürgerkrieg zurück, als deutsche Truppen zwischenzeitlich Regionen im Westen Russlands besetzt hielten, darunter auch die Stadt Rostow. Viele Rostower waren es durch die Sowjetmacht zudem gewohnt, Anordnungen der Obrigkeiten einfach zu erfüllen. So schenkten die meisten dieser Menschen den Gerüchten keinen Glauben. Trotzdem sind nicht alle zu den Sammelpunkten gegangen. Es gibt auch Berichte, dass sich Juden nach Bekanntwerden dieser angeblichen Umsiedlungsaktion das Leben nahmen. Sie hatten also geahnt, was sie tatsächlich erwartet. Alle anderen wurden von den Sammelpunkten direkt zu einer Schlucht – der Smijowskaja Balka – nordwestlich des Stadtzentrums gebracht. Die meisten wurden erschossen, ein Teil von ihnen wurde in Gaswagen1 erstickt. Ein dafür abgestelltes Sonderkommando hatte auf die Ankommenden bereits gewartet.
Als Verbrechensort des Holocaust ist Rostow in Deutschland kein Begriff, auch andere Vernichtungsorte auf dem früheren Gebiet der Sowjetunion und den von ihr annektierten Gebieten sind es kaum. Wie kommt das?
Bis die Wissensvermittlung in den Schulen anfängt, dauert es natürlich immer seine Zeit: Das Thema muss in den Hochschulen mit validen Erkenntnissen beforscht worden sein, um es an Lehrer vermitteln zu können, die es wiederum in den Schulunterricht einbringen können. Zwar wird das Thema seit den 1980er Jahren schon deutlich besser wahrgenommen, doch das reicht noch nicht. Woher soll es kommen, wenn noch wenig Forschung vorliegt? Zur Realgeschichte des Holocaust auf dem früheren sowjetischen Gebiet gibt es noch viele weiße Flecken. Dadurch berichten auch die Medien viel weniger darüber. Bisher liegt Forschung zwar auf Deutsch, Englisch und Russisch vor, allerdings sind das schwerpunktmäßig militärhistorische Arbeiten, sodass dieses Thema noch nicht ins deutsche Bewusstsein vorgedrungen ist. Patrick Desbois’ Der vergessene Holocaust von 2009 hat hier aber immerhin viel in der Wahrnehmung einer breiteren Öffentlichkeit bewirkt.
Teil des Problems ist vielleicht auch ein grundsätzliches Wegschauen vom Leid im Osten. Vielleicht, weil die Opferzahl von 27 Millionen Menschen unter der sowjetischen Bevölkerung so gigantisch ist, bringt sie eine gewisse Abneigung mit sich, sich diesem Leid zuzuwenden. Das ist eine persönliche Vermutung. Defacto habe ich von westlichen Historikern nur ganz wenige Studien gefunden, die sich mit der deutschen Besatzung in Russland insgesamt beschäftigt haben. Als ich 2010 mit meiner Arbeit begonnen hatte, waren die Studien, die es zu Rostow selbst gab, in der Regel von russischen Historikern, meist Lokalhistorikern, die nur in Originalsprache vorlagen. Die Arbeit von Andrej Angrick2 zur Einsatzgruppe D bildete hier eine Ausnahme. Mittlerweile gibt es ein paar mehr Arbeiten zu dieser Region.
Wie ist das Wissen um die Massenerschießung an der jüdischen Bevölkerung Rostows in Russland?
Es ist nicht so, dass jeder in Russland erzählen könnte, was in Rostow passiert ist.
Doch seit gut zehn Jahren hat sich durchaus viel getan. Der Holocaust auf russischem Gebiet ist mehr ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Das hat damit zu tun, dass es inzwischen mehr öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen gibt, darunter die jährliche „Gedenkwoche für die Opfer des Holocaust“, die vor allem für die Schulen eine wichtige Bedeutung hat. Das befördern Institutionen wie das Zentrum Holocaust, das seit 30 Jahren nichts anderes macht als Forschung zu übernehmen, Tatorte zu identifizieren und Erinnerungsarbeit zu leisten. Gemeinsam mit dem Russischen Jüdischen Kongress werden an den Orten von Massenerschießungen auch Denkmäler aufgestellt. Das ist eine gigantische Arbeit, die mich eigentlich am meisten beeindruckt. Diese Aufarbeitung geschieht unter sehr intensiver Beteiligung der Bevölkerung, darunter von Lokalhistorikern und Lehrern, die sich mit ihren Schülern mit der Geschichte ihrer Heimatstadt beschäftigen. Ich glaube, die Massenerschießung an der Smijowskaja Balka von Rostow bezeichnet heute nicht nur ein Fachpublikum als das „Babyn Jar Russlands“.
Dazu, dass es in Russland bekannter geworden ist, dürfte auch ein Eklat um die Gedenktafel in Rostow beigetragen haben, der landesweit Aufsehen erregte.
Können Sie den Hintergrund für diesen Streit um das Denkmal in Rostow kurz erläutern?
An der Smijowskaja Balka steht seit dem 30. Jahrestag im Jahr 1975 ein Denkmal, vor dem wiederum im Jahr 2004 eine Gedenktafel angebracht wurde. Auf dieser wurde in Bezug auf die Opfer explizit vom Holocaust gesprochen. Dazu muss man wissen, dass es dort bis dahin keinerlei Erläuterung gegeben hatte. Sieben Jahre später, im November 2011, wurde diese Tafel in einer Nacht- und Nebelaktion – wie sich herausstellte im Auftrag der städtischen Kulturverwaltung von Rostow – entfernt und ausgetauscht. Auf der neuen Tafel wurde auf die Formel aus Sowjetzeiten zurückgegriffen, dass dort „friedliche Bürger“, unterschiedlicher ethnischer Herkunft umgekommen seien. Die jüdische Gemeinde in Rostow klagte dagegen erfolglos. Später gab es einen Kompromiss. Der sieht so aus, dass die jüdischen Opfer auf der Tafel explizit erwähnt werden, der Begriff Holocaust allerdings ausgespart bleibt.
Für die Aufarbeitung des Holocaust sprachen Sie von der aktiven Rolle ganz anderer Akteure als dem Staat. Neben den jüdischen Gemeinden erwähnten Sie Lokalhistoriker. Warum?
Weil sie in vielen Orten für die Erinnerungsarbeit bedeutend sind. In Rostow zum Beispiel gibt es einen Lokalhistoriker, der auch an der Universität Dozent war. Er hatte sich bereits in den 1990er Jahren mit der Geschichte seiner Heimatstadt und dem Holocaust beschäftigt. Es gibt auch einen Lokalhistoriker aus Arsgir in der Region Stawropol, Anatolij Karnauch. Er hat nicht nur die Leidensgeschichte der jüdischen Bevölkerung minutiös recherchiert und aufgearbeitet, sondern sogar die Namen von Opfern ausfindig gemacht. Das ist ein Anliegen, das besonders schwer zu erfüllen ist. Das, was diese Menschen leisten, ist eine ganz starke zivilgesellschaftliche Initiative. Teilweise handelt es sich dabei – wie es auf Russisch oft genannt wird – um „Enthusiasten“. Das wird solchen Menschen aber gar nicht gerecht, weil es eine Lebensarbeit ist, die zum Beispiel dieser Mann in Arsgir übernommen hat. Vom Russischen Jüdischen Kongress wurde er dafür geehrt.
In Rostow gab es weitere Opfergruppen unter nationalsozialistischer Besetzung. Wer waren die Opfer, wer die Täter?
Was die Täter angeht: Es gab die SS, verschiedene SS-Sonderkommandos, aber auch Wehrmachtsoldaten waren zum Beispiel bei der Absicherung von Tatorten beteiligt. Zudem gab es einheimische Helfer, die verraten, denunziert und ausgeliefert haben. Bei den weiteren Opfergruppen haben wir allein mehr als 50.000 Rostower, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert wurden. Diejenigen, die nach dem Krieg von dort zurückkehrten, hatten es ebenfalls schwer, weil sie dafür in ihrer Heimat oft ausgegrenzt und verfolgt wurden.
Weiterhin gab es mehrere tausend Kriegsgefangene in einem Lager in Rostow. Sie sind durch die katastrophalen Zustände umgekommen oder erschossen worden. Die mehr als 70 Patienten der Städtischen Psychiatrischen Klinik wurden allesamt in Gaswagen erstickt. Die Not war auch für die Zivilbevölkerung wahnsinnig groß: Man muss sich vorstellen, das Rostow bereits im Sommer 1941 stark bombardiert und massiv zerstört worden war. Viele Menschen wurden im Bombenhagel getötet. Die Überlebenden litten vor allem Hunger. Das berichteten mir Zeitzeugen, die den Besatzungsalltag als Kinder noch miterleben mussten. Die Massenerschießung an den Juden in Rostow macht die Stadt zum größten NS-Tatort des Holocaust auf dem Gebiet der heutigen Russischen Föderation.
Es ist eine schreckliche Bilanz, die man ziehen muss. Rostow steht dabei exemplarisch für die vielen besetzten Städte in den damaligen Sowjetrepubliken – wo das Fazit gleichsam grauenhaft zu nennen ist.
Die Ausstellung unter dem Titel Die Vergessenen war erstmals zum 75. Jahrestag der Massenerschießung der Jüdinnen und Juden in Rostow zu sehen. Christina Winkler hat sie recherchiert, ausgearbeitet und kuratiert. Partner waren das Stanley Burton Centre for Holocaust and Genocide Studies, das Zentrum Holocaust in Russland und das Museum Karlshorst. Es gibt eine deutsch-englische Fassung mit Metallständen sowie einer Medienstation, die bisher in verschiedenen Städten in Großbritannien und Deutschland zu sehen war, darunter in Glasgow (Rostows Partnerstadt), Berlin und Gera sowie in der Gedenkstätte Dachau.
Eine weitere, russischsprachige Fassung ist auf leichteren Rollup-Ständen gestaltet und wird in Südrussland bis heute gern in Schulen gezeigt.
Einwohner Rostows beim Ausheben von Schützengräben im Zentrum der Stadt / Foto © Gosudarstwenny Archiw Rostowskoi Oblasti, GARO
Im Zuge der Kämpfe um Rostow zerstörtes Haus in einem Vorort der Stadt (1943) / Foto © Staatliches Russisches Film und Foto Archiv
Einwohner transportieren Sarg ihres von den Deutschen erschossenen Verwandten (1943) / Foto © GARO
Zerstörtes Gebäude des ehemaligen Kinos „Burewestnik“ / Foto © Gosudarstwenny Archiw Rostowskoi Oblasti, GARO
Links: Der zweite Aufruf der SS an die jüdische Bevölkerung, mit dem sie aufgefordert worden war, am 11. August 1942 zu den Sammelpunkten in der Stadt zu kommen. / Dokument aus dem Gosudarstwenny Archiw Rostowskoi Oblasti, GARO / Rechts: Eine Gedenktafel erinnert an einen der Sammelpunkte von damals / Foto © Christina Winkler
Das als „Lazarett 192“ bezeichnete Lager für sowjetische Kriegsgefangene / Foto © Gosudarstwenny Archiw Rostowskoi Oblasti, GARO
Leichen ermordeter sowjetischer Soldaten auf dem Gelände des „Lazarett 192“ (1943) / Foto © Gosudarstwenny Archiw Rostowskoi Oblasti, GARO
Das Denkmal in Rostow an der Smijowskaja Balka / Foto © Kurt Blank
Bildredaktion: Andy Heller
Interview: Mandy Ganske-Zapf
Veröffentlicht am 27. Dezember 2021
Die Bildauswahl zeigt dekoder mit freundlicher Genehmigung der Archive in Rostow und Moskau und mit großem Dank an Christina Winkler und Kurt Blank.